Der Orient als westliche Erfindung

Von Sarah Funk · · 2010/03

Wie jedes Werk ist auch das vor mehr als 30 Jahren erschienene und kürzlich neu aufgelegte Buch „Orientalismus“ von Edward Said in seinem zeitgeschichtlichen Kontext zu betrachten.

Um den Orient ranken sich viele Geschichten. Halten Sie für einen Moment inne und überlegen Sie, welche Assoziationen Sie mit dem Begriff des Orients verbinden. Zumeist gründen diese Bilder auf europäischen Vorstellungen vom märchenhaften, romantischen und zugleich bedrohlichen Orient und sind Teil einer westlichen diskursiven Praxis, die Edward Said unter dem Begriff des Orientalismus zu fassen versucht.

Der im Jahr 2003 verstorbene US-amerikanische Literaturwissenschaftler palästinensischer Herkunft publizierte seine umfassende und aufsehenerregende Studie im Jahr 1978. Nun wurde sein einflussreiches Werk, das zu einem Gründungsdokument der Postcolonial Studies avancierte, in der Übersetzung von Hans Günter Holl im S. Fischer Verlag neu aufgelegt. Said vertritt darin die These, dass der Orient eine westliche Erfindung darstellt, die auf falschen und romantisierenden Zuschreibungen basiere.

Orientalismus sei eine Denkweise, ein machtvoller Diskurs und eine spezifische Umgangsweise mit dem Orient, die sich auf eine grundlegende ontologische und epistemologische Unterscheidung zwischen dem aufgeklärten, fortschrittlichen Okzident und dem mysteriösen, rückschrittlichen Orient stützen.

Drei zentrale Thesen ziehen sich wie ein roter Faden durch Saids Werk: Erstens, Orientalismus diene (macht-)politischen Interessen, zweitens Orientalismus versichere Europa der eigenen kulturellen und intellektuellen Überlegenheit und drittens, Orientalismus operiere mit essentialistischen Zuschreibungen und Stereotypisierungen, die die arabische Kultur als statisch, homogen und minderwertig konstruieren. Der Orient als Antithese zum Okzident ist sein Gegenbild, das schlechthin „Andere“, unabdingbar für die Konstitution der eigenen europäischen Identität. „Kurz, der Orientalismus ist (…) ein westlicher Stil, den Orient zu beherrschen, zu gestalten und zu unterdrücken.“ (S. 11) Orientalismus vereinnahmt und verhandelt den Orient nicht nur, er bringt ihn in gewisser Weise erst hervor.

Im ersten Teil des Buches, das in insgesamt drei große Abschnitte gegliedert ist, widmet sich Said der „Bandbreite des Orientalismus“ und arbeitet historische, philosophische und soziopolitische Dimensionen des Themas heraus. Seine Analysen beschränken sich auf die britischen, französischen und US-amerikanischen Kolonialmächte im Orient sowie auf die islamisch-arabischen Regionen. Damit bleiben weite Teile des Orients – Indien, China, Japan, und andere fernöstliche Länder – unberücksichtigt, was ebenso wie die explizite Ausblendung des deutschen Orientalismus sowie die zeitliche Fokussierung auf das 19. und 20. Jahrhundert eine viel kritisierte Einschränkung darstellt. Doch Said erhob nie den Anspruch, eine umfassende Geschichte des Orientalismus zu schreiben.


Edward Said: Orientalismus.
Aus dem Englischen von Hans Günter Holl. S.Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2009. 464 Seiten, € 24,95

Im zweiten Teil der Studie, „Strukturen und Strukturierungen des Orients“, stellt der Autor die Werke bedeutender Dichter, Künstler, Wissenschaftler und Staatsmänner wie Arthur James Balfour, Napoleon, Shakespeare, Goethe, Henry Kissinger, E.W. Lane u.v.m. einander gegenüber. Er zeigt, wie wissenschaftliche Texte, Reisebücher, literarische Werke, philologische Studien und politische Traktate den Diskurs über den Orient formten und prägten. Besondere Kritik übt Said an der im ausgehenden 18. Jahrhundert in Paris gegründeten akademischen Disziplin der Orientalistik, die er als Machtinstrument zur Beherrschung des Orients bezeichnet. Akademisches Wissen über den Orient sei, so Said, von politischen Gewaltverhältnissen durchsetzt und diene der Rechtfertigung kolonialer und neokolonialer Unternehmungen. Mit dem napoleonischen Ägyptenfeldzug im Jahr 1798 erlebte die Orientalistik, verbunden mit Namen wie Silvestre de Sacy – oder aktueller Bernard Lewis -, dann auch ihren Aufschwung. Lewis gilt übrigens als einer der größten Kritiker Saids. Zwischen den beiden Theoretikern entwickelte sich eine Debatte, die in zahlreichen Publikationen fortgeführt wurde.

Im dritten Teil des Buches, „Orientalismus heute“, zeichnet der Autor die Phase der großen kolonialen Expansion in den Orient ab 1870 nach und verfeinert sein Orientalismuskonzept, indem er zwischen latentem und manifestem Orientalismus unterscheidet.

„Orientalismus“ wurde breit rezipiert und kontrovers diskutiert. Vor allem die Abrechnung mit der britischen und französischen Orientalistik provozierte viel Widerspruch seitens der OrientalistInnen. KritikerInnen warfen Said schwerwiegende methodische und konzeptuelle Fehler vor und kritisierten die Unvollständigkeit seiner Analysen. Feministische Theoretikerinnen zeigten die Vernachlässigung geschlechtsspezifischer Aspekte auf. Said selbst nahm mehrmals zu den gegen ihn vorgebrachten Vorwürfen Stellung und verteidigte seine Thesen. Gleichzeitig gestand er inhaltliche Fehler ein und entwickelte seinen Ansatz in zahlreichen Aufsätzen und Publikationen weiter, u.a. in „Orientalism Reconsidered“ (1985) und „Culture and Imperialism“ (1993). Einen Einblick in die produktive Auseinandersetzung Saids mit seinen KritikerInnen erhalten LeserInnen durch das ebenfalls in der Neuausgabe abgedruckte Nachwort von 1994 sowie das Vorwort von 2003, die die Neuausgabe des Werkes ergänzen und bereichern.

Sarah Funk ist Lektorin am Projekt Internationale Entwicklung an der Universität Wien.

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