Im Meer der toten Schiffe

Von Redaktion · · 2017/02

Alexander Urosevic hat die Spuren seiner Großmutter in Westafrika gesucht und das maritime Leben gefunden. Wie aus seiner Frachtschiffreise ein spannendes Buch entstanden ist, hat er Irmgard Kirchner erzählt.

Eigentlich wollte der Kulturanthropologe Alexander Urosevic ein anderes Buch schreiben: eines über die Afrika-Reise seiner Großmutter. Vor 50 Jahren hatte die damals 63-jährige Dame aus der nordserbischen Provinz Banat in Rijeka ein Frachtschiff bestiegen und war nach Westafrika gereist. Ihr Abenteuer hat Spuren hinterlassen. Als Tagebuch und in der Erinnerung ihres damals sechsjähren Enkels, dem sie ihre Aufzeichnungen geschenkt hat.

Jahrzehnte später wollte Urosevic das Tagebuch als Anlass nehmen, die 1960er Jahre in Westafrika noch einmal Revue passieren zu lassen und das Zeitgeschehen von damals zu kommentieren.

Aus dem Schreibtischprojekt wurde eine Reisereportage. Schnell war dem Autor klargeworden, dass er selbst eine Frachtschiffreise machen wollte, um nachvollziehen zu können, wie es ist, „jeden Tag auf dem Ozean aufzuwachen und nicht zu wissen, wo man ist, selbst hohen Wellengang und einen großen Sturm zu erleben, worüber die Großmutter geschrieben hat“, so Urosevic im Gespräch mit dem Südwind-Magazin.

Buch ohne Großmutter. Das Buch mit dem Titel „Das Meer der toten Schiffe“ ist kürzlich erschienen. Doch die Großmutter und ihre Reise kommen darin nur am Rande vor. „Ich habe sehr bald während meiner Reise gemerkt, dass ich so viele neue Erfahrungen mache und Abenteuer zu bestehen habe, dass ich genug Material für ein eigenes Buch habe“, erklärt Urosevic seinen Entschluss, die Geschichte seiner Großmutter aufzuschieben.

Sechs Wochen waren er und ein alter Freund mit einem Frachtschiff unterwegs: von Hamburg über London, die Kanarischen Inseln, die Kapverden, Senegal, Benin, Nigeria, Ghana nach Elfenbeinküste und zurück nach Hamburg.

„Es ist die Beschreibung dieses Abschnitts der westafrikanischen Küste von einem Frachtschiff aus gesehen, wie es sich heute darstellt“, fasst Urosevic den Inhalt zusammen.

Dabei erweist sich der Autor als genauer und humorvoller Beobachter kleiner und großer Vorkommnisse an Bord, im Meer und an Land bei den bis zu zwei Tage dauernden Landgängen. Poesie und politische Gedanken sind dabei kein Widerspruch. Eines Nachts trifft der Riesenfrachter auf dem offenen Meer 76 Kilometer von der Küste entfernt auf zwei unbeleuchtete Pirogen. Das Meer ist von hocheffizienten Trawlern überfischt, die Fischer müssen sich mit ihren kleinen Booten in gefährliche Gewässer mit 2.000 Metern Tiefe hinauswagen.

Urosevic beschreibt „überwältigende Einzüge“ in Dakar, Lagos und Abi­­­­djan und beobachtet unterschiedliche Arten, die Fracht zu löschen: mit Schwung und mit kreativem Chaos (Cotonou), mit nüchterner Effizienz (Lagos), wohltuender Gelassenheit (Tema) oder lustlos schleppend (Abidjan in Zeiten des Bürgerkrieges). Er zeigt auch kindlichen Geist und sorgt sich um das Schicksal einer toten Kakerlake namens Oskar.

Gigantischer Schiffsfriedhof. Schlüsselmoment der Reise war die Durchquerung eines gigantischen Schiffsfriedhofes, der sich im Atlantik vor Nigeria befindet und dem Urosevic den Namen „Meer der toten Schiffe“ gegeben hat. Dieses habe unglaubliche Dimensionen: „Wir sind mehrere Stunden durch dieses Meer gefahren, wie alle Frachtschiffe, die in Lagos anlegen wollen. Zwischen den Schiffen sind jeweils ein paar hundert Meter Abstand“, beschreibt der Autor. „Die Schiffe werden sich selbst überlassen. Sie liegen dort solange, bis sie von selbst untergehen. Ab und zu passiert es, dass die Ankerkette reißt. Dann treiben diese Schiffe führerlos der Küste entgegen, stranden irgendwann und richten einen noch größeren Schaden an als ohnehin durch ihre Verrostung. Man nimmt auch an, dass sie die küstennahen Strömungen verändern. Und dass dadurch große Abschnitte des Sandstrandes in Nigeria verloren gegangen sind.“

Alexander Urosevic:

Das Meer der toten Schiffe.

Eine Reportage.

Edition Steinbauer, Wien 2016, 255 Seiten, € 25,-

Erzählungen der Schiffsbesatzung von Piratenüberfällen im Meer der toten Schiffe hielt Urosevic für Seemannsgarn. Bis zu einem dramatischen Erlebnis: „Während wir durch diesen Friedhof fahren, ist plötzlich ein Schnellboot aufgetaucht und hat sich mit großer Geschwindigkeit unserem Schiff genähert. Es war hinter einem der Wracks versteckt. Viele der Wracks dienen als Zufluchtsorte oder Versteck für Schmuggler und Piraten.“

Zur Beute könne jedes Frachtschiff werden. „Dann werden der Safe und alle Wertgegenstände mitgenommen. Das zweite Ziel sind Tanker. Man versucht, mit bereits maroden Tankern, die im Meer der toten Schiffe vorhanden sind, die sich gerade noch bewegen können, intakte Schiffe zu überfallen. Das transportierte Benzin wird umgepumpt, um damit den lokalen Markt zu bedienen, der vernachlässigt wird.“

Der versuchte  Piratenüberfall wurde von der nigerianischen Küstenwache vereitelt und von der Schiffsbesatzung, wie in den meisten dieser Fälle, nicht angezeigt. Jede Verzögerung ist teuer und wird möglichst vermieden.

Abfertigungsstaus. Kapitäne der Vergangenheit mussten da schon mehr Geduld aufbringen, wenn sie Mitte der 1960er Jahre bis zu ein Jahr darauf warten mussten, in den Hafen von Lagos vorgelassen zu werden. Diese Abfertigungsstaus haben entscheidend zur Entstehung des Meers der toten Schiffe beigetragen, hat Urosevic nachrecherchiert. „Man hat verbotenerweise Schiffe dort liegen lassen, anstatt sie zu entsorgen. Während der Wartezeit ist die Fracht verdorben. Damals wurde sehr viel Zement importiert. Nach einer gewissen Zeit wurde dieser Zement unbrauchbar. Die Schiffe waren voll damit, zuzementiert von innen. Die ersten Schiffe wurden von den Reedern selbst versenkt. Andere, die folgten, wurden einfach liegen gelassen.“

Und was hat den Kulturanthropologen Urosevic auf seiner Schiffsreise am meisten überrascht? „Der Alltag an Bord. Die Matrosen und die Offiziere verrichten schwere körperliche Arbeit. Sie verstehen es aber auch hervorragend zu feiern. In der Mannschaftsmesse trifft man sich jeden Abend nach dem Essen. Die Matrosen sitzen in einer Runde und einer singt nach dem anderen – wer will. Wer keine Lust hat, muss nicht. Manchmal singen die anderen mit im Chor. Manchmal hören sie nur einem zu. Dann wird getanzt. Die lustigsten Feste in meinem ganzen Leben habe ich auf diesem Schiff erlebt. Ich habe mir nicht vorstellen können, dass Menschen, die so schwer arbeiten, so ausgelassen feiern können.“

Urosevic hat das authentische maritime Leben genossen: „Auf einem Frachtschiff gibt es keine Ablenkung. Man ist auf sich selbst gestellt. Aber man kann sich mit den Matrosen und den Offizieren anfreunden. Wir durften sie auf die Brücke begleiten. Sie haben uns gezeigt, wie man navigiert, wie man die Position bestimmt. Ich habe ständig etwas Neues dazu gelernt. Dazwischen konnte man an Deck spazieren und das Meer beobachten. Oder die Tierwelt. Delphine, Wale, Vögel, fliegende Fische. Es war keinen einzigen Augenblick langweilig.“ Und das spiegelt sich im Buch wieder.

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