Radikale Umverteilung

Von Robert Poth · · 2005/09

Ein Gespenst geht um in Europa, sagte SPD-Bundesgeschäftsführer Peter Glotz 1986, die „systemsprengende“ Idee eines garantierten Mindesteinkommens. Sie ist immer noch aktuell, sogar weltweit.

Mit der Entstehung des Kapitalismus als hegemoniale Produktionsweise hat die Menschheit eine Möglichkeit gefunden, die Produktionskapazitäten für materielle Güter fortwährend weit über ihren Bedarf auszuweiten. Mittlerweile hat sie eine Möglichkeit gefunden, diese Güter auch in einschließender Weise zu verteilen“, konstatiert Eduardo Suplicy, Senator von São Paulo und Mitbegründer der Arbeiterpartei (PT) in Brasilien. Was er meint, ist ein staatlich garantiertes, bedingungsloses Mindesteinkommen, wofür Suplicy seit Jahren gekämpft hatte. Seit Jänner 2005 ist es in Brasilien in Form der „renda básica da cidadanía“ gesetzliche Realität – wenn auch in geringer Höhe: 40 Real, umgerechnet zehn Euro monatlich. Beginnend mit den bedürftigsten Schichten und nach Maßgabe budgetärer Spielräume sollen schließlich alle BürgerInnen sowie alle begünstigt werden, die seit fünf Jahren im Land leben.
Inwieweit sich dieses Mindesteinkommen als wirksames Mittel im Kampf gegen Armut und Ausgrenzung entpuppen wird, ist fraglich. Besser als nichts ist es allemal. Der Erfolg Suplicys, Mitglied des „Basic Income European Network“ (BIEN), gibt jedenfalls allen Gruppen und Organisationen Auftrieb, die sich seit den 1980er Jahren insbesondere im von anhaltend hoher Arbeitslosigkeit geplagten Europa für ein gesetzlich garantiertes, bedingungsloses Grundeinkommen für alle einsetzen. Dass nun mit Brasilien ein vergleichsweise armes Land im Süden den ersten Schritt zu einem solchen Einkommen unternommen hat, ist insofern überraschend.

Ein Grundeinkommen, auch als „Sozialdividende“, „Bürgergeld“ oder „Existenzgeld“ bezeichnet, sollte sich im Sinne der meisten ErfinderInnen jedoch keinesfalls auf eine Einkommensaufbesserung beschränken, sondern idealerweise in existenzsichernder Höhe zuerkannt werden – nach einem Positionspapier von Attac Österreich etwa im Ausmaß von 1.000 Euro monatlich, mit Ab- und Zuschlägen für Kinder und PensionistInnen. Mit dieser Forderung wird auch eine klare Trennlinie gegenüber anderen Grundeinkommens- oder Grundsicherungsmodellen einschließlich der Auszahlung einer „negativen Einkommensteuer“ gezogen, die sich lediglich als „Reparatur“ oder Ergänzung der bestehenden Sozialsysteme verstehen und stärkere Anreize zur Aufnahme einer Erwerbsarbeit aufrechterhalten.
Erwerbsarbeit und Einkommen sollen vielmehr entkoppelt, der Arbeitszwang weitgehend beseitigt werden, letztlich um einen Ausgleich der bestehenden Machtasymmetrie zwischen Kapital und Arbeit herbeizuführen. Die Vision ist die einer gesellschaftlichen Transformation: Nicht nur kann ein Grundeinkommen als pauschale Anerkennung aller außerhalb der Geldökonomie geleisteten Arbeit, insbesondere der von Frauen verstanden werden. Es würde auch die Voraussetzungen dafür schaffen, dass die Übernahme unattraktiver Erwerbsarbeit dem Arbeitsleid entsprechend honoriert und schlechte Arbeitsbedingungen beseitigt werden. Umgekehrt würde vielleicht attraktive, sinnstiftende Arbeit gegen geringeres Entgelt oder in höherem Umfang als heute sogar unentgeltlich geleistet. Das gesamte Lohn- und Preisgefüge, die gesamte Palette der in der Geldökonomie bereitgestellten Güter und Dienstleistungen könnte schließlich weit „bedarfs-gerechter“ werden als heute.

Ungeachtet der Begründung einer solchen Reform – etwa aus menschenrechtlicher Sicht oder auf Basis erwarteter Produktivitätssteigerungen und sinkender Nachfrage nach Arbeit – wurde das Pro und Kontra eines solchen Schritts in den letzten 20 Jahren eingehend erörtert – mit meist negativem Ergebnis. Eine Studie des Schweizer Bundesamts für Sozialversicherung von 2003 etwa verwirft die Idee lakonisch: „Soll eine Sozialdividende das Existenzminimum absichern, wird das Umverteilungsvolumen prohibitiv hoch. Deckt sie das Existenzminimum nicht, bringt sie nicht viel. (…) Politisch wäre ein bedingungsloses Grundeinkommen auch kaum umsetzbar, weil es der gängigen Gegenseitigkeitsnorm widerspricht.“
Neben diesen Argumenten – nicht finanzierbar, nicht politisch durchsetzbar – beziehen sich weitere Einwände auf einen möglichen Zusammenbruch der Geldökonomie aufgrund zu hoher Arbeitsverweigerung und das Risiko einer sozialen Polarisierung zwischen NettoempfängerInnen und NettozahlerInnen eines Grundeinkommens. Genau betrachtet betreffen aber sowohl das Finanzierungs- und Akzeptanzargument wie auch die geäußerten Befürchtungen ein und dasselbe Grundproblem: Es fehlt nicht bloß der „politische Wille“; was nötig wäre, ist eine Art „Kulturwandel“.
Die Verknüpfung von Leistung oder Leistungsbereitschaft und materieller Gegenleistung hat sich über Jahrhunderte zusammen mit dem in einer „Konkurrenzgesellschaft“ verallgemeinerten wechselseitigen Misstrauen im öffentlichen Bewusstsein einzementiert. Paradox dabei ist, dass die wachsenden und zumeist ebenso arbeits- und gegenleistungslosen Kapitaleinkommen offenbar mit Schulterzucken hingenommen werden, während „Sozialschmarotzern“ wegen ein paar hundert Euro der soziale Ausschluss droht. Eine Gesellschaft, die diese Einstellungen überwindet, wird auch die Konsequenzen eines Grundeinkommens für die Einkommensverteilung akzeptieren, und in einer solchen Gesellschaft ist auch keine massive Arbeitsverweigerung zu befürchten. Wir haben es mit einer Spielart des Henne-Ei-Problems zu tun. Es ginge vielmehr darum, einen Weg von hier nach dort zu finden. Allein die Thematisierung eines Grundeinkommens ist sicher eines der Mittel dazu.

Wie der Schritt Brasiliens nahe legt, kann ein gewisses Grundeinkommen auch in ärmeren Ländern ins Auge gefasst werden, wo keine oder nur selektiv wirksame Systeme der sozialen Sicherheit existieren. Die theoretische Voraussetzung ist im Kern nur, dass alles Lebensnotwendige mit den vorhandenen Mitteln bereitgestellt werden kann. Fasst man das „Lebensnotwendige“ eng, ist das eigentlich überall möglich, mit Ausnahme jener wenigen Länder, die weder genug Nahrungsmittel produzieren noch importieren können. Südafrika, so etwa eine Studie des Economic Policy Research Institute von 2001, könnte sich ein steuerfinanziertes Grundeinkommen in Höhe von 100 Rand (damals ca. 11 Euro) durchaus leisten – und es wäre sogar ein Wachstumsschub zu erwarten.
Auf Basis internationaler Kooperation wäre es auch möglich, ein weltweites „Basic Food Income“ einzuführen, ein Grundeinkommen, das den Geldbedarf jedes Menschen für die essenziellen Nahrungsmittel abdeckt. Das entsprechende Modell der Entwicklungs-NGO Food First International Action Network (FIAN) sieht vor, die Kosten je nach Finanzkraft auf ärmere und reichere Länder aufzuteilen, wobei die ärmeren Länder nur bis zu ein Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts (BIP) beizutragen hätten. Tragen die OECD-Länder allein die Differenz, müssten sie nach FIAN-Schätzungen ca. 0,25% ihres BIP berappen. Unter Anrechnung der aktuellen Entwicklungshilfeleistungen wären sie damit noch immer unter ihrem 0,7%-Ziel.

Ein Aspekt aller Grundeinkommensmodelle ist übrigens, dass sie höhere Verteilungsgerechtigkeit ausschließlich durch eine nachträgliche Korrektur der in der Geldökonomie zustande gekommenen ungleichen Einkommensverteilung erreichen wollen. Umgekehrt könnte aber auch für eine ausgewogenere Verteilung des produktiven Vermögens und der daraus erzielten Einkommen gesorgt werden. Autoren wie Ronald Blaschke betrachten eine solche Ausgewogenheit aber als Hindernis: „Dort, wo halbwegs gesicherte Kapitaleinkommen zur ausreichenden Existenzsicherung beitragen, besteht weder individuell noch sozialstaatlich Interesse an der Einführung eines garantierten Grundeinkommens.“
Natürlich: Denn dann ist es ja überflüssig. Warum aber soll ein existenzsicherndes Einkommen nicht auch durch Verteilung produktiver Vermögenswerte ermöglicht werden? Bei einer Landreform oder der Verteilung von Land an Landlose im Süden geschieht genau das. Ebenso geschieht es, wenn in Argentinien oder anderswo Beschäftigte Unternehmen in Eigenregie übernehmen oder Genossenschaften gegründet werden. Auch an den arbeitslosen Einkommen, die die BürgerInnen des US-Bundesstaats Alaska aus dem staatlichen Erdölfonds beziehen (ein oft von Eduardo Suplicy zitiertes Beispiel) ist wenig auszusetzen. Vielleicht fehlt hier der „antikapitalistische“ Gehalt. Aber man erspart sich die logische Inkonsistenz, mit Grundeinkommensmodellen den „Kapitalismus von innen zerstören“ (Blaschke) zu wollen, deren Finanzierung aber vom Funktionieren genau dieses Kapitalismus abhängig zu machen.

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