Werken und Wirken

Von Redaktion · · 2016/12

Handwerk ist mehr als eine vorindustrielle Produktionsweise, die vom Verschwinden bedroht ist. Irmgard Kirchner ging der Frage nach, wie es um das Handwerk im digitalen Zeitalter steht.

Im Sensenwerk von Rossleiten in Oberösterreich dröhnen die Maschinen-Hämmer. Und doch ist die Hand ausschlaggebend. Sie führt das Stück Stahl, aus dem das Sensenblatt geschmiedet wird. In 20 bis 30 Arbeitsgängen geht jedes einzelne Stück durch viele Hände. Die Sensenschmiede Schröckenfux wurde bereits im 16. Jahrhundert gegründet.

Einst war die Sense allgegenwärtiges bäuerliches Werkzeug. Heute kennt sie fast jede(r) noch. Doch nur mehr Wenige können richtig gut mit ihr umgehen. Der Weg der Sense veranschaulicht vieles, was für die Entwicklung von Handwerk insgesamt gilt: In der Welt der Dinge stellt sich stets die Frage nach Qualität. Und NutzerInnen und Markt bewerten diese laufend neu.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat man in Österreich etwa zwölf Millionen Sensen pro Jahr produziert und in die ganze Welt exportiert. Heute produziert Schröckenfux als eine von zwei erhalten gebliebenen Sensenschmieden in Österreich jährlich etwa 150.000 Stück.

Das ist zwar ein drastischer Rückgang. Doch die handgeschmiedete österreichische Sense kann neben elektro- oder benzingetriebenen Mähgeräten und der chinesischen Billigproduktion von Sensenblättern immer noch bestehen. Ihre Objekt-Qualität überzeugt und sie findet neue NutzerInnen unter ökologisch bewegten Menschen, die ihre Grünflächen möglichst zerstörungsfrei und lautlos mähen wollen.

Materielle Kultur. Bis zur industriellen Revolution war materielle Kultur mit Handwerk gleichzusetzen. Die ErforscherInnen geschichtlicher Epochen oder ferner Weltgegenden orientierten sich an der materiellen Kultur. Die Fähigkeit, Werkzeuge herzustellen, markiert den Übergang vom Affen zum Menschen. Die Epochen der Ur- und Frühgeschichte der Menschheit, Stein- Bronze- und Eisenzeit, sind nach handwerklichen Fähigkeiten abgegrenzt. Keramikscherben erklären uns etwas über das Leben im Altertum. Forschungsreisende der Neuzeit, die die Gesellschaften, die sie aufsuchten, nicht nur sprachlich kaum verstanden haben, füllten die Völkerkunde-Museen der Welt mit Alltagsgegenständen aus handwerklicher Produktion.

Seit der industriellen Revolution herrscht die Auseinandersetzung Maschine gegen Mensch. Darin muss das Handwerk seinen Platz finden.

Kulturgut Sense: Handgemacht in 20 bis 30 Arbeitsgängen.© Irmgard Kirchner

Handwerk kann als vorindustrielle Produktionsweise gesehen werden. Mit den Händen wird unter Zuhilfenahme von Werkzeugen bearbeitet, was die Natur an Material hergibt: Steine, Holz, Bambus, Metall, Muscheln, Ton, Faserpflanzen, Haut oder Glas.

In der Industriegesellschaft ist nicht verbindlich definiert, was Handwerk ist – sieht man von staatlichen Gewerbeordnungen ab.

Richard Sennett, in Großbritannien lehrender Soziologe, hat 2008 einen vielbeachteten Essay „The Craftsman“ (deutsch „Handwerk“, 2009) verfasst. Im vergangenen Oktober hielt er eine Art Einleitungsrede zur großen Ausstellung zum Thema Handwerk, die Mitte Dezember im MAK, dem Österreichischen Museum für Angewandte Kunst / Gegenwartskunst, in Wien eröffnet wird (siehe Kasten auf Seite 28). Für ihn ist Handwerk tradiertes Können, bei dem es um Wiederholung geht, eine gesellschaftliche Praxis, die auf Bestehendem aufbaut. Wirksam wird dabei insbesondere auch „ein dauerhaftes menschliches Grundbestreben: der Wunsch, eine Arbeit um ihrer selbst willen gut zu machen“. Dieses Grundbestreben sei mit der Industriegesellschaft nicht verschwunden.

Und so hat Sennett weniger das Handwerk an sich im Fokus seiner Betrachtung, sondern das handwerkliche Können („Craftsmanship“).

Kunst und Fertigkeit. Dieser Zugang führt zu einer Ausweitung des landläufig gebräuchlichen Handwerksbegriffes: Denn auch das digitale Zeitalter bringe seine eigene neue Art von Craftsmanship hervor. Sennett verweist auf das handwerkliche Können von Linux-ProgrammiererInnen, die versuchten, ein gutes Produkt herzustellen. Im Gegensatz dazu führten die Arbeitsbedingungen bei Microsoft dazu, dass die ProgrammiererInnen unausgereifte Produkte auf den Markt bringen müssten, die erst durch das Feedback der AnwenderInnen verbessert würden.

Die Grenzen des Handwerks verschwimmen. Sind der Friseur, die Köchin, der Bäcker HandwerkerInnen? Auch die Abgrenzung zur Kunst ist unscharf. „Alle Handwerker wollen Künstler sein, aber kein Künstler will Handwerker sein“, schreibt der Wiener Autor und Handwerker Nikkolo Feuermacher auf seinem Blog.

Tina Zickler, die die Handwerks-Ausstellung im MAK konzipiert und gemeinsam mit MAK-Kustode Rainald Franz kuratiert hat, konstatiert ein neu erwachtes Interesse an Material: „Es gibt derzeit viele Künstlerinnen und Künstler, die Objekte in handwerklichen Techniken erarbeiten.“

So unscharf die Definition, so schwierig bis unmöglich ist es, die ökonomische Bedeutung von Handwerk insgesamt festzumachen. Ein Gutteil handwerklicher Tätigkeiten erfolgt in reichen Ländern als „Pfusch“, in armen Ländern im sogenannten informellen Sektor. Und dazu kommen noch jene handwerklichen Tätigkeiten, die überhaupt nicht bezahlt werden: Handarbeit von Frauen und die handwerklichen Tätigkeiten für den eigenen Bedarf. Handwerk findet überall statt. Nicht nur im formellen und informellen Sektor, sondern auch in den Grenzbereichen zwischen bezahlter und unbezahlter Arbeit, zwischen Geld- und Tauschwirtschaft, zwischen Selbstversorgung und Markt.

Kultur und Identität. Als gesellschaftliche Praxis ist Handwerk nicht bloß von dem Vorhandensein von Materialien, Werkzeugen, Technologien und Fertigkeiten abhängig. Es ist soziokulturell geprägt. In traditionellen Gemeinschaften – wie sie die ethnologische Forschung beschreibt – werden Handwerke von religiösen Vorstellungen und Ritualen begleitet.

Die gesellschaftliche Ordnung regelt, wer welches Handwerk ausüben darf und wie die Fertigkeiten weitergegeben werden. Es gibt Handwerke, die zumeist nur Frauen ausüben, wie das Töpfern ohne Scheibe; und solche, die in der Regel Männern vorbehalten sind, wie das Schmieden. Manche Handwerker, wie zum Beispiel die Weber von Kente-Stoffen in Ghana, sind angesehen. Andere, wie etwa die Gerber in hinduistischen Gesellschaften in Südostasien, werden verachtet. Im Kastenwesen finden sich noch Elemente gesellschaftlicher Arbeitsteilung, die regeln, welche Berufe ausgeübt werden können oder müssen.

Handwerke gehören zur kulturellen Identität und sind dementsprechend stark auf der „Repräsentativen Liste des Immateriellen Kulturerbes der Menschheit“ der UNESCO vertreten. Auf nationaler Ebene zählt Österreich in der Kategorie „Traditionelle Handwerke“ 19 Fertigkeiten zu seinem nationalen Immateriellen Kulturerbe. Nach den Kriterien der UNESCO handelt es sich um Handwerke, die von einer Generation an die nächste weiter gegeben, fortwährend neu gestaltet werden und den Gemeinschaften ein Gefühl von Identität und Kontinuität vermitteln. Seit 2014 gehört das Sensenschmieden dazu.

Verluste. Denkt man an Kontinuität, fühlt man schnell Verlust.

Es sind viele Faktoren, die dazu führen, dass handwerkliche Berufe verschwinden und Fertigkeiten verloren gehen. Tibetischen Nomadenfamilien, die zur Sesshaftigkeit gezwungen werden, fehlt die Wolle. Die Frauen hören auf zu weben. Manche HandwerkerInnen üben ihre mühsame, arbeitsintensive Tätigkeit nur noch deswegen aus, um ihren Kindern eine bessere Ausbildung zu ermöglichen.

Gefühl und Erfahrung seien zwei Schlüsselbegriffe, die in ihren Gesprächen mit HandwerkerInnen immer wieder gefallen seien, erzählt die Kuratorin Zickler. Der US-amerikanische Autor und Unternehmensberater Malcolm Gladwell brachte die vielzitierte Zahl von 10.000 Stunden in die Diskussion. So viel Zeit sei nötig, um in einem Metier exzellent zu werden.

Doch auch durchschnittliches handwerkliches Können erscheint als etwas Anachronistisches in einer sich ständig beschleunigenden Industriegesellschaft mit immer kurzlebigeren Erzeugnissen. Um handwerkliche Fertigkeiten über die Zeit zu erhalten, braucht es auch gezielte Förderung. Handwerk soll nicht konserviert, sondern in einen modernen Zusammenhang gestellt werden. Die berühmte österreichische Sense wird nur dann überleben, wenn sie auch benutzt wird. Die Oberösterreicherin Christiane Laganda hält seit über zehn Jahren Kurse für das Sensenmähen, die ernsthaft gebucht und besucht werden. Sie stellt fest: „Die Grundlagen dafür und einen Vorgeschmack auf die Leichtigkeit kann man in einem Vormittag vermitteln. Danach sind viele Stunden eigene Erfahrung nötig, bis die Sense zu einem alltäglichen Werkzeug und das Mähen fließend wird.“

Thomas Schrom arbeitet in Nepal für die UNESCO beim Wiederaufbau von historischen Gebäuden nach dem Erdbeben vom April 2015. „Es gibt im gesamten Kathmandu-Tal vielleicht 20 Spitzenkräfte unter den Holzschnitzern und Zimmerleuten, die in der Qualität des 17. Jahrhunderts arbeiten“, sagt der Österreicher. Und dass es sie überhaupt noch gibt, sei ausländischen Geldgebern – auch der österreichischen Entwicklungszusammenarbeit – geschuldet. Seit ca. 40 Jahren werden diese Handwerker nun schon in zwei Generationen bei der Restaurierung und dem Wiederaufbau von Palästen und Tempeln beschäftigt.

Entmutigung. HandwerkerInnen brauchen ein Einkommen, ihre Produkte einen Markt. Hier hat das Handwerk mächtigen Gegenwind. „Wir erfassen intuitiv, dass wir nicht in einem Zeitalter des Handwerks leben“, sagt Richard Sennett. Der Kapitalismus habe kein Interesse an handwerklichem Können. Es solle uninteressante Produkte geben, die konsumiert und weggeworfen werden. Objekte mit minderwertiger Funktionalität würden ihre BenutzerInnen auch nicht dazu einladen, die eigenen Fertigkeiten zu erweitern. Und dies führe zu Entmachtung. „Das handwerkliche Ethos guter Arbeit um ihrer selbst willen wird nicht belohnt oder bleibt unsichtbar.“ Entmutigung sei die Folge.

Im Trend. Doch Kräfte, die in Widerspruch zur kapitalistischen Wirtschaftsweise stehen, sind dem Handwerk zuträglich. Die Begrenztheit natürlicher Ressourcen und der Klimawandel führen zu einem langsamen Umdenken beim Umgang mit Dingen. Reparieren, Recyceln und Upcyceln statt Wegwerfen liegen im Trend. Hier ist handwerkliches Können gefragt.

Jahrelange Bewusstseinsarbeit wie zum Beispiel im Rahmen der Clean Clothes Kampagne hat zu einer kritischeren Haltung industrieller Massenproduktion gegenüber geführt. Wer die Arbeits- und Umweltbedingungen bei der Produktion seiner Kleidung kennt, sieht den Preis für ein maßgeschneidertes Hemd vom Schneider nebenan in einem anderen Licht.

DIY, Selbermachen, gilt als interessante und ermächtigende Erfahrung auch unter jungen Leuten ohne Eigenheim.

Gutes Leben. Das Monumentalwerk „Resonanz“ von Hartmut Rosa, das in diesem Frühjahr erschienen ist, gilt als Soziologie des „guten Lebens“. Wie Sennett betont auch Rosa das Streben der Menschen nach guter Arbeit: „Zwischen Pflanzen und Gärtner, zwischen Büchern und Gelehrtem, zwischen Brettern und Schreiner, Teig und Bäcker, Geige und Geiger bilden sich genuine Anwortbeziehungen in dem für resonante Weltbeziehungen charakteristischen Sinn heraus.“ Dies sei das Gegenteil von entfremdeter Lohnarbeit. Wenn die Resonanzachse verstumme, folgten zynische Arbeitshaltung und Burnout.

Im Konzept des „guten Lebens“ hat das Handwerk also einen festen Platz.

Wenn in den Städten der Zukunft, aus denen fossile Energieträger verschwunden sind, urbane GärtnerInnen die Sense schwingen, ist ein altes Handwerk wieder mitten im Leben angekommen.

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