
Die Anerkennung und das Recht auf ausgelebte Liebe zwischen Lesben und Schwulen sind seit jeher mit Kämpfen, vielen Fort- aber auch Rückschritten verbunden.
Von Ulrike Lunacek und Rebeca Sevilla
Stonewall Bar, Christopher Street, New York, 27./28. Juni 1969: Dutzende Schwule, Drag Queens und einige Lesben wagen den Aufstand gegen die immer wiederkehrenden Polizei-Razzien, die Belästigungen und Verhaftungen – und wehren sich erstmals. Sie lassen sich die erniedrigenden Misshandlungen nicht mehr gefallen und widersetzen sich den Behörden.
Nicht, dass es vor 1969 nichts an Widerstand gegeben hätte. Aber dieser breite Aufstand markiert in der modernen (westlichen) Geschichtsschreibung der LGBTIQ-Bewegung (Begriffserklärung siehe Glossar S. 33) den Beginn des Nein-Sagens zu Ausgrenzung, zu einem Leben voller Angst.
„Stonewall“ gilt weltweit als die Initialzündung des modernen „Gay Movement“ als Teil der Bürgerrechtsbewegung – ursprünglich in der öffentlichen Wahrnehmung und Präsentation dominiert von schwulen Männern, einigen Drag Queens und sehr wenigen lesbischen Frauen. Die Terminologie spiegelt dies wieder: Im englischsprachigen Raum bezeichnen sich auch viele lesbische Frauen heute noch als „gay“. Im Deutschen ist das nicht möglich: „schwul“ bezieht sich eindeutig auf schwule Männer, und „gay women/lesbians“ heißen auf Deutsch „Lesben“.
Beginn der Organisierung. Die 1970er und 1980er Jahre waren weltweit eine Zeit des Aufbruchs, auch für die LGBTIQ-Community. Die 1980er Jahre brachten mit den HIV-Infektionen und Aids einen brutalen Einschnitt, viele engagierte schwule Männer erkrankten und starben. Dies erzeugte Solidarität, auch von Seiten vieler lesbischer Frauen.
Und es schaffte die Möglichkeit der Finanzierung von Community-Arbeit, denn Geldgeber von Projekten im globalen Süden etwa waren bereit, Aufklärungs- und Präventionsarbeit gegen die HIV-Gesundheitskrise zu unterstützen – meist aber nicht explizit „für schwule Männer“. So erhielt z.B. die älteste peruanische LGBTIQ-Organisation MHOL (Movimiento Homosexual de Lima) Geldmittel, mit denen es erstmals möglich war, über Sexualität und HIV-Prävention im öffentlichen Raum zu sprechen.
Die Internationale Lesben und Schwulenorganisation ILGA (zu Beginn IGA, International Gay Association) wurde 1978 gegründet. Sie ist heute die älteste und größte LGBTIQ-Organisation, in der sich mehr als 1.500 Zivilgesellschaftsorganisationen auf allen Kontinenten zusammengeschlossen haben, um einander zu unterstützen, Sichtbarkeit zu erzielen, Gesetze durchzusetzen und Rechte zu verteidigen.
Auf die große Politik-Bühne. Die großen UNO-Konferenzen Anfang der 1990er Jahre gaben der Bewegung neuen Aufschwung: Feministische Themen wie Sexuelle und Reproduktive Gesundheit und Rechte (SRHR, ein Konzept, das damals entwickelt wurde) waren auch vielen lesbischen Frauen in allen Teilen der Welt ein Anliegen. Beim „Tribunal gegen Gewalt gegen Frauen“ bei der UNO-Menschenrechtskonferenz in Wien im Juni 1993 sprach erstmals eine lesbische Frau öffentlich im UNO-Kontext: Rebeca Sevilla, eine der Autorinnen dieser Zeilen, damals ILGA-Co-Generalsekretärin. Bei der Internationalen Konferenz zu Bevölkerung und Entwicklung (ICPD) 1994 in Kairo war eines der kontroversen Themen der Vorschlag, dass „‚families in all its forms“ im Schlussdokument Anerkennung finden sollten. Damit waren die in vielen Ländern neben der traditionellen Ehe und Familie existierenden vielfältigen Familienformen und Lebensgemeinschaften gemeint.
Rebeca Sevilla, geboren in Peru, ist selbst LGBTIQ-Pionierin, u.a. war sie von 1992 bis 1995 Co-Generalsekretärin der Internationalen Lesben und Schwulenorganisation ILGA. Seit 2003 ist sie Equality-Koordinatorin bei Education International, dem Dachverband der Lehrpersonal-Gewerkschaften, in Brüssel.
Ulrike Lunacek, vormals Südwind-Magazin-Redakteurin, LGBTIQ–Aktivistin und Obfrau der Frauensolidarität,Grünen-Politikerin und dabei von 2014-2017 Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments, ist nun freiberuflich tätig.
Die beiden teilen seit 1993 Aktivismus und Menschenrechtsengagement – sowie das Leben zu zweit.
VertreterInnen einiger westlicher Länder hatten bei diesen Begriffen auch die gegenseitige Absicherung für Lesben und Schwule im Kopf. Das fand die „(un)heilige Allianz“ von Vatikan, konservativ islamisch und katholisch regierten Staaten, z.B. in Lateinamerika, gar nicht gut und versuchte, das zu verhindern – erfolglos. Die heute wieder von manchen Anti-Gender-AktivistInnen gegen Frauen- sowie LGBTIQ-Gleichstellung attackierten SRHR wurden in Form einer breiten Definition von „reproduktiver Gesundheit“ im Kairoer Aktionsprogramm verankert.
Ein Fortschritt, auf dem bei der großen Weltfrauenkonferenz 1995 in Peking aufgebaut wurde: Peking brachte vier „erste Male“ auf UNO-Ebene für lesbische Frauen: Die Forderung, „sexuelle Orientierung“ explizit in einem UNO-Dokument zu verankern, wurde zum ersten Mal diskutiert, fand aber noch keine mehrheitliche Zustimmung. Zum ersten Mal hielt eine offen lesbische Frau, Beverly Palesa Ditsie aus Südafrika, eine offizielle Rede vor dem Plenum einer UNO-Konferenz, ein Transparent mit der Aufschrift „Lesbian Rights are Human Rights“ wurde kurz vom Balkon des Plenums entrollt, und es gab die erste Demonstration lesbischer Frauen.
Vorreiter Südafrika. Die 1990er Jahre waren auch auf nationalstaatlicher Ebene prägend: Das Nach-Apartheid-Südafrika war der erste Staat der Welt, der im Mai 1996 Diskriminierung auf Grund von sexueller Orientierung in seiner Verfassung verbot. Der anglikanische Erzbischof und Friedensnobelpreisträger von 1984, Desmond Tutu, hatte die Verfassunggebende Versammlung zuvor aufgefordert, diesen Passus beizubehalten, und erklärte, dass die Ablehnung von Schwulen und Lesben durch die Kirche „fast die schlimmste Blasphemie“ sei – Worte, die vielen anderen christlichen Würdenträgern bis heute nicht über die Lippen kommen.
Es folgten Fidschi (1997) und Ecuador (1998) mit der Verankerung des Prinzips der Nichtdiskriminierung aufgrund von sexueller Orientierung in ihren Verfassungen. Seit 2016 gibt es solche Bestimmungen in lediglich neun Staaten: Vereinigtes Königreich, Bolivien, Ecuador, Fidschi und Malta (diese Staaten inkludieren auch Rechte bezüglich der freien Wahl der eigenen Geschlechtsidentität) sowie Mexiko, Neuseeland, Südafrika und Schweden.
Ex-Kolonien in Asien und Afrika haben ein schwieriges Erbe zu bewältigen. Der simbabwische Aktivist Keith Goddard wies bei der ILGA-Konferenz in Johannesburg 1999 darauf hin, dass Gesetze gegen (meist männliche) Homosexualität relativ kurz nach dem Eintreffen der Kolonisatoren (im Falle von Zimbabwe war dies 1888) erlassen wurden – was wohl für alle klar machen sollte, dass es gleichgeschlechtliches L(i)eben schon vor der Kolonisierung gegeben hatte.
Absurderweise verbreiten ehemalige Freiheitskämpfer wie etwa Robert Mugabe (Simbabwe) und Yoweri Museveni (Uganda) den Mythos, dass Homosexualität „unafrikanisch“ sei. Noch heute befinden sich alle zwölf Länder der Welt, in denen auf (meist männliche) Homosexualität die Todesstrafe steht, in Afrika und Asien, ebenso die meisten der 62 anderen, in denen sie mit Gefängnis bedroht ist.
Verfassung und Praxis. Die Verfassungsvorschriften bedeuten allerdings nicht, dass die rechtliche Gleichstellung – also Antidiskriminierungsgesetze und Partnerschaftsgesetz und/oder Öffnung der Ehe sowie Adoptionsrecht – damit Hand in Hand gehen. Und, sie schreiben nicht vor, wie diese Errungenschaften umgesetzt werden sollen.
In Fidschi ist z.B. gleichgeschlechtliche sexuelle Aktivität erst seit 2010 legal. Im Juni 2016 erklärte Premierminister Frank Bainimarama, dass „Fidschi diesen Schmarrn nicht braucht“ – und meinte damit die Öffnung der Ehe. Nichtdiskriminierung in der Verfassung ist also ein wichtiger Schritt, lässt jedoch Homo- oder Transphobie nicht einfach verschwinden. Dafür bräuchte es überall Antidiskriminierungsgesetze, Durchführungsbestimmungen und vor allem gesellschaftspolitische Aufklärung, auch an Schulen, sowie positive Bilder in Schulbüchern, die finanzielle Unterstützung von LGBTIQ-Organisationen im eigenen Land und noch mehr mutige AktivistInnen und heterosexuelle Verbündete.
In Brasilien z.B. hatte die erste Regierung von Präsident Lula da Silva 2004 das Programm „Brasil sem Homofobia“ („Brasilien ohne Homophobie“) ins Leben gerufen, mit dem, gemeinsam mit der Zivilgesellschaft, spezifische Trainings für Lehr-, Gesundheits- und Justizpersonal im ganzen Land durchgeführt wurden. Außerdem wurde mit zahlreichen Kulturprojekten zur Sensibilisierung gegen Vorurteile und Gewalt sowie zu Akzeptanz beigetragen.
Öffnung der Ehe. Die Jahrtausendwende machte Hoffnung, dass die globalen Fortschritte weitergehen würden. Der Kampf um die rechtliche Gleichstellung zeigte Erfolge: Vorreiter war 1989 Dänemark, das als erster Staat der Welt gleichgeschlechtliche Partnerschaften anerkannte. 2001 waren die Niederlande das erste Land, in dem tatsächlich die Ehe geöffnet wurde.
Mit Stand 1. Jänner 2019 haben 26 Staaten weltweit die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare anerkannt. Südafrika tat es 2006 und ist bis jetzt damit das einzige Land in Afrika. In Lateinamerika waren einige der fortschrittlichen Regierungen Vorreiterinnen: Argentinien 2010, Brasilien und Uruguay 2013 und Kolumbien 2016. Dort wurden gleichgeschlechtliche Partnerschaften schon 2007 anerkannt, seit 2015 dürfen lesbische und schwule Paare Kinder adoptieren. Diese Fortschritte änderten jedoch nichts daran, dass 2016 dort 115 LGBTIQ-Personen ermordet wurden.
In Mexiko ist in einigen Bundesstaaten die gleichgeschlechtliche Ehe zugelassen. Taiwan wird aufgrund eines höchstgerichtlichen Urteiles die Ehe für Lesben und Schwule am 19. Mai 2019 öffnen und Costa Rica muss aufgrund einer Entscheidung seines Obersten Gerichtshofs bis spätestens Mitte 2020 selbiges tun.
Basis für dieses Urteil war die historische Entscheidung des Interamerikanischen Gerichtshofes für Menschrechte vom Jänner 2018, dass die gleichgeschlechtliche Ehe ein Menschenrecht ist, geschützt in der Interamerikanischen Menschenrechtskonvention, und dass alle Staaten des Kontinents deshalb Ehen von Lesben und Schwulen legalisieren sollten.
„Die Zeit ist reif.“ In den letzten Jahren gelangen wichtige Schritte auf dem – schwierigen – Weg zur Nichtdiskriminierung. 2008 wurde in der UNO-Generalversammlung ein Statement von 66 Mitgliedstaaten – angeführt von Argentinien – verabschiedet: Das Prinzip der Nichtdiskriminierung verlange, dass Menschenrechte jeden Menschen gleich betreffen, unabhängig von sexueller Orientierung oder Geschlechtsidentität. Drei Jahre später folgte ein weiteres Statement im Rahmen des UNO-Menschenrechtsrates in Genf.
2012 veröffentlichte das UNO-Hochkommissariat für Menschenrechte unter der Leitung von Navi Pillay dann die Broschüre „Born Free and Equal“. Darin wird festgehalten, dass die Staaten verpflichtet sind, LGBTIQ-Personen vor Verletzung ihrer Menschenrechte zu schützen.
Im selben Jahr betonte UNO-Generalsekretär Ban Ki Moon in einer historischen Rede vor dem UNO-Menschenrechtsrat in Genf: „Ihr seid nicht alleine, euer Kampf gegen Gewalt und Diskriminierung ist unser gemeinsamer Kampf, jeder Angriff auf euch ist ein Angriff auf die universellen Werte der Vereinten Nationen. (…) Ich stehe zu euch. Und ich rufe alle Länder und Menschen auf, selbiges zu tun. (…) Die Zeit ist reif.“
Die Afrikanische Menschenrechtskommission verabschiedete 2014 die Resolution „Gegen Gewalt und andere Menschenrechtsverletzungen gegen Personen auf Basis von realer oder angenommener sexueller Orientierung oder Geschlechtsidentität“. Im Jahr darauf beschloss das UNO-Entwicklungsprogramm das Programm „Leave No One Behind: Advancing social, economic, cultural and political inclusion of LGBTI people in Asia and the Pacific“ im Kontext der SDGs, der Nachhaltigen Entwicklungsziele.
Und 2016 gelang im UNO-Menschenrechtsrat die Einführung eines „Independent Expert on Sexual Orientation and Gender Identity“. Dieses Mandat – derzeit trägt es Victor Madrigal-Borloz – steht Mitte 2019 zur (umstrittenen) Verlängerung an.
Hoffnung für die Entkriminalisierung von gleichgeschlechtlicher Liebe in ehemaligen (britischen) Kolonien gibt es seit dem wegweisenden Urteil in Indien vom September 2018: Der Oberste Gerichtshof kippte die von den britischen Kolonialherren eingeführte Strafbarkeit (bis zu lebenslanger Haft) als verfassungswidrig: „Die Meinung der Mehrheit kann nicht über die Grundgesetze des Einzelnen entscheiden." Das nächste Urteil steht Mitte Mai 2019 in Kenia an, auch dort stammt die Strafbarkeit für schwule Männer (bis zu 14 Jahre) aus der Kolonialzeit.
Immerwährender Einsatz. All dies sind beispielhafte, großartige Erungenschaften, die ohne den Mut, das Engagement und das Durchhaltevermögen von Tausenden von AktivistInnen weltweit – die oftmals sogar ihr eigenes Leben aufs Spiel setzen – nicht möglich gewesen wären.
Dieser Einsatz wird weiterhin notwendig sein. Weltweit – auch in der EU – sind derzeit rechtsgerichtete, nationalistische oder religiös fundamentalistische Gruppierungen im Aufwind und Regierungen an der Macht, initiieren und verstärken homophobe Diskurse. Hass und Hetze nehmen auf allen Kontinenten wieder zu. Die sichtbarer gewordene Minderheit von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intersex- sowie Queer-Personen wird als Sündenbock für die populistische Hetze gegen „Andere“ missbraucht.
Zuletzt hat etwa das streng islamische Sultanat in Brunei die Scharia-Gesetze verschärft: u.a. steht jetzt für Schwule die Todesstrafe durch Steinigung. In Brasilien, das schon große Fortschritte verzeichnet hatte, macht der neue Präsident Jair Bolsonaro massiv gegen die LGBTIQ-Gemeinde Stimmung (siehe auch SWM 3-4/2019).
Das Stonewall-Inn in der Christopher Street in New York ist heute eine denkmalgeschützte Bar, Barack Obama hatte das als US-Präsident veranlasst. Viele New York-BesucherInnen pilgern hin. Trotz aller Freude darüber, dass sowohl Ikonen wie auch Orte der Bewegung mittlerweile musealen Charakter haben, darf nicht übersehen werden, dass die Offenheit und die Gesetze, die erreicht wurden, nicht auf immer und ewig festgeschrieben sind. Engagement von uns allen ist nötig, damit das Menschenrechtsprinzip der „Freiheit, ohne Angst und in Würde leben zu können“ überall auf dieser Welt mehr Raum und Respekt erfährt.
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