Alternative Armut?

Von Robert Lessmann · · 2002/04

Die 45. Commission on Narcotic Drugs der Vereinten Nationen ist Mitte März in Wien zu Ende gegangen. Schwerpunkt der diesjährigen „thematischen Debatte“ war die Bestandsaufnahme des UN-Aktionsplans über die „Eradikation unerlaubter Drogenpflanzen und über Alternative Entwicklung“ aus dem Jahr 1998.

Pino Arlacchi hatte sich viel vorgenommen. „Drogenfrei in zehn Jahren“, hatte sein Slogan geheißen (vgl. SÜDWIND-Interview vom September 1999). Im vergangenen Jänner musste der Chef des UN-Drogenkontrollprogramms (UNDCP) vorzeitig seinen Hut nehmen. Nicht Wenige hatten seine damalige Ankündigung schlicht für verrückt gehalten. Indes: Mit vollmundigen Zielvorgaben und der Ausrufung einer global initiative gegen Drogen, die sich in einer Sondergeneralversammlung (UNGASS) der UN zum Thema Drogen im Sommer 1998 manifestierte, gelang es Arlacchi, neue Unterstützung und Gelder für eine Politik zu mobilisieren, mit der – nach anderthalb Jahrzehnten Stillstand – niemand mehr hinter dem Ofen hervorzulocken war. Die Tragik an der Sache: Dabei blieb es.
Der versprochene Politikwechsel fand allenfalls in der Schlusserklärung der UN-Drogenkonferenz statt. Dort ist viel von Alternativer Entwicklung die Rede und von den Prinzipien der Sozialverträglichkeit und der Nachhaltigkeit. Die Praxis sah und sieht jedoch anders aus.
Das ehrgeizige Ziel sollte unter anderem mit einem Aktionsprogramm zur Eliminierung so genannter Drogenpflanzen erreicht werden. Betrachten wir einmal den Schlafmohnanbau (zur Erzeugung von Opium). Relativ bedeutenden Rückgängen in Pakistan von 5.091 Hektar (1995) auf 837 Hektar (1996), in Thailand von 3.016 (1992) auf 998 (1993) und in Laos stehen Zuwächse in Mexiko und Kolumbien gegenüber, die heute zusammengenommen bei 10.900 Hektar liegen. Unter dem Strich betrachtet entwickelte sich der Anbau in den hier dokumentierten zwölf Jahren recht undramatisch. Ein Zusammenhang mit dem UN-Aktionsplan ist höchstens in Laos abzulesen.
Dramatische Veränderungen gab es allein in zwei Ländern, Afghanistan und Myanmar (Burma): In der zweiten Hälfte der 90er Jahre erfuhr der Schlafmohnanbau in Afghanistan beinahe eine Verdoppelung; in Opium gemessen drückt sich dieser Zuwachs noch markanter aus, weil afghanischer Schlafmohn ergiebiger ist. Die Entwicklung dort wurde, wie wir wissen, von politischen und ökonomischen Faktoren bestimmt, mit einer Wucht, die jenseits der Reichweite von Drogenpolitik oder gar der von Projekten der Alternativen Entwicklung liegt.
Der Koka-Busch, pflanzlicher Rohstoff für die Kokaingewinnung, kommt traditionell nahezu ausschließlich aus den drei Andenländern Bolivien, Kolumbien und Peru. Er könnte theoretisch auch in anderen Regionen wachsen.
Fast zwei Jahrzehnte Drogenkrieg in den südamerikanischen Koka-Regionen haben aber nicht bewirkt, dass illegale Drogenunternehmen für ihre Rohstoffversorgung andere Gegenden hätten erschließen müssen. Die Anbaufläche ist nicht zurückgegangen. Was ist also passiert?
„Null Koka“ in Bolivien. Im hoch gelegenen Binnenstaat feierte man im Februar 2001 eine Planübererfüllung: Coca Zero, die Eliminierung der gesamten Koka-Überschussproduktion (die über 12.000 Hektar für den erlaubten traditionellen Konsum hinaus geht). Ein kleiner Rest von 600 Hektar würde nach dem Ende der Regenzeit umgehend zerstört. Pino Arlacchi kam persönlich zur Feierstunde ins Anbaugebiet des Chapare: Ein Erfolg seiner Strategie der Alternativen Entwicklung, hatte er in der Presseaussendung zum Erscheinen seines World Drug Report 2000 schreiben lassen.
Heute spricht die bolivianische Regierung von einem Rest von 6.000 Hektar und reklamiert für sich, 6.000 vernichtet zu haben: Zusammengenommen das Zwanzigfache der behaupteten 600 Hektar. Dass darunter ihre Glaubwürdigkeit leidet, ist das kleinere Problem. Tatsächlich konnte man ja eine Reduzierung erreichen. Aber wie?
Die Coca-Zero-Feierlichkeiten fanden hinter NATO-Drahtzäunen auf Kasernengelände statt. Präsident Hugo Banzer hatte das Militär geschickt: 4.000 Polizisten und Soldaten. Während unter deren Schutz gleich nach der Verabschiedung seines Plans Por la Dignidad (Für die Würde) seit Jänner 1998 eine entschlossene Kampagne der Zwangseradikation (gewaltsames Ausreißen der Pflanzen) anlief, brauchte die Regierung des Ex-Diktators bis zum Sommer 1999, um überhaupt einen runden Tisch potentieller Geber für die Alternative Entwicklung zu organisieren. Natürlich gab es bereits Projekte in der Zone. Doch es war klar, dass sie mit dem Rhythmus der Eradikation nicht Schritt halten konnten. Diese Ungleichzeitigkeit führte zu heftigen sozialen Konflikten, die viele Menschenleben forderten. Ein Dialog zwischen den Bauernorganisationen (einschliesslich der mit jeweils großer Mehrheit gewählten Bürgermeister), der Regierung und den Projekten findet praktisch nicht mehr statt. Immer wieder bringen Proteste und Straßenblockaden das wirtschaftliche Leben, einschließlich der Projektarbeit zum Erliegen.
Konnte ein Kokabauer im Chapare im Jahr 1997 auf der Basis einer Überproduktion und sehr niedriger Preise 1.500 Dollar pro Hektar pro Jahr verdienen, so waren es nach Abschluss der Eradikationskampagne im Sommer letzten Jahres 15.000 Dollar. Der „Plan für die Würde“ hat dazu geführt, dass wiederum eine Situation eingetreten ist, wo kein Alternativprodukt und keine alternative Aktivität auch nur annähernd mit dem Koka-Kokain-Geschäft konkurrieren kann. Das ist nicht einfach ein Misserfolg: Der Kokaanbau geht einher mit unkontrollierter Migration, Abholzung tropischer Wälder, Auslaugung und Erosion von Böden, Vergiftung von Erdreich und Gewässern mit Chemikalien wie Kerosin und Schwefelsäure, die zur Weiterverarbeitung nötig sind. (Eine Faustregel geht von zwei Tonnen Chemikalien pro Hektar pro Jahr aus.) War in den 80er Jahren ein Kokaboom für die Ausbreitung des Anbaus ins Hinterland verantwortlich, so ist es heute in wachsendem Maße eine verfehlte Politik, der es nur auf jährliche Eradikationserfolge ankommt und die die Nachhaltigkeit außer acht lässt.

In Peru war es Mitte der 90er Jahre zu einem 50%-igen Rückgang der Kokaproduktion gekommen. Der Markt brach zusammen. Felder wurden aufgegeben. Die Politik verbuchte diesen Rückgang für sich und ihre Operation Airbridge. Verdächtige Flugzeuge wurden zur Landung gezwungen und notfalls abgeschossen. Drogenflüge gingen drastisch zurück – bis im letzten Jahr irrtümlich ein Flugzeug mit einer US-amerikanischen Missionarsfamilie an Bord abgeschossen wurde. Das Programm liegt seither auf Eis.
Doch bereits seit Mitte 1998 steigen die Kokapreise in vielen Gegenden Perus wieder an, nehmen Bauern in Abwesenheit ökonomischer Alternativen ihre Kokafelder wieder in Produktion oder legen neue an. Zeitgleich zur Operation Airbridge wurden in Kolumbien die mächtigen Drogenorganisationen von Medellín und Cali zerschlagen, die sich überwiegend aus Peru mit Rohstoff versorgt hatten. Der Rückgang der Kokaproduktion in Peru hatte von daher nicht zuletzt auch konjunkturelle Ursachen.
In den großen Städten, vor allem in Lima, kam es zu einem sehr ernsten Anstieg des Drogenkonsums, hervorgerufen offenbar durch ein Überangebot und einen Preisverfall. Die Zahl der Menschen mit Kokainerfahrung hat dort zwischen 1995 und 1997 um rund 60% zugenommen. Offizielle peruanische Quellen sprechen von 60.000 Hektar Koka im letzten Jahr und erstmals auch von Schlafmohnanbau, Tendenz steigend. In den letzten zwei Jahrzehnten sollen in Verbindung mit dem Kokaanbau in Peru rund 2,3 Millionen Hektar Wald vernichtet worden sein.

Kolumbien gilt nicht als drogenpolitisches Musterland, obwohl es Jahr für Jahr mit immer neuen Rekorden von Beschlagnahmungen, Verhaftungen und Eradikationen aufhorchen lässt. Im letzten Jahr wurden annähernd 100.000 Hektar Koka und Schlafmohn aus der Luft mit dem Pflanzengift Glifosat besprüht. Die UNO spricht von einem Rückgang um 11%; die CIA von 25% Zuwachs.
Kolumbien erhält von den USA Waffen- und Ausbildungshilfe für den Drogenkrieg in Milliardenhöhe. Ein eben vorgelegter Bericht des US-Rechnungshofes (GAO) moniert indessen, dass von 56 Millionen Dollar, die für die Alternative Entwicklung zur Verfügung gestellt worden waren, nur sechs Millionen tatsächlich ausgegeben wurden. Zwei linksgerichtete Guerillagruppen und rechtsextreme Paramilitärs – mit zusammengenommen wohl an die 40.000 Kämpfern – kontrollieren weite Teile des Landes und finanzieren sich unter anderem auch aus Drogengeschäften. Die Entführung deutscher Projektmitarbeiter durch die FARC-Guerilla im letzten Jahr steht ebenso als Fanal für miserable Rahmenbedingungen wie die „versehentliche“ Besprühung von Projekten der UNO und der deutschen GTZ mit Glifosat.
Heute ist Afghanistan in aller Munde: Was zu erwarten war, ist eingetroffen. Der Anbau von Schlafmohn hat wieder radikal zugenommen. Die UNO schätzt ihn auf gegenwärtig zwischen 45.000 und 65.000 Hektar, das entspricht einer Produktion von 1.900 – 2.700 Tonnen Rohopium, dem Stand von Mitte der 90er Jahre. Weniger immerhin als die 4.600 Tonnen (1999) und 3.300 Tonnen, mit denen Afghanistan im Jahr 2000 Ausgangspunkt für nahezu 80% des Heroins auf den Weltmärkten gewesen war. Im letzten Jahr ging die Opiumproduktion nach einem Anbauverbot der Taliban in den von ihnen kontrollierten Gebieten gegen Null – und die Preise, die den Bauern gezahlt werden, um das Zehnfache in die Höhe. Die afghanische Interimsregierung hat am 17. Jänner ein umfassendes Verbot für Anbau und Handel mit Opium erlassen, verfügt aber nicht über die Möglichkeiten, dieses Verbot zu vollziehen. Die Sicherheitslage ist in den meisten Teilen des Landes äußerst prekär. Bei Preisen von gegenwärtig bis zu 400 US-Dollar/kg werden die Einnahmen bei 760 Mio. bis zu 1 Mrd. Dollar liegen; ein Preisrückgang ist zu erwarten, doch selbst auf dem niedrigen Niveau vom Februar 2000 würde die erwartete Opiumproduktion etwa 100 Mio. Dollar bringen. Hier Alternativen zu schaffen, ist eine langfristige Herausforderung.

Auf der Tokioter Afghanistan-Geberkonferenz vom 21./22. Jänner wurde auch für die Drogenkontrolle eine grobe Strategie abgesteckt und ein Finanzbedarf von 120 Mio. Dollar für die ersten zweieinhalb Jahre angenommen. Zusagen – auch von Österreich – wurden bereits gemacht. Was noch fehlt, sind konkrete Pläne.
Seitens der Vereinten Nationen gibt es bisher nur eine „Projektidee“ zu einem Koordinierungsvorhaben im Volumen von 5,5 Mio. Dollar. Bei der Dringlichkeit des Bedarfs in Afghanistan und der hohen Aufmerksamkeit, die das Land im Augenblick genießt, besteht die Gefahr, dass andere Länder und Regionen aus dem Blickfeld geraten und dass Mittel und Energien verpuffen, solange es noch an konkreten Konzepten mangelt. Geber werden gut daran tun, die Verwendung ihrer Mittel aufmerksam zu verfolgen.

Das „Drogenproblem“ der Länder des Südens stellt sich für diese primär als komplexes Entwicklungsproblem dar. Alternative Entwicklung ist der Versuch, (mit) den Bauern (zusammen) Daseinsalternativen zu erschließen. Die Konzepte dazu wurden im Laufe der Jahre erweitert und verfeinert: Vom simplen Substitutionsansatz (Kaffee- statt Kokaanbau) hin zu einer integrierten ländlichen, ja menschlichen Entwicklung.
Mit dem zunehmenden Drogenkonsum in den früher so genannten Produzentenländern spielen heute auch Vorhaben in den Bereichen Prävention und Therapie eine Rolle. Mit dem Instrumentarium, das der Entwicklungszusammenarbeit zur Verfügung steht, lassen sich viele der oben genannten verheerenden Folgen der Drogenwirtschaft bekämpfen, lässt sich ein Klima schaffen, das den Bauern einen Ausstieg erleichtert.
Afghanistan, Kolumbien, Myanmar: Politische Instabilität stellt eine Nährlösung für die illegale Drogenwirtschaft dar, die wiederum als Katalysator für Menschenrechtsverletzungen, Korruption, Chaos und Gewalt wirkt. Alternative Entwicklung kann an ganz zentraler Stelle einen Beitrag zu Krisenprävention und Friedenssicherung leisten. Ob sich indessen der Anbau so genannter Drogenpflanzen bei persistenter Nachfrage überhaupt beseitigen lässt? Selbst 15 Jahre Drogenkrieg in den Anden sind den Beweis dafür schuldig geblieben.
Partielle oder gar virtuelle Erfolge publikumswirksam zu inszenieren wird auf die Dauer als Legitimation nicht reichen. Eines ist klar: Wenn Repression gegen die bäuerlichen ProduzentInnen gerichtet ist (statt gegen die kriminellen Organisationen des Drogenhandels), dann steht gewissermaßen das „Alternativ“ der „Entwicklung“ im Wege: Entwicklung braucht nicht nur kluge Konzepte und ausreichende Mittel, sie braucht vor allem Zeit. Ultimative Eradikationsvorgaben rauben sie ihr. Nachhaltige Entwicklung heißt: Partizipative Entwicklung. Durch repressive Maßnahmen setzt man sich von vornherein in Gegnerschaft zur Zielgruppe. Der „Entwicklungshelfer“ kam aus der Sicht der Bauern nur allzu oft im Windschatten von Sprühflugzeugen und paramilitärischen Eradikationstrupps. So kann Partizipation nicht funktionieren. Man muss die Köpfe und Herzen der Bauern erobern. Ohne oder gar gegen sie geht es nicht.


Schlafmohnanbau (Opium)
in Hektar, ausgewählte Jahre

19881995199820002001*
Afghanistan32.00053.75936.67482.1717.606
Laos40.40018.52026.83719.05217.255
Myanmar104.200154.070130.300108.700105.000
Total211.024249.919237.819221.952144.294

Quelle: United Nations Office for Drug Control and Crime Prevention, Global Illicit Drug Trends, 2001, S. 60

Kokaanbau
in Hektar, ausgewählte Jahre

19881995199820002001*
Bolivien48.90048.60038.00014.60019.900
Kolumbien34.00050.900101.800163.289144.807
Peru110.400115.30051.00034.20046.232
 
Total193.300214.800190.800212.089210.939

* Ein neues Monitoring-System der UN (SIMCI) legte erstmals für 1999 Zahlen für Kolumbien vor, die um fast 30.000 ha über den US-Zahlen lagen. Die Schaffung eines unabhängigen Monitoring-Systems ist – wie auch die Publikation der hier zitierten jährlichen Statistiken durch die UN – übrigens auch ein Verdienst Arlacchis. Vorher war man auf die Zahlen des State Department angewiesen, die auf Satellitenaufnahmen der CIA beruhen.

Robert Lessmann lebt als freier Journalist und Consultant in Wien. Zur Drogenthematik erschienen von ihm zuletzt „Zum Beispiel Kokain“ (siehe SWM 11/01 S.37) und als Mitautor „Drogen und Entwicklung in Lateinamerika“, A4-Broschüre, 84 Seiten, kostenlos zu

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