Bittersüße Wahrheiten über Zucker

Von Silke Bollmohr, Gerold Schmidt und Jana Zotschew · · 2023/Sep-Okt
Viele Zucker-Arbeiter:innen in der Dominikanischen Republik haben Wurzeln in Haiti. Sie werden dringend gebraucht, trotzdem seit Jahrzehnten schlecht behandelt. © Erika Santelices / AFP / picturedesk.com

Gesundheitsgefahren, verletzte Landrechte, Umweltschäden: Der wachsende Zuckerkonsum hat weltweit negative Auswirkungen.

Wenn von Rohstoffen die Rede ist, fällt der erste Gedanke nicht unbedingt auf Zucker. Doch Zucker ist ein wichtiger Rohstoff. Vor wenigen Jahrhunderten war er noch ein Luxusgut, heute hat er eine enorme Bedeutung für die Lebensmittel- und Getränkeindustrie, insbesondere für die Süßwarenherstellung. Länder des Globalen Südens mit niedrigen und mittleren Einkommen ziehen längst nach oder übertreffen den Verbrauch des Globalen Nordens teilweise deutlich, vor allem durch den Konsum von überzuckerten Erfrischungsgetränken.

Haushaltszucker wirkt wie Gift für den Körper. Er ist eine Droge, die wie Alkohol die Leber schädigt, den Stoffwechsel aus dem Gleichgewicht bringt und Krankheiten begünstigt. Der übermäßige Zuckerkonsum erhöht das Risiko für Übergewicht, die größte Gesundheitsgefahr der Moderne, Diabetes und Karies.

Die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt, täglich nicht mehr als 50 Gramm Zucker zu konsumieren. Angesichts der vom Zucker verursachten Krankheiten hält sie es sogar für sinnvoll, den Konsum unter 25 Gramm zu halten. Zum Vergleich: Ein Viertelliter (250ml) Coca-Cola enthält 27 Gramm Zucker.

Zuckerkonsum und seine gesundheitlichen Folgen sind die eine Sache, seine vielfältigen sozial-ökologischen Auswirkungen insbesondere in Ländern des Globalen Südens eine andere. Übrig gebliebene Strukturen aus der Kolonialzeit spielen dabei ebenso eine Rolle wie die Anbaumethoden und die heutigen globalen Handelsbeziehungen – und ganz konkret die Handelspolitik der Europäischen Union.

Rübe und Rohr. Zucker wird sowohl aus der Zuckerrübe als auch aus Zuckerrohr hergestellt. Chemisch gesehen ist der Zucker aus beiden Pflanzen identisch, die klimatischen Bedingungen sind jedoch entscheidend dafür, wo die jeweilige Pflanze anbaufähig ist.

In den EU-Ländern wird Zucker fast ausschließlich aus der Zuckerrübe gewonnen, die erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gezüchtet wurde und besonders gut in gemäßigtem Klima wächst. Die Hälfte des weltweit gewonnenen Rübenzuckers wird in der EU produziert – Frankreich, Deutschland und Polen stehen hier an der Spitze.

Das Süßgras-Zuckerrohr hat eine Geschichte von circa 10.000 Jahren. Es stammt ursprünglich von der pazifischen Inselgruppe Melanesien, die nordöstlich von Australien liegt. Die drei bis sechs Meter hohe Pflanze wächst besonders gut in tropischen und subtropischen Regionen.

Der aus dem Zuckerrohr gewonnene Zucker war bis ins Mittelalter in Europa nur für den Adel und wenige begüterte Nicht-Adelige erschwinglich. Dies änderte sich erst, als großflächige Zuckerrohrplantagen in der Karibik und in Südamerika, vor allem in Brasilien, entstanden. Der weltweite Handel mit Zucker nahm einen unaufhaltsamen Aufstieg (siehe Artikel von James Walvin auf S. 35).

Aus Zuckerrohr werden derzeit 86 Prozent des weltweit hergestellten Zuckers gewonnen. Ohne effektive Marktregulierungen und ein geändertes Konsumverhalten wird die Nachfrage nach Rohrzucker weiter wachsen. Wenn diese nicht durch steigende Erträge pro Hektar ausgeglichen werden kann, bedeutet das die Ausweitung der Anbauflächen. Zuckerrohr steht dann noch mehr in unmittelbarer Konkurrenz zum Anbau von Lebensmitteln.

Zuckerrohr wird in etwa hundert Ländern der Welt angebaut. Anbauflächen und klimabedingte Erträge verändern sich je nach Land ständig. Zu den Hauptanbauländern zählen Brasilien mit einer bepflanzten Fläche (Stand 2021 nach de.statista.com) von zehn Millionen Hektar (etwas mehr als die Fläche Ungarns), Indien (5 Millionen Hektar), China, Thailand und Pakistan (jeweils 1,1 bis 1,3 Millionen Hektar).

Süße Quoten. Rübenzucker und Rohrzucker stehen grundsätzlich in einem Konkurrenzverhältnis. Politische und rechtliche Rahmenbedingungen bestimmen die Preise und Handelsbeziehungen maßgeblich mit. Bis 2017 war der Markt für Rübenzucker in der Europäischen Union strikt geregelt. Über eine Quote war festgelegt, wie viel Zucker die einzelnen Länder produzieren durften.

Die Zuckerfabriken mussten den Landwirt:innen einen Mindestpreis zahlen und die Exportmengen waren durch die Quotenregelung gedeckelt. Ziel waren Selbstversorgung und Unabhängigkeit vom Weltmarkt. Im Kontext der Marktliberalisierungspolitik reduzierte die Europäischen Kommission Quoten und Stützpreise bereits vor 2017 schrittweise. Sie wollte den europäischen Zuckersektor international wettbewerbsfähig machen und „Marktchancen auf den einheimischen wie auf den Weltmärkten“ nutzen, wie es in einem Factsheet der EU-Kommission von 2017 heißt.

In den vergangenen zwei Jahrzehnten ging die Anbaufläche in der EU von 2,3 Mio. Hektar (2001) um rund 35 Prozent auf knapp 1,5 Millionen Hektar (2021) zurück. Teilweise kompensierten stetige Steigerungen der Erträge den Flächenrückgang.

Im Oktober 2022 stieg der Zuckerpreis in Deutschland um 63 Prozent – einerseits verringerte sich trockenheitsbedingt die Ernte und die Importe aus Brasilien gingen zurück, andererseits verursachten steigende Gaspreise höhere Kosten. Die Herstellung von Zucker aus Zuckerrüben verbraucht viel Energie und ist abhängig von fossilen Brennstoffen.

Zucker im Tank. Solange die Weltmarktpreise für Zucker niedriger als die Preise in der EU waren, war die Produktion für den EU-Markt für Länder des Globalen Südens besonders attraktiv. Die Handelsinitiative „Alles außer Waffen“ der Europäischen Union ermöglicht es den 49 am wenigsten entwickelten Ländern, Produktezoll- und quotenfrei in den europäischen Binnenmarkt zu exportieren, seit 2009 auch Zucker.

Ebenfalls seit diesem Jahr gilt in der EU die Richtlinie über Erneuerbare Energien. Sie setzt auf einen Mindestanteil von zehn Prozent Erneuerbarer Energien im EU-Kraftstoffsektor und schafft so einen bedeutenden Absatzmarkt für Bioethanol. Neben verschiedenen Getreiden und Kartoffeln ist auch Zuckerrohr (und ebenso die Zuckerrübe) für die Produktion von Bioethanol geeignet. Beide EU-Regelungen haben ihre Schattenseiten:

Bei starker Nachfrage und hohen Preisen verdrängt die Monokultur Zuckerrohr tendenziell Anbauflächen für Grundnahrungsmittel der einheimischen Bevölkerung. Eine weltweit verstärkte Ethanol-Beimischung zum Kraftstoff kann Nahrungszucker verknappen und dadurch preissteigernd wirken.

Ähnlich wirkt der Ölpreis: Je höher er steigt, desto eher stellt der weltgrößte Exporteur Brasilien seine Produktion um und verwendet sein Zuckerrohr zur Spritherstellung statt für Nahrungszucker. Was wiederum dazu führt, dass dieser knapper und teurer wird, die Preise steigen und neue Anbauflächen erschlossen werden.

Die Folge: In den vergangenen Jahren wurden immer wieder Fälle im Globalen Süden dokumentiert, in denen Kleinbauern und Kleinbäuerinnen das von ihnen bebaute Land verloren, weil Regierungen und lokale Machthaber es nationalen und internationalen Zuckerkonzernen zur Verfügung stellten.

Diese Landnahme aufgrund fehlender oder schwacher Landrechte der örtlichen Bevölkerung ist kein Alleinstellungsmerkmal des Zuckerrohranbaus, aber oft ein Bestandteil. Dies bedeutet verschärfte Armut aufgrund wegfallender Einnahme- und Ernährungsquellen, Gesundheitsrisiken und im schlimmsten Fall Vertreibung.

Verpestet. Zuckerrohr konkurriert mit Beikraut um Licht, Nährstoffe und Wasser. Schädlinge wie der Zuckerrohrbohrer gefährden eine gute Ernte. Darum setzen die Betreiber der Zuckerrohrplantagen massiv Pestizide ein. Darunter Glyphosat und auch Paraquat, welches in Deutschland längst verboten ist.

Das birgt erhebliche Gesundheitsrisiken für die Arbeiter:innen auf den Plantagen und die lokale Bevölkerung: Grundwasserverseuchung, Hautausschläge, Niereninsuffizienz und mögliche Krebserkrankungen.

Der Einsatz von Agrargiften ist im Übrigen nicht auf den Globalen Süden beschränkt. In den USA wird die transgene Zuckerrübe gerade deswegen gepflanzt, weil sie herbizidresistent ist. In Europa wird Glyphosat vor und nach dem Zuckerrübenanbau eingesetzt. Für eigentlich verbotene bienengiftige Insektizide (vor allem Neonicotinoide) gab es lange Ausnahmegenehmigungen, um Blattläuse zu bekämpfen. Die intensive Landnutzung in riesigen Monokulturen verdichtet die Böden häufig und laugt sie aus.

Der Pestizideinsatz belastet sowohl Gewässer als auch Böden, beeinträchtigt aber auch die Biodiversität. Der hohe Wasserbedarf des Zuckerrohranbaus verschlimmert die Wasserknappheit in vielen Ländern. Anbau und Verarbeitung tragen erheblich zur Klimakrise bei, einerseits durch den intensiven Einsatz fossilabhängiger Düngemittel und Pestizide, anderseits durch die energieintensiven Verarbeitungsschritte bei der Herstellung des Zuckers.

Wie schon lange bei Zuckerrüben wird inzwischen auch die Zuckerrohrernte zunehmend mechanisiert. Doch längst nicht überall. In vielen Ländern ist menschliche Arbeitskraft so billig, dass Zuckerkonzerne und regionale Zuckerbarone entsprechende Investitionen nicht tätigen.

Die Arbeitsbedingungen auf vielen Plantagen in Ländern des Globalen Südens sind brutal und erinnern teilweise an die Kolonialzeit. Im November 2022 stoppten (ausgerechnet) die USA alle Käufe von Rohzucker und zuckerbasierten Produkten beim größten Zuckerhersteller der Dominikanischen Republik, Central Romana, wegen des Verdachts auf „inhumane Praktiken“ und „Zwangsarbeit“ bei dem Konzern.

Silke Bollmohr arbeitet als Referentin für Welternährung und Globale Landwirtschaft bei Inkota.

Gerold Schmidt ist Redakteur des Südlink.

Jana Zotschew ist Projektreferentin beim Verein Agrar Koordination – Forum für internationale Agrarpolitik.

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