Bollywood im Burkablick

Von Sven Hansen · · 2002/05

Nach Jahren toter Leinwände dürfen nun in Kabul wieder Filme gezeigt werden – vorerst noch alte indische Schinken oder US-Streifen voller Kampfszenen. Frauen ist der Zutritt verboten.

Morgens kurz vor zehn Uhr herrscht an diesem Feiertag des islamischen Opferfests Hochbetrieb am Eingang des „Park Cinema“ im Schar-i Nau Park von Kabul. Zwei mit Kalaschnikows bewaffnete Kartenabreisser durchsuchen die Kinobesucher nach Waffen, bevor sie in das völlig heruntergekommene staatliche Filmtheater gelassen werden. Der Besuch ist nur männlichen Besuchern gestattet, Mädchen und Frauen haben wie schon unter der Regierung der Mudschaheddin von 1992 bis 1996 keinen Zutritt. Dafür dürfen kleine Buben aber schon Gewaltfilme anschauen.
Von einst elf Kinos in Kabul wurden in den Machtkämpfen der Mudschaheddin in den 90er Jahren vier zerstört, ein weiteres wurde unter den Taliban – die alle Kinos schlossen – in ein Restaurant verwandelt. Die restlichen sind seit Ende November wieder in Betrieb.

Ein riesiger Wasserfleck ziert die Leinwand des „Park Cinema“. Der von zwei Glühbirnen spärlich erleuchtete Saal ist nicht geheizt, die ungepolsterten Sperrholzklappsitze sind kalt, ungemütlich und zum Teil zerbrochen. Obwohl das Kino mit über 500 Besuchern brechend voll ist, kann man den Atem sehen. Später kriecht die Kälte den Zuschauern die Beine hoch. Das Publikum im Alter von zehn bis dreißig Jahre pfeift und schreit schon vor dem Beginn des Films wie europäische Teenies bei einem Popkonzert.
Als die beiden Funzeln erlöschen, geht es ohne Werbung oder Vorfilm direkt los. Zunächst scheint es, als würde man den schiefen Bildausschnitt auf der Leinwand durch eine Burka betrachten. Der Film ist völlig zerkratzt, hat mächtige Streifen und ist ohnehin nie richtig scharf. Doch die Zuschauer scheint der milchige Burkablick nicht zu stören. Zudem können sie die in Hindi gehaltenen Dialoge des indischen Bollywood-Streifens namens „Lootere“ ohnehin nicht verstehen. Untertitel gibt es auch keine, die würde bei der hohen Analphabetenquote die Hälfte des Publikums nicht lesen können.

Während des Films – junger Held liebt attraktive singende Frau, die von Klavier spielendem Bösewicht entführt wird – bleibt die Stromversorgung zum Glück halbwegs konstant. Doch jedes Mal, wenn der Ton ausfällt, fängt das Publikum sofort stürmisch an zu pfeifen. Sogleich gehen die zwei Funzeln an, der Film wird angehalten, um kurz darauf mit Ton weiter zu laufen. Viele Schnitte im Film wirken so, als würden ganze Passagen fehlen. Ob sie der Zensur oder schlicht der Materialermüdung zum Opfer fielen, bleibt unklar.
Da die Zuschauer die Dialoge nicht verstehen, die wahrscheinlich ohnehin nicht sehr tiefsinnig sind, gibt es für sie auch keinen Grund, leise zu sein. Außerdem kommen ständig Leute herein oder gehen hinaus. Sobald mal wieder jemand vergessen hat, die Seitentür zuzumachen, durch die grelles Sonnenlicht hereindringt, beginnt ein Pfeifkonzert. Immer wieder leuchten die Kinobesucher mit Taschenlampen oder zünden Streichhölzer an, um den Weg zu finden. Viele rauchen, und gelegentlich wehen kräftige Haschischwolken durch den Saal.

Der 16-jährige Barialai ist begeistert: „Mir haben die Musik und die Kampfszenen sehr gefallen.“ Die Dialoge habe er nicht verstanden, das störe ihn aber nicht. Seit Vertreibung der Taliban gehe er einmal pro Woche ins Kino. Gerne schaue er auch amerikanische Filme, aber da vermisse er den Gesang. Der 17-jährige Amanullah Fazeh gesteht, dass er noch nie einen Kinofilm in seiner Muttersprache Dari gesehen habe. Bei US-Filmen finde er die Kampfszenen und Schießereien besser als bei indischen, doch bei diesem habe es ihm besonders die Frau angetan. „Die sah toll aus,“ sagt er. Die vor dem Kino angebotenen Postkarten leicht bekeideter indischer Filmsternchen kaufe er aber nicht, versichert er. Der in einem Armeeparka gekleidete Verkäufer, an dessen Stand großes Gedränge herrscht, verkauft nach eigenen Angaben 50 Postkarten am Tag.
„Die Kinofilme, die wir hier zeigen, stammen noch aus der Zeit vor den Taliban,“ sagt Kinomanager Adul Baschir. „Ich habe sie all die Jahre versteckt.“ 30 Prozent der Einnahmen könne er behalten, den Rest müsse er an die Regierung abführen, der das Kino gehöre. Zur Zeit der russischen Besatzung habe es auch abends Vorstellungen gegeben, da durften auch Frauen ins Kino, erinnert er sich. Jetzt habe er beim Kulturministerium eine Lizenz beantragt, um neue Filme importieren zu dürfen. Seit Wochen warte er auf eine Antwort. „Solange zeige ich noch die alten Filme.“ Den Zuschauern scheinen sie nach fünf Jahren ohne Kino zu gefallen.

Der Autor ist Asienredakteur der Berliner Tageszeitung „taz“ und besuchte kürzlich Afghanistan.

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