Das Ende der Armut und der Bedürfnisse

Von Redaktion · · 2005/01

Der Krieg gegen die Armut vermehrt bloß die Anzahl der Armen, meint der mexikanische Kenner von Alternativen zur Entwicklung Gustavo Esteva.

Es sieht so aus, als wollten die Vereinten Nationen endlich mit Wirklichkeitssinn und Ehrlichkeit vorgehen. Sie peilen einen Horizont von einem Millennium, also einem Jahrtausend, an, um dieselben Illusionen zu verkaufen, die sie uns früher für eine Dekade, ein Jahrzehnt, angeboten haben. Und sie erkennen an, dass sie mit ihren Versprechen nur die Hälfte der Auserwählten auf dieser Erde erreichen würden.
Trotz Ehrlichkeit und Wirklichkeitssinn, die auch als Zynismus aufgefasst werden könnten, kommen diese Versprechungen zu spät. Wir, die „Begünstigten“ von Entwicklungszielen befinden uns schon seit geraumer Zeit auf dem Rückzug aus der Zukunft. Angesichts der armseligsten Armut, die uns erwartet, geben wir den Glauben an eine von der UNO definierte, angeblich bessere Zukunft auf.
Um 1970 herum versuchten die Vereinten Nationen einen „gemeinsamen Entwicklungs-Ansatz“ zu finden. Sie entdeckten, dass die Errungenschaften von Entwicklung mit einem Anwachsen von Hunger und Elend zusammenfallen. Die Grundbedürfnisstrategie sollte direkt den „Armen“ helfen. Die Armen sind aber erst durch Entwicklung geschaffen worden, und sie vermeiden es tunlich, im Entwicklungsgeschäft mitzumischen. Es gab keine übereinstimmende Definition der weltweiten Grundbedürfnisse, aber dieser Ansatz leitet bis heute alle Entwicklungsbemühungen.

Als ich klein war, verwendete man das Wort Bedürfnis nur, um die Mutter zu fragen, wo man es „verrichten“ könne. Der Stuhlgang war unser einziges Bedürfnis. Niemandem wäre es eingefallen, eine Schule, ein Spital oder einen Job als „Bedürfnis“ zu bezeichnen. Im Laufe meines Lebens wurde meine menschliche Beschaffenheit neu definiert. Heute bringe ich mich mit „Bedürfnissen“ in Verbindung. Fortwährend wurden uns Zeitwörter, die autonome Tätigkeiten bezeichneten, wie zum Beispiel lernen oder heilen, weggenommen und durch Hauptwörter ersetzt, zum Beispiel Erziehung und Gesundheit. Radikale Abhängigkeiten von Institutionen wurden geschaffen. Als der Raub unserer Zeitwörter vollzogen und der homo faber in den „bedürftigen Menschen“ umgewandelt war, wurde die Mehrheit der Menschheit diskriminiert und massiv eingeschränkt: Gemäß UNESCO schließen 60 Prozent der eingeschulten Kinder die Pflichtschule nicht ab. Laut UN-Definition werden sie somit nie zu „richtigen“ Staatsbürgern werden.
Vor Jahren empfanden meine europäischen Freunde meine Begeisterung für unsere Gemeinschaften und Wohnviertel als übertrieben. Sie kamen, um sich selbst ein Bild zu machen: Während er den besonderen Zauber dieser Gemeinschaften bewunderte, meinte etwa Wolfgang Sachs zu unseren Begleitern: „Eure Kultur ist großartig, aber ihr seid trotzdem sehr arm.“ „Nein“, antworteten sie ihm, „wir sind Zapoteken“. Angesichts seiner Verwunderung erklärten sie ihm: „Sie nennen uns Arme, weil wir viele Dinge nicht besitzen, die Sie haben und mit denen Sie sich reich vorkommen. Wir könnten dasselbe tun, wenn wir an die Segnungen unserer Natur und unserer Kultur denken. Aber wir sagen nicht, dass Sie arm sind, weil Sie all das nicht haben. Sie sind Deutscher und wir sind Zapoteken. Respektieren wir einander!“

Die irrige Annahme, dass es eine einzige Definition für das gute Leben gäbe, zeichnet auch den aktuellen Armutsbegriff aus. Die Indikatoren, mit denen Armut gemessen wird, beschönigen die Faktoren der Verelendung und verschleiern Formen von Wohlstand, die uns nicht geläufig sind. Land ist seit den Einhegungen in Großbritannien kontinuierlich geraubt worden. Diese Übergriffe auf die gemeinschaftliche Autonomie wirken immer noch. Heute werden sie mit den Kräften des Marktes und der Staatsmacht erreicht“. Autonome Haltungen werden erstickt, marginalisiert, verboten, disqualifiziert oder abgebaut. Die Kriege gegen die Armut sind Kriege gegen die Armen, von denen es täglich mehr gibt, weil sie in ihrem Wesen modern sind.
Hören wir auf mit der Armut! Geben wir diese rassistische und erniedrigende Schönfärberei auf und enthüllen das, was sich dahinter verbirgt. Wir können über die Weiterverwendung des Begriffs schmunzeln – oder aber seine Absichten hinterfragen. Schon fällt der Blick anstatt auf die „Armen“ auf jene Gesellschaftsform, die sie hervorbringt und die es ohne Arme gar nicht gäbe. Heute führen die Armen den Kampf gegen die Konsumgesellschaft an, in der die Menschen entweder Gefangene der Sucht oder des Neides sind. Die Mehrheit der Armen befindet sich noch in Freiheit und widersteht mit Mut und Einfallsreichtum der Versuchung, ihr zu verfallen. Deshalb sind arme Menschen die bedeutendste Quelle der Hoffnung und der wichtigste Motor für Veränderung.

Wenn sie einmal den vermeintlichen Nutznießern ihres Handelns zuhören würden, so wäre die internationale Bürokratie überrascht. Sie würde entdecken, dass sie selbst überflüssig, kostspielig und unnütz ist und das Gegenteil von dem erzeugt, was sie zu erreichen vorgibt. Deshalb glauben wir nicht, dass die Veränderungen von Bürokraten ausgehen. Diese wollen ihre Scheuklappen nicht ablegen, denn davon hängen ihre Würde und ihr Einkommen ab.

Übersetzung: Werner Hörtner / Martina Kaller-Dietrich

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