Das Paradies ist anderswo

Von Günter Spreitzhofer · · 2000/04

40 Jahre nach dem Dalai Lama hat wieder ein hochrangiger Lama Tibet verlassen. Die zehnTage dauernde Winterodyssee des 14-jährigen Orgyen Trinley Dorje nach Indien lässt viele Fragen offen. SÜDWIND-Mitarbeiter Günter Spreitzhofer war kurz vor der Flucht d

Lhasa, Barkhor Square, 6 Uhr morgens: Noch ist es dunkel zwischen den weiß getünchten Steinbauten der tibetischen Hauptstadt, doch der tägliche Pilgerbus nach Tsurphu füllt sich rasch. Wettergegerbte Gestalten drängen sich auf den zerschlissenen Sitzen, monotoner Singsang hinter knarrenden Gebetsmühlen, dazu ein paar Zwiebelsäcke und ein kleines Schaf. „You cannot go“, heißt es für Nichttibeter kategorisch, „it’s illegal“.

Vierzig lange Minuten später, als die chinesischen Überwachungskameras vor dem Jokhang Tempel kurz weggeschwenkt hatten, ging es dann plötzlich doch und das sehr schnell: „Let’s go“.

Der junge Fahrer hat es mit der Abfahrt sehr eilig: zwanzig lange Minuten durch sehr chinesische Vorstädte vorbei an drei Polizeikasernen, und sichtliche Erleichterung nach dem letzten Checkpoint am Rande der Stadt. Drei Stunden und gut tausend Höhenmeter später, durch karge Hochtäler und Furten eisiger Gletscherbäche, vorbei an geduckten Steinhütten und struppigen Yaks, kommt die gewaltige Satellitenschüssel an der festungsartigen Anlage reichlich überraschend: „Karmapa“, sagen die zwei Schwestern auf dem engen Radkastensitz, ordnen die dicken Zöpfe unter ihren Filzhüten und lächeln scheu.

Karmapa. Alle kamen sie her, tagtäglich, denn die Audienz des jungen Lama um 13 Uhr war zum fixen Programmpunkt für Menschen aus Nah und Fern geworden. Das Tsurphu Kloster nebenan leerte sich, und auch die kollektiven Lesungen hinter den rauchgeschwärzten Mauern der hochgelegenen Abtei auf 4.500 Meter Höhe endeten abrupt.

Der Staub von Jahrhunderten liegt auf den ausgestopften Yaks und Wölfen voller Sägemehl, die an Seilen vom morschen Gebälk baumeln, nur schemenhaft sichtbar durch den beißenden Rauch ritueller Feuer.

Knarrend öffnen sich die Tore des Anwesens, Leibesvisitation durch breitschultrige Bodyguards, eine kurze Fanfare tibetischer Dungchen (Hörner). Dann sitzt er plötzlich da und segnet schweigend den wortlosen Pilgerzug unter seinem hohen Stuhl, scheinbar teilnahmslos beobachtet von unauffälligen Männern in schwarzen Pelzjacken.

Der Lama: ein vierzehnjähriges Kind, fast zwei Meter groß, gefangen in einem goldenen Käfig in den Hochtälern des Transhimalaya, Rasenfußballplatz und Satellitenfernsehen inclusive.

Ende Dezember war der Karmapa Lama, das Oberhaupt der Kayugpa-Sekte (Schwarzmützen), plötzlich verschwunden, um zehn Tage und 1400 Kilometer später buchstäblich vor der Haustür des Dalai Lama in Dharamsala (Nordindien) wieder aufzutauchen. Eine lange Winterreise, bloß um sakrale Musikinstrumente zu kaufen und eine heilige schwarze Krone abzuholen, wie die offiziellen Kommentare aus Peking verlauten.

Normalerweise ist es wohl für eine derartige Routinetour nicht unbedingt nötig, nächtens aus dem Fenster zu klettern, wenn sich die Wachen an chinesischen Videoprogrammen erfreuen. Kein Lama startet eine Einkaufstour bei Nacht und Nebel, generalstabsmäßig begleitet von Leibwächtern und Familienmitgliedern, und umgeht die chinesischen Armee-Checkpoints zu Fuß: Erinnerungen an die Flucht des Dalai Lama 1959 werden wach.

Ob der Karmapa Lama tatsächlich so bald zurückkehrt, wie China betont gelassen verkündet, darf bezweifelt werden. Die chinesische Nachrichtenagentur Xinhua wird nicht müde, aus einem angeblichen Schreiben zu zitieren, wonach der Karmapa „weder die Nation, sein Kloster, noch die Staatsführung verraten werde“. Und Lou Yulie, ein chinesischer Experte zu Fragen des tibetischen Buddhismus, beschwichtigt : „Er ist nicht wirklich geflüchtet. Der Westen und der Dalai Lama sollten nicht zu viel aus der Geschichte machen“.

Tatsache bleibt, dass der Karmapa Lama nicht irgendeine von vielen regionalen Zelebritäten in versteckten Klöstern des Himalaya ist. Der Vierzehnjährige war Teil eines Langzeitplans Pekings, den tibetischen Buddhismus zumindest mittelfristig unter Kontrolle zu bringen – umso mehr, als derzeit nur die Position und Person des Karmapa sowohl von Peking als auch von Dharamsala anerkannt werden.

Seit 1992 ist Orgyen Trinley Dorje als 17. Reinkarnation des Karmapa Lama unumstritten, nachdem sein Vorgänger Rangjung Rigpe Dorje bereits 1981, nur 57-jährig, im Exil in Chicago an Krebs gestorben war.

Kein einziger der drei anerkannten höchsten Würdenträger ist somit mehr im Land, und China treibt die Assimilierung munter voran. Es heißt, dem jungen Orgyen wäre eine erzwungene öffentliche Verleumdung des Dalai Lama und ein Loblied auf China, die „Bastion der religiösen Freiheit“, unmittelbar bevorgestanden: Der Karmapa, die letzte spirituelle Autorität in Tibet selbst, schien unter Kontrolle. Peking hatte es fast geschafft.

Diese Hoffnung ist vorerst vorbei, und Indiens Regierung in der Zwickmühle: Der Entspannungspolitik zu China droht ein empfindlicher Rückschlag, sollte dem jungen Lama politisches Asyl gewährt werden. Eine Ausweisung wiederum wäre ein Affront gegen die Gemeinschaft der 125.000 ExiltibeterInnen in Indien.

Nicht unbedingt vereinfacht wird die verworrene Lage durch die geographische Position des Hauptsitzes der Kagyupa-Sekte: Rumtek liegt im ehemaligen Königreich Sikkim, das 1975 von Indien annektiert wurde.

Diese Sekte ist eine der reichsten Gruppierungen des Buddhismus und zählt geschätzte eine Million AnhängerInnen, vor allem in den USA. Die Kagyupa (Schwarzmützen) waren bis Mitte des Jahrhunderts die stärkste und einflussreichste Sekte, bis die Gelugpa (Gelbmützen) sie in den Hintergrund drängten.

Die Heimkehr eines buddhistischen Sektenführers in einen umstrittenen Bundesstaat der indischen Union (China hat die Annektion Sikkims nie anerkannt) wäre wohl eine weitere Belastung der bilateralen Beziehungen. Zu allem Überfluss würde Shamarpa Rimpoche, der Abt von Rumtek, dem Karmapa Lama ohnedies den Zutritt verweigern. Er favorisiert nämlich den 17-jährigen Thinley Thai Dorje, einen von ihm persönlich Auserwählten, für diese Position und bezichtigt den Dalai Lama und Peking eines politischen Ränkespiels, mit dem ihm ein unliebsamer Lama untergeschoben werden solle. Letztendlich geht es dabei wohl um mehr als religiöses Hickhack und persönliche Animositäten – das Vermögen der Sekte wird auf über eine Milliarde US-$ geschätzt. Spätestens da endet wohl auch das buddhistische Streben nach Harmonie.

Orgyen wird weiter nicht wissen, wie ihm geschieht. Sein neues Domizil liegt eine halbe Autostunde von Dharamsala, im Gyuto Rampoche Kloster im nordindischen Sidhbari. Auf Anordnung der Sicherheitskräfte darf er das oberste Stockwerk nicht verlassen, die Fenster sind mit Decken verhängt und Interviews streng verboten.

Den Höhepunkt der jüngsten Feierlichkeiten anlässlich des 60. Jahrestages der Inthronisierung des Dalai Lama bildete ein Singspiel, in dem der Karmapa seine Flucht musikalisch verarbeitete: „Um den tibetischen Buddhismus leidenschaftlich lehren zu können, muss man frei sein“. Der junge Mann hat es vorerst geschafft. Nun wartet er auf die Reaktion Indiens auf sein Asylansuchen.

Who ist Who

Keiner der wichtigsten Lamas lebt mehr in Tibet.

Hochrangige Lamas, so genannte „Living Buddhas“ (Boddhisavathas), sind Reinkarnationen verstorbener Buddhas. Sie werden durch orakelhafte Visionen, Meditationen und mythologische Zusammenhänge bestimmt und steuern das geistige und politische Leben im Himalaya.

Der derzeit 14. Dalai Lama ist das spirituelle Oberhaupt des lamaistischen Buddhismus, seit 1959 charismatische Führungskraft des tibetischen Widerstands im nordindischen Exil (Dharamsala) und Friedensnobelpreisträger 1989.

Der zweitwichtigste Mann ist der derzeit 11. Panchen Lama, der theoretisch nach wie vor in Tibet residiert – nur welcher ist der Richtige? Die Wahl des Dalai Lama, ein heute 10-jähriger, wurde vor fünf Jahren mit einer Gruppe von Mönchen „entführt“ und ist seither verschwunden. China setzte dann mit allem Pomp im Tashilhunpho Kloster von Shigatse einen – ebenfalls 10jährigen – „Gegen“-Panchen Lama ein. Wohlindoktriniert und garantiert systemkonform, wäre er im Fall des Ablebens des Dalai Lama der prädestinierte Nachfolger.

Der derzeit 17. Karmapa Lama, die drittwichtigste religiöse Autorität Tibets, ist 14 und lebt seit Jänner in Nordindien. Er ist Führer der Kagyupa („Schwarzmützen“), die Tibet beherrscht hatten, bevor die Gelugpa („Gelbmützen“) den Dalai Lama zu ihrem Gottkönig machten.

G.S.

Der Autor ist Geograph und an der Universität Wien tätig.

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