Der Höhlenmensch

Von José Fernando Martínez Agudelo · · 2011/02

In einem kolumbianischen Küstengebirge, auf knapp 4.500 Metern Höhe, lebt ein Einsiedler seine eigene kosmische Religion der Einheit mit der Natur. Für Südwind-Redakteur Werner Hörtner schrieb er seinen Lebensweg auf.

Unsere menschliche Natur erlaubt es uns seit der Kindheit zu träumen. Wenn wir jung sind, haben wir Ideale, wenn wir reifer werden, Lebensprojekte. Diese zu verwirklichen erfordert eine große Anstrengung von uns und eine große Disziplin. Zum großen Teil hängt die Umsetzung dieser Träume von uns selbst ab, zu einem kleineren Teil vom Einfluss unserer Freunde, unserer Familienangehörigen, unserer Lehrer.

Was mich betrifft, so hatten meine Träume von klein auf zwei Ziele: Ich wollte ein erfolgreicher Manager werden, um mich dann von dieser Welt in eine Höhle am Rand eines Sees oder des Meeres zurückzuziehen, weit weg von jeglicher Form der Zivilisation, in eine andere, primitivere Welt, in eine andere Realität, wo man in vollkommener Harmonie mit dem Kosmos leben kann.

Im Laufe der Jahre nährte ich diese Ideen, indem ich einerseits ein guter Student war und andererseits mit meinem Vater und meinen Freunden Ausflüge aufs Land unternahm, in das Gebirge des vergletscherten Vulkans Ruiz im Departement Caldas. Ich verbrachte viele Tage fischend an einem See in der Nähe von Manizales, der Hauptstadt dieser Provinz, und später weitete ich meine Ausflüge auf das ganze Territorium von Kolumbien aus, auf die Wüsten, die Dschungelgebiete, das Hochgebirge.

Ich glaubte immer schon daran, dass der Mensch alles, was er sich vornimmt, auch verwirklichen kann, wenn er darum kämpft, etwa ein großer Sportler zu werden, ein geachteter Experte oder Geschäftsmann, ein berühmter Schriftsteller oder Künstler oder ganz einfach Geld zu scheffeln, solange es ihm seine körperliche Verfassung und seine geistige Fähigkeit erlaubt.

Wenn man diese Lebensetappe durchschritten hat, dann ist man reif zum Aufgeben, zur Suche nach einer anderen Wirklichkeit, der vollkommenen Glückseligkeit, zum Einssein mit sich selbst. Das bedeutet aber auch, sich der Einsamkeit auszusetzen, sich in die Berge, die Wüste oder ans Meer zurückzuziehen, im Schweigen zu leben.

Meine Ankunft in der Sierra Nevada de Santa Marta (1) im Norden Kolumbiens war für mich eine wichtige Lebenserfahrung. Im Oktober 1996 lernte ich in Valledupar (2) einen Indio kennen, mit dem ich begann, das Gebiet der Arhuacos wandernd zu erforschen. Ich lernte die einheimischen Obrigkeiten kennen, darunter auch mehrere Mamos. (3)

Durch diese Bekanntschaften und Beziehungen sah ich die Zeit gekommen, in eine andere Realität einzusteigen. Im Dezember 2005 fühlte ich mich so weit, unsere Zivilisation zu verlassen und eine Mission auf mich zu nehmen, die ich immer schon in mir verspürt hatte.

Ich reiste neuerlich nach Nabusimake, dem geistigen Zentrum der Arhuacos, und nach einer durch die indigenen Obrigkeiten durchgeführten Reinigung und Initiation zog ich mich in die Region der vergletscherten Gipfel Bolivar und Colon zurück, auf eine Höhe von über 4.000 Meter. Dort, wo sonst kein menschliches Wesen hinkommt, verbringe ich nun den Großteil des Jahres in Höhlen am Rande der Bergseen.

Ich führe ein primitives, einsiedlerisches Leben. Für meine Ernährung fische ich ab und zu eine Forelle in einer Lagune und backe Brot mit Saubohnen und Weizen, den die Indios anbauen, und trinke Wasser mit Rohzucker. Manchmal steige ich hinunter und besuche eine befreundete Familie, helfe ihr bei der Feldarbeit, wir fischen zusammen und plaudern nächtelang am offenen Feuer. Oder ich wandere weiter weg und besuche gute Freunde, bringe Samen mit und zeige ihnen, wie man Brot backt. Einer Schule mit 200 Kindern bringe ich immer Schafwolle mit, damit sie ihre Umhängetaschen weben können.

José Fernando Martínez wuchs in Cali auf, studierte in der Hauptstadt der Salsa und des Departements Valle del Cauca Ökonomie und stieg in einer Bank bis zum obersten Managment auf.

Nach einer fast zufälligen Bekanntschaft mit der Sierra Nevada de Santa Marta begann er ein neues Leben und zog sich in die unzugänglichen Höhen dieses Küstengebirges zurück. Wenn er sich nicht in seinen Felshöhlen aufhält, arbeitet er an der Publikation eines Bildbandes mit seinen Fotos über die Sierra und ihre BewohnerInnen.

Die Sierra Nevada de Santa Marta ist für die Arhuacos das Herz der Welt, der erhebendste und friedlichste Ort, den ich je gekannt habe, wo sich für mich das Zusammenspiel der Theorien von Einstein, Darwin und dem Wissen der Mamos über den Ursprung und die Entwicklung dieses einmaligen und wunderbaren Universums bestätigte. Immer wieder überzeuge ich mich aufs Neue davon, dass die Erde der überraschendste und schönste Planet ist, den man sich vorstellen kann, mit einer Atmosphäre und einer Sonne, die unserer Existenz und unserer ganzen Umwelt Leben und Farbe verleihen. Im Morgengrauen folge ich dem majestätischen Flug des Kondors in den neuen Tag, erlebe das Mysterium der tiefen Lagunen, und in der Abenddämmerung verfolge ich das letzte Aufleuchten der Sonne, während ein eisiger Wind meinen Körper liebkost, sich der Wasserdampf zu Wolken und zu gefrorenem Regen verdichtet und Schnee auf die schweigenden und erhabenen Gipfel fällt.

Die Menschen, die dieses Gebirge bewohnen, sind vorbildlich und liebenswürdig. Sie leben in Harmonie mit der Mutter Natur, respektieren das Vermächtnis ihrer Vorfahren. Ihre Führer, die Mamos, besitzen die Gabe des Heilens und des Wahrsagens. In ihren Zeremonien an den heiligen Stätten bedanken sie sich für die erwiesenen Wohltaten und bitten um Schutz, Gesundheit und Wohlstand für die Menschen.

Die Frau nimmt im Familiengefüge eine sehr geachtete Stellung ein, obwohl es sich um kein matriarchales System handelt. Von klein auf lernt sie die Tätigkeiten, die sie dann ihr ganzes Leben lang ausführen wird: das Sorgen für die Kinder, das Hüten der Schafe, die Aufsicht über das Feuer, die Zubereitung des Essens und das Weben der wunderschönen mochilas, der Umhängetaschen, die sich zu so etwas wie einem Markenzeichen der Arhuacos entwickelt haben.

Der Mann erledigt die Feldarbeit, er webt seinen Umhang und seine Kopfbedeckung, nimmt an den Versammlungen der Gemeinschaft teil, sammelt Holz. Er führt immer den Poporo mit sich, eine ausgehöhlte kleine Kalebasse, und das Ayu, das Kokablatt. Ein mit Speichel angefeuchtetes Holzstäbchen wird in den mit zerpulverten Kalkmuscheln gefüllten Poporo eingeführt und dann in den mit Kokablättern gefüllten Mund eingeführt. Anschließend wird es am Rand des kleinen Kürbisses gerieben, stundenlang, in meditativer Versunkenheit. Gedanken spinnen, nennen die Einheimischen diese Tätigkeit.

Übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Werner Hörtner.

1) Das höchste Küstengebirge der Welt, deren höchste Gipfel sich in unmittelbarer Nähe der Karibik auf über 5.700 Meter erheben.
2) Hauptstadt des Departements Cesar, Heimatort der berühmten Musikgattung Vallenato.
3) Mamos sind die geistig-religiösen Führer der Arhuacos, beim Nachbarvolk der Kogi Mamas genannt.

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