Der Schatten der Militärdiktatur

Von Margrit Klingler-Clavijo · · 2010/09

Die Jahre der Diktatur und ihre Folgen sind immer noch ein Hauptthema der neuen argentinischen Literatur. Das kreative Land ist heuer in der zweiten Oktoberwoche Gast bei der Frankfurter Buchmesse.

Nach China im Vorjahr ist heuer Argentinien Ehrengast der Frankfurter Buchmesse. Im Rahmen des von Argentinien großzügig geförderten Übersetzungsprojektes „Sur“ wurden bislang über hundert Romane, Erzählungen und Gedichtbände ins Deutsche übertragen: Klassiker der argentinischen Dokumentarliteratur wie Osvaldo Bayers „Aufstand in Patagonien“, Rodolfo Walshs „Das Massaker von San Martín“ nebst einer Fülle von Romanen, Erzählungen und Gedichtbänden zeitgenössischer Autoren. Eine gute Einführung in die argentinische Literatur der letzten zweihundert Jahre bietet „Der Vorabend aller Pracht“, der von Michi Strausfeld herausgegebene Band 238 der Zeitschrift „Die Horen“.

Die heutige Literatur Argentiniens überzeugt durch formale Experimentierfreudigkeit und brisante sozialpolitische Themen wie Militärdiktatur, Wirtschaftskrise von 2001, Flucht und Migration zwischen Alter und Neuer Welt: Menschen, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Judenpogromen in Ost- und Mitteleuropa zu entkommen versuchten (u.a. Edgardo Cozarinsky), AntifaschistInnen aus Spanien, Italien und Deutschland, die vor der Diktatur eines Hitler, Franco oder Mussolini flohen (u.a. Antonio dal Massetto). Regimegegner, die vor der Diktatur ins Ausland flüchteten. Erzählt wird all dies einmal nüchtern und sachlich wie bei den Ermittlungen in einem Gerichtsverfahren, dann wieder spannend wie im Krimi, der wegen seiner sozialkritischen Aspekte eine beeindruckende Renaissance erfährt, oder mit sichtlicher Freude am ausufernden Fabulieren, an fiktiven Spielereien. Ricardo Piglia, Alan Pauls, Marcelo Figueiras etc. sind gesuchte Drehbuchautoren und zugleich erfolgreiche Romanciers.

Das Hauptthema der argentinischen Literatur ist jedoch immer noch die Auseinandersetzung mit der Militärdiktatur von 1976 bis 1983 und ihren Folgen. In Romanen wie „Purgatorio“ des im vergangenen Jänner verstorbenen Tomás Eloy Martínez oder „Alle Lügen“ von Alberto Manguel wird aus dem Exil in den USA oder Spanien Rückschau gehalten, sich an Staatsterrorismus und Folter erinnert. Darum geht es auch in Elsa Osorios Erzählband „Sackgasse mit Ausgang“ oder Guillermo Martínez’ „Der langsame Tod der Luciana B“. Jüngere SchriftstellerInnen wie Laura Alcoba, Martin Kohan, Marcelo Figueiras schreiben über verwirrende Kindheitserlebnisse oder hinterfragen wie Maria Teresa Andruetto die weibliche Sozialisation. Gut ein Drittel der im Rahmen von „Sur“ übersetzten Werke handelt von der Aufarbeitung der Militärdiktatur. „Verschwunden“ nennt sich das von Germano Gustavo herausgegebene Fotoprojekt mit Erzählungen und Gedichten zeitgenössischer Schriftsteller. Weltweite Unterstützung fand die Suche des in Mexiko lebenden argentinischen Dichters Juan Gelman nach seiner verschwundenen Enkelin Macarena. Dessen Sohn Marcelo und seine damals hochschwangere Ehefrau Maria Claudia wurden entführt und ermordet, Marcelo direkt nach der Festnahme, Maria Claudia nach der Geburt ihrer Tochter. Die wurde, wie damals üblich, zur Adoption frei gegeben. Von Gelman erscheint in diesem Herbst der zweisprachige Band „Welten“ mit 121 Gedichten. „Wo schweigst du, Gedächtnis? / Wo erinnerst du dich an dich selbst / dem Henker nachstellend, um ihn / zu töten, so wie er dich tötete?“ heißt es in dem Gedicht „Höflichkeiten“.

Die Eröffnungsrede zur Buchmesse wird Griselda Gambaro halten, eine renommierte Dramaturgin und Romanschriftstellerin, die während der Militärdiktatur in Barcelona im Exil lebte, im deutschsprachigen Raum aber kaum bekannt ist.

Welchen Wert hat das geschriebene Wort? Wie ergeht es achtzehn Schriftstellerinnen, denen man ihre Werke gestohlen, den Zugang zur Bibliothek verwehrt hat, nachdem das Schiff, auf dem sie unterwegs waren, von Terroristen gekapert wurde? Soweit das Ausgangsszenarium von Luisas Valenzuelas Roman „Morgen“. Erzählungen von Angélica Gorodischer, schräge Kindheitsgeschichten von Norah Lange, Bestsellerromane wie Claudia Piñeiros „Die Donnerstagswitwen“, Samanta Schweblins verstörende Erzählungen „Die Wahrheit über die Zukunft“ zeigen, dass schreibende Frauen den Literaturbetrieb in Argentinien stark mitgestalten.

Wer die produktive Verunsicherung, die anregende und intelligente Unterhaltung liebt, die Mischung von scharfsinnigen Beobachtungen, kühnen Träumen und Halluzinationen, kommt nicht um Ricardo Piglia herum, einen der produktivsten und genialsten Erzähler, Literaturkritiker und Drehbuchautoren des Landes. In seinem eben erschienenen Roman „Ins Weiße zielen“, einem packenden, in der Pampa angesiedelten Wirtschaftskrimi, geht es um ein hochaktuelles Thema: Hat der Einzelmensch überhaupt noch Gestaltungsspielraum angesichts einer globalen Wirtschaftspolitik?

„Die Frage: ‚Was ist ein Leser?’ ist definitiv die Kernfrage der Literatur“, schreibt Piglia in seiner Essaysammlung „Der letzte Leser“, einer ebenso wahren wie fiktiven Geschichte des Lesens. Wer sich an die argentinische Literatur wagt, wird leicht zum Nimmersatt, der ein Buch nach dem anderen verschlingt.

Margrit Klingler-Clavijo promovierte in mexikanischer Literatur. Sie lebt als freie Journalistin und Literaturkritikerin sowie Übersetzerin aus dem Spanischen und Portugiesischen in Frankfurt/M.

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