Der Traum vom freien Leben

Von Vera Faber und Werner Jester · · 2001/12

Nach zwei Jahrzehnten Mullah-Herrschaft sind die Menschen im Iran hungrig nach Neuem, nach dem westlichen Lebensstil. Sie nutzen die vorsichtige Öffnung, um den spärlichen ausländischen Gästen ihr Leben näher zu bringen und gegen die im Ausland herrschenden Vorurteile anzukämpfen.

Ruckartig bleibt der weiße Paykan stehen: wieder den falschen Gang eingelegt! Der Fahrer heißt Reza Mohammadi, den Wagen hat er eben erst von seinem Vater bekommen. „Mit echtem Peugeot-Motor“, verkündet er stolz und liebkost das blank polierte Chassis. Ausgefahren wird nur am Freitag, und heute ist Freitag.
Die Straße ist voll mit weißen Paykans, jeder gleicht wie ein Ei dem anderen: vorne sitzen die Männer, hinten die Frauen, verhüllt unter dem schwarzen Tschador. Das Ziel heißt raus aus der Stadt, zum Meer, in die Berge, aufs Land. Für Ahmed und seine Familie ist es ein ganz besonderer Tag, denn sie haben Besuch, zwei Gäste aus Europa. Übereifrig versuchen sie in kürzester Zeit, sämtliche im Umkreis liegenden Sehenswürdigkeiten abzuklappern. Stolz präsentieren sie eine Teefabrik, ein altes Hotel, einen einst florierenden Kurort am Kaspischen Meer, ein ehemaliges Casino. Angehalten wird nicht, meist nur vorbeigefahren.
Die Teefabrik ist Arbeitgeber für die ganze Region, das alte Hotel hat seine besten Zeiten lange hinter sich und das einst weltbekannte Casino wurde nach der Revolution geschlossen. Vergnügungen dieser Art sind heute nicht erlaubt.
Am Strand tummeln sich unzählige Menschen. Weit ins Meer hinausreichende Planen sollen am Frauenstrand die Blicke der Männer abhalten. Die Badesaison ist aber offiziell noch nicht eröffnet, der Frauenbereich nicht in Betrieb. Mit Verwunderung beobachte ich Frauen, die komplett bekleidet mit Tschador und Schuhen ins Wasser steigen.

Reza arbeitet in der Bäckerei seines Vaters. Brot ist eines der Hauptnahrungsmittel, der Mehlpreis staatlich massiv gestützt. Der Arbeitsplatz ist krisensicher, und die Familie genießt hohes Ansehen in dem kleinen Dorf am Kaspischen Meer. Ein schönes Haus, kostbare Teppiche und ein Auto als Statussymbole. Seine Schwester Ashraf hat es nicht ganz so gut. Sie führt gemeinsam mit der Mutter den Haushalt, eine Anstellung kann sie nicht finden. Früher unterrichtete sie kleine Kinder in einer Grundschule, die Arbeit machte ihr großen Spaß, sie fühlte sich bestätigt.
Zu gerne würde sie wieder arbeiten, aber es geht ihr wie vielen anderen: keine Aussicht auf Arbeit, keine Perspektiven. Die Arbeitslosigkeit im Iran beträgt 30 bis 40 Prozent, davon sind vor allem Frauen betroffen.
Zwei Drittel der Bevölkerung sind unter 25. Es fehlt nicht nur an Arbeitsplätzen, auch der Infrastrukturausbau kann nicht Schritt halten. Es mangelt an Wohnungen, Krankenhäusern und Schulen.
Die angespannte Arbeitsmarktsituation, aber auch tief greifende gesellschaftliche Veränderungen haben dazu geführt, dass im letzten Unterrichtsjahr 60 Prozent der iranischen Universitätsstudenten weiblich waren: Mädchen heiraten später. Mit Unterstützung der schiitischen Geistlichkeit wird die Zwei-Kinder-Familie propagiert, und die Familienplanung beginnt zu greifen. Der Bevölkerungszuwachs wurde von fast 4 % vor 1986 auf 1,47 % (1999) gebremst; Tendenz weiter fallend.

Frauen haben aber nicht nur Arbeitsplatzprobleme. Für Ashraf ist es nicht leicht, den richtigen Partner zu finden. Ständig versteckt unter dem Tschador, verbietet die Religion jeden Kontakt zu fremden Männern. Ein Kennenlernen scheint unmöglich. Mit knapp 30 Jahren ist sie noch unverheiratet, und das bedeutet in einem Land, in dem das heiratsfähige Alter der Frauen auf 13 gesenkt wurde, übrig geblieben zu sein.
Trotzdem nimmt Ashraf voller Stolz den Tschador, wenn sie außer Haus geht. Als gläubige Muslimin sei dies ihre Pflicht, sagt sie, ebenso wie das Gebet, das sie mehrmals täglich verrichtet. Die eingeschränkten Rechte der Frau bestehen eben, sie habe damit kein Problem, außerdem mehren sich die Zeichen einer allmählichen Änderung: Zahlreiche Frauenzeitschriften bemühen sich um neue, sozialere Interpretationen islamischer Rechtsquellen und werden dabei sogar teilweise von Geistlichen unterstützt.
An eine rasche, revolutionsartige Änderung herrschender Verhältnisse glaubt Ashraf wie viele andere IranerInnen jedoch nicht. Dafür sitzen die Mullahs zu fest im Sattel, dafür hat das Land nach der Revolution 1979, nach zehnjährigem Krieg und andauernder internationaler Isolation zu sehr gelitten.
Doch die Zeitbombe der Veränderung tickt, das meint auch Herr Farjami. Überrascht hält er sein Moped an, als er uns im Park des Provinzstädtchens Gorgan erblickt. Die fruchtbaren Ebenen am Kaspischen Meer sind längst den Ausläufern der turkmenischen Steppe gewichen und die Sonne brennt mit all ihrer Kraft. Die kleine Stadt im nordöstlichen Zipfel des Landes hat touristisch nichts zu bieten. Ausländer hat der Mittelschullehrer hier zuvor noch nie gesehen. Höchstens ein paar afghanische Flüchtlinge und turkmenische Händler kommen hierher.
„How do you like Iran?“ Diese Frage lässt sich besser bei ihm zu Hause erörtern, also kommen wir mit. Die Frau empfängt uns an der Tür. Ihr kurzes, gelocktes Haar trägt sie offen, auch vor fremden Männern. Zuhause ist zuhause, und draußen eine andere Welt. Schnell schließt eine junge Frau das Gartentor hinter sich, legt Kopftuch und Mantel ab. Schweißperlen rollen über ihr Gesicht. Die Tochter der Familie kommt von der Arbeit im Krankenhaus zurück. In ihrem ärmellosen, langen Sommerkleid wirkt sie spindeldürr und zerbrechlich. Im Sportstadion für Frauen trimmt sie sich leicht bekleidet fit. Viele iranische Frauen legten keinen Wert auf Körperkultur, ließen sich unter dem Tschador gehen, kritisiert sie.
In der Garage vor dem Haus steht der ganze Stolz der Familie. Frisch poliert funkelt ein Peugeot Jahrgang 76 im Schein des Abendlichts. Von seiner einzigen Europareise hat Herr Farjami ihn mitgebracht, er selbst lenkte ihn vom fernen Ruhrgebiet bis nach Gorgan. Das war früher, als sein Land noch gute Beziehungen zum Westen hatte, als Europareisen noch selbstverständlich waren und ein reger Austausch der Kulturen stattfand. Das war zur Zeit des Schahs. Seitdem hat sich vieles verändert und bei weitem nicht alles zum Schlechteren.
Die Familie ist nicht sehr religiös, Frau Fajami gehört überdies der armenischen Kirche an, die wie andere christliche Kirchen staatlich anerkannt ist. Dennoch, in der Öffentlichkeit wird brav mitgespielt, was Kleidervorschriften und Umgangsformen betrifft. Die eigene Zukunft und vor allem die der Kinder soll nicht verbaut werden.
Während die Tochter den Tee ausschenkt, klagt Herr Farjami sein Leid: Der Westen habe ein falsches Bild von seinem Land, die Iraner seien keine radikalen, bewaffneten Fundamentalisten. Es ist ihm wichtig, uns seine Familie zu zeigen, das normale iranische Leben. Wenn die Europäer das erst kennen lernten, würden sie schnell ihre Meinung ändern, ist er sich sicher.
Wenn von Zukunft die Rede ist, fällt immer wieder der Name Khatami. Er steht für die Hoffnung auf eine langsame Öffnung des Landes und auf individuelle Freiheiten. Eine friedliche, stille Revolution ohne große Opfer ist die Vision vieler Menschen im Iran.

Visionen hatte und hat auch Hamild Mortazavi, ein junger Mann, der uns ein Quartier offeriert, als wir nach dem nächsten Hotel fragen. Er begegnet uns in einem Dorf auf dem Weg vom immergrünen kaspischen Küstenstreifen durch die Schluchten des Alborzgebirges Richtung Teheran.
Die steil ansteigenden Bergflanken bieten beste Voraussetzungen für regelmäßige, mitunter heftige Niederschläge. Sattes Grün prägt die Landschaft. Tee, Reis, Pistazien und Zitrusfrüchte sät, pflegt und erntet man hier in Handarbeit.
Eine der Reis-Parzellen gehört Hamild. Er arbeitet aber nicht selbst, sondern hat sein kleines Stückchen Land verpachtet. Die Hälfte des Ertrages behält er sich ein, das muss zum Leben reichen. Er hat einen Uni-Abschluss in Englischer Literatur. Wie so viele Akademiker hat er keine Aussicht auf eine adäquate Anstellung.
Hamild erzählt uns von seinem Plan, den er während seines Dolmetscher-Einsatzes im Golfkrieg geschmiedet hatte. Er verkaufte die Hälfte seines Landes, die Erbschaft seiner Eltern, verwendete alle Energie auf die Flucht aus einem Land, in dem er nicht mehr leben wollte. Die Route stand fest: über die Türkei nach Mitteleuropa und dann weiter nach Kanada. Unterstützung beim ersten Grenzübertritt erkaufte er sich von einer Schlepperorganisation. Eine Polizeikontrolle in Ostanatolien ließ den Traum von Freiheit und Wohlstand jäh platzen. Die Abschiebung ging ruck, zuck, das ganze Geld war weg. Es blieb ihm nur der Weg retour in sein vergessenes Nest zu den biederen gottesfürchtigen Menschen, wie er sagt. Sein Haarschnitt, die cool ins Haar gesteckte Sonnenbrille oder sein T-Shirt passen so gar nicht in diese Welt. Meistens träumt er von einem neuen Leben, frei von rigiden Vorschriften und Einschränkungen.
Angesichts der Schlagzeilen der letzten Wochen versteht man, dass Hamild kein Einzelfall ist. Hunderttausende junge Leute ziehen nach Fußballspielen feiernd durch die Städte, Frauen legen demonstrativ ihre Schleier ab. Von einer Erosion der Macht der Mullahs ist die Rede. Die allerorts trotz Verbot sichtbaren Satellitenschüsseln, Computer mit Internetzugang und Videocassetten mit den neuesten Hollywoodfilmen tun das ihre, um die Antiquiertheit des Systems sichtbar zu machen.


Onécimo Hidalgo Domínguez arbeitet als Forscher und Pädagoge am „Zentrum für Analyse, Forschung und Kommunikation“ (CIEPAC) in San Cristóbal, Chiapas, und unterrichtet als Soziologe an der Universität Chiapas. (CIEPAC gibt auch ein Informationsbulletin heraus, siehe www.ciepac.org.)
Er war auch als Berater der CONAI tätig, der Friedenskommission des früheren Bischofs Samuel Ruiz.

Vera Faber, geboren in Innsbruck, arbeitet als Photographin und Graphikdesignerin in Wien. Werner Jester, geboren in Lienz, Studium der Kulturtechnik und Wasserwirtschaft, arbeitet zur Zeit als Forschungsassistent an der Universität für Bodenkultur.

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