Die gefräßigen kapitalistischen Schafe

Von Gerald Faschingeder und Andreas Novy · · 2005/11

„Entwicklung für alle“ bedeutet auch einen anderen Umgang mit Eigentum. Der globale Siegeszug eines wild gewordenen Kapitalismus wurde mit System durch Jahrhunderte hindurch aufgebaut.

Das abendländische Denken entsprang im Mittelmeerraum, entwickelte sich in Europa und wird heute von den USA als einziger Weltmacht auf ihre Weise gedeutet und verteidigt. Unser Denken prägt die Köpfe weltweit: In Wirtschaft, Kultur und Politik entkommt kein Land der Welt der abendländischen Weltsicht. Dies verdankt sich der Jahrhunderte langen wirtschaftlichen und militärischen Überlegenheit Europas und der der USA seit dem 20. Jahrhundert. Die wirtschaftliche Überlegenheit ergab sich aus der kapitalistischen Entwicklung, die Eigentum an Produktionsmitteln in der Hand Weniger konzentrierte, um größtmöglichen Reichtum zu erzielen. Unglaublicher Wohlstand und schreckliche Verarmung kennzeichnen die kapitalistische Entwicklung von ihren Ursprüngen bis heute.
Die englische Textilindustrie brauchte Arbeitskräfte und Wolle. Deshalb eigneten sich geschickte Kaufleute das Gemeindeland an und zäunten es ein. Kommunales Land wurde privatisiert. Fortan grasten dort die Schafe. Thomas Morus beschrieb in seiner „Utopia“ die menschliche Tragödie, die dies zur Folge hatte: „Die Schafe, einst so sanft und genügsam, sind wild und raubgierig geworden, dass sie sogar Menschen fressen, Felder, Gehöfte und Dörfer verwüsten und entvölkern. Denn überall, wo feinste Wolle erzeugt wird, sind Edelleute und Äbte nicht mehr mit den jährlichen Einkünften und Erträgnissen zufrieden, die ihren Vorgängern aus den Landgütern erwuchsen. Die Wolle bringt ihnen viel höheren Gewinn als das Korn. So verwandeln sie das Ackerland in Viehweiden, die sie einhegen.“
Schafe fraßen Menschen, aber die neuen Produktionsmethoden ermöglichten eine Steigerung der Produktion, die England zum Weltmarktführer werden ließen, nachdem es die florierende indische Textilindustrie mit Gewalt zerstört hatte. Was in England vor Jahrhunderten stattfand, wiederholt sich bis heute. Bäuerinnen und Bauern werden von ihrem Land verdrängt, damit die Agroindustrie effizient produzieren kann. Auch heute noch werden Katastrophen wie der Tsunami genutzt, um unliebsame EigentümerInnen mit Hilfe korrupter RichterInnen von ihrem angestammten Land zu vertreiben. Der Kampf um Eigentum ist ein Kampf, bei dem die Schwachen nur zu oft verlieren. Ohne Rechtsanwälte und durch Bestechung bleiben ihre Ansprüche häufig auf der Strecke.
Heute wird der Erfolg kapitalistischer Marktwirtschaften wesentlich auf das Privateigentum zurückgeführt. Seit dem Scheitern des Staatssozialismus in Osteuropa und der Sowjetunion und dem Ende der nationalstaatszentrierten Entwicklungsmodelle an der Peripherie gilt es als unbestritten, dass Entwicklung nur durch den Schutz des Privateigentums möglich ist. Die OECD wollte sogar so weit gehen, den Schutz von Investitionen ganz allgemein über die nationalen Gesetze zu stellen. Einzig wegen des unerwartet breiten Protests stellte die OECD diese Idee vorübergehend zurück. Noch können nationale Regierungen für Investitionen im eigenen Land weiterhin demokratische Regeln festlegen – wenn sie sich dies angesichts der realen Macht der Investoren trauen.
Europa exportierte sein Konzept von Eigentum weltweit. Im antiken Griechenland war Privateigentum Voraussetzung, um Bürger zu sein. Stadtbewohner wurden zu Bürgern, weil sie besitzend, frei und männlich waren. Die Arbeitenden, SklavInnen und Frauen waren als Eigentumslose vom öffentlichen und politischen Leben ausgeschlossen. Perikles, Aristoteles und Platon schufen eine Zivilisation, auf der unser Denken und Leben bis heute aufbaut. Die Mehrheit blieb von dieser Welt der Politik, der Kunst und der Philosophie ausgeschlossen; sie mussten arbeiten und den Reichtum der Wenigen gewährleisten.

Niemand will heute die Welt der Antike wieder beleben. Doch es gibt viele, deren Vision einer gerechten Welt darin besteht, eine Gesellschaft von KleineigentümerInnen zu schaffen, in der alle Privateigentum besitzen. Diese Vision verlockte nicht nur Liberale, sondern auch AnarchistInnen und utopische SozialistInnen, denn ein Raum für sich, ein Eigenheim oder gar ein Stück Land zum Bebauen gilt Vielen als Ort der Sicherheit. Dies umso mehr, je unsicherer die Welt erscheint.
Ein Eigenheim zu haben, ist in Wien und Lima, in New Orleans und Mumbai gleichermaßen für viele der große Lebenstraum. Eigene vier Wände, die mir gehören und in denen mir niemand hineinreden kann. Ein privater Raum, in den ich mich zurückziehen kann. Ein Ort, an dem ich bleiben kann, selbst wenn ich kurzfristig arbeitslos werde. Dementsprechend groß sind die Opfer, die für ein Eigenheim in Kauf genommen werden: jahrelanges Arbeiten am Wochenende, jahrzehntelanges Abzahlen von Krediten, Nachbarn und Verwandte, die helfen. Kreativ sind die Methoden, mit denen selbst Menschen ohne großes Einkommen versuchen, ihr eigenes Heim zu schaffen.
Viele Programme der Entwicklungszusammenarbeit, von Mikrokrediten bis zur KleinunternehmerInnen-Förderung gehen von der Vision einer Eigentümergesellschaft aus. Die vergleichende Entwicklungsforschung hat zum Beispiel festgestellt, dass die Form des Eigentums eine wichtige Erklärung für die unterschiedlichen Entwicklungspfade in Nord- und Südamerika darstellt. In Nordamerika nutzte die Regierung das freie Land im Westen dazu, Pioniere zu Eigentümern zu machen. In den USA entstand eine Bauernschaft und später auch lokales Gewerbe. In Südamerika jedoch vergab der Staat das Land vor allem an Günstlinge des Hofes. Bis heute ist die Landeigentumskonzentration eine der Ursachen ungleicher Entwicklung. Kleinbauern, Kleingewerbe und Kleinhandel blieben der Macht der Großen, die eng mit der Staatsmacht verbunden sind, ausgeliefert.

Die Vision einer Eigentümergesellschaft steht in einem Spannungsverhältnis zur Logik kapitalistischen Wirtschaftens. Die großen Entwicklungsschübe verdanken sich den Produktivitätszuwächsen in großen Produktionsverbänden. Nicht die Autowerkstatt im Hinterhof, sondern Autokonzerne produzieren Autos. Nicht indische Biochemikerinnen, sondern Monsanto patentiert verschiedenste Formen von Leben. Nicht im Weltladen stehen die KundInnen Schlange, sondern in den Filialen weniger Ketten, die vermehrt auch Standorte an der Peripherie eröffnen. Die ungeheure Warenvielfalt des Kapitalismus entstand wegen der Konzentration und Zentralisierung des Eigentums an Produktionsmitteln. Kapitalismus braucht und fördert Großbetriebe. Konzerne sind die zentralen Wirtschaftsakteure. Hinter den Kulissen stellen sie wesentliche Weichen für die Weltentwicklung.
Heute wird ein uneingeschränkter Schutz des Privateigentums gefordert. Dabei beruht unser Fortschrittsbegriff auf Enteignung: Keine Straße könnte ohne Enteignungen, auch unfreiwillige, errichtet werden. Im deutschen Grundgesetz steht daher zu Recht: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen“. Damit orientiert es sich an der kirchlichen Soziallehre, die von der Sozialpflicht von Eigentum spricht.

Das Recht auf Privateigentum kann nicht uneingeschränkt gelten. Privatbesitz, um private Nutzung zu gewährleisten, ist anders zu behandeln als Privateigentum an Produktionsmitteln für die eigene Produktion und kapitalistisches Privateigentum, sei es an Aktien, Schuldscheinen oder an Unternehmungen. Darüber hinaus liefert das abendländische Denken interessante Ansatzpunkte für alternative Formen von Eigentum wie die Genossenschaftsbewegung und Selbsthilfeorganisationen. Schließlich gibt es auch nicht-europäische Formen von Eigentum. „Wie kann man den Himmel kaufen oder verkaufen oder die Wärme der Erde? Diese Vorstellung ist uns fremd“, sagte der Häuptling Seattle in seiner berühmten Rede 1855. Private und kollektive Besitz- und Nutzungsrechte jenseits des absoluten Rechts auf Eigentum waren in vielen nicht-europäischen Gesellschaften erprobte Formen gemeinschaftlichen Zusammenlebens. Für jede Region und jede Gesellschaft gilt es, die passenden Formen von Nutzungs-, Besitz- und Eigentumsrechten zu finden, um Entwicklung für alle zu ermöglichen.


Autoren:
Gerald Faschingeder ist Direktor des Paulo Freire Zentrums und Koordinator der 3. Österreichischen Entwicklungstagung.
Andreas Novy, ao. Prof. an der Abteilung für Stadt- und Regionalentwicklung der Wirtschaftsuniversität Wien, ist Obmann des Mattersburger Kreises für Entwicklungspolitik und wissenschaftlicher Leiter des Paulo Freire Zentrums (www.pfz.at).

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