Die Gunst der Stunde

Von Heiner Busch · · 2002/04

Die Europäische Union benutzt die Terroranschläge in den USA, um ihr Repressionsinstrumentarium zu erweitern – gegen militante Opposition und unerwünschte Einwanderung.

Wären wir VerschwörungstheoretikerInnen, dann hätten wir seit dem letzten September ausgezeichnetes Futter für unsere Wahnvorstellungen: Wir könnten behaupten, die Regierungen der „zivilisierten“ westlichen Welt hätten die Anschläge in den USA selbst inszeniert, um endlich eine Rechtfertigung für lang gehegte Pläne zu haben – nicht nur für „Kriege gegen den Terror“ in geostrategisch wichtigen Regionen, sondern auch für den Abbau von Bürgerrechten unter dem Stichwort „Innere Sicherheit“.
Gerade eine Woche brauchte die EU-Kommission, um dem Ministerrat nach den Anschlägen in den USA erste Vorschläge für die Terrorismusbekämpfung zu machen. Einer der Hauptpunkte war der so genannte „europäische Haftbefehl“, der das bisher geltende Auslieferungsrecht im Rahmen der EU über den Haufen wirft. Die gesuchte Person wird nicht mehr ausgeliefert, sondern dem Staat, der den Europäischen Haftbefehl angeordnet hat, „übergeben“. Die gerichtliche Entscheidung in dem Staat, in dem die Festnahme erfolgte, wird auf eine bloße Haftprüfung reduziert. Ein Auslieferungsverfahren findet nicht mehr statt. Damit ist nicht nur der besondere Schutz für politisch motivierte StraftäterInnen endgültig dahin, auch eine Prüfung, ob der/die Betroffene nicht möglicherweise nach der Übergabe Folter oder erniedrigende Behandlung zu erwarten hat, findet in Zukunft nicht mehr statt. Der Rechtsschutz wird abgebaut, ohne dass auf der anderen Seite Verteidigungsrechte gestärkt würden.


Das Projekt lag schon länger in der Schublade. Es ist Teil der straf- und strafprozessrechtlichen Harmonisierung, die sich die EU seit dem Amsterdamer Vertrag offiziell auf ihre Fahnen geschrieben hat. Auf dem Sondergipfel zur Innen- und Justizpolitik in Tampere im Oktober 1999 hatte der Europäische Rat ein dickes Paket von Empfehlungen geschnürt, mit dem sich die MinisterInnen und ihre Arbeitsgruppen schwer taten. Seit dem Elftenseptember*) geht alles leichter. Ein „Anti-Terror-Fahrplan“ mit insgesamt 64 Punkten macht den Umgang mit dem Recht noch einfacher als bisher.
Die seit fast zwei Jahren bestehende Task Force der Polizeichefs hat zwar immer noch keine rechtliche Grundlage, dafür aber jetzt in Punkt 34 des Fahrplans einen Auftrag des Rates. Am 20. September setzte der Rat eine weitere Task Force ein, die die Chefs der Inlandsgeheimdienste zusammenbringt. Enger kooperieren sollen auch die militärischen Schlapphüte.
Der lange Streit um die Frage, ob für die Teilnahme des europäischen Polizeiamtes Europol an gemeinsamen Ermittlungsgruppen eine ratifizierungsbedürftige und damit zeitraubende Änderung der Europol-Konvention nötig sei, ist zur Makulatur geworden. Sofortmaßnahmen sind gefragt. Bei den Eurocops in Den Haag arbeitet seit September eine solche Gruppe, der nicht nur polizeiliche, sondern auch geheimdienstliche Verbindungsbeamte aus den Mitgliedstaaten angehören. Sie soll alle relevanten „Erkenntnisse“ über die terroristische Bedrohungslage zusammenfassen und sich – natürlich – eng mit den US-Behörden austauschen.
Das ging zunächst nur informell. Erst am 6. Dezember unterzeichnete Jürgen Storbeck, der Direktor von Europol, ein eiligst ausgehandeltes Abkommen mit dem US-Justizministerium über den Austausch von Verbindungsbeamten und die Weitergabe „strategischer“ (d.h. nicht personengebundener) Informationen. Die Weitergabe von Daten über „identifizierbare“ Personen wird Gegenstand eines zweiten Abkommens. Allerdings hapert es dabei mit dem Datenschutz, der bei Europol eine blumige Floskel, in den USA aber ein europäisches Fremdwort ist.
Die Europäer, so forderte der US-Präsident am 16. Oktober in einem Brief an die EU-Kommission, sollten ihre Datenschutzbestimmungen überdenken. Bush jun. möchte seinen Staat auch an den EU-Haftbefehlen teilhaben lassen. In jedem Falle sollten die Europäer über „Alternativen zur Auslieferung“ reflektieren. Ausweisungen und Abschiebungen auf dem administrativen Wege seien „effizienter“. Vom US-Standpunkt aus ist das sicher richtig, denn kein Gericht eines EU-Staates dürfte eine Person in die USA ausliefern, der dort die Todesstrafe droht – und das ist bei Terrorismusbeschuldigten der Fall.
Was aber ist Terrorismus? Bisher kennen nur sechs EU-Staaten einen Straftatbestand, der der „terroristischen Vereinigung“ im § 129a des deutschen Strafgesetzbuchs vergleichbar wäre. Solche Organisationsdelikte erleichtern nicht nur die Beweisführung und die Rechtshilfe, sondern auch die Ausforschung politischer GegnerInnen im Vorfeld von Strafuntersuchungen – dies vor allem dann, wenn wie in Deutschland auch die Unterstützung und Werbung für solche „Vereinigungen“ unter Strafe stehen. Im Dezember 1998 hatte der Rat bereits eine gemeinsame Maßnahme verabschiedet, nach der alle Mitgliedstaaten eine strafrechtliche Norm gegen „kriminelle Organisationen“ einführen sollten. Am 6. Dezember 2001 hat er zusätzlich einen gemeinsamen Terrorismus-Begriff beschlossen.

Terrorismus wird darin vor allem über einen Straftatenkatalog definiert. Zu diesem gehören erstens eine Reihe schwerer Straftaten wie Mord, Entführung oder Geiselnahme. Zweitens enthält der Begriff die „terroristische Vereinigung“. Unter Strafe zu stellen seien das Anführen, die Beteiligung an, die Förderung und die Unterstützung einer solchen Gruppe. Mit diesem Rahmenbeschluss, der von den Mitgliedstaaten ins nationale Strafrecht umzusetzen ist, macht die EU definitiv den Schritt zu einem gemeinsamen politischen Strafrecht.
Damit aber nicht genug. Als Terrorismus gewertet werden können drittens auch „die widerrechtliche Inbesitznahme oder Beschädigung von öffentlichen Einrichtungen, Regierungsgebäuden, der Infrastruktur, von allgemein zugänglichen Orten oder (öffentlichem und privatem) Eigentum“. Ist Usama bin Laden zu den Hausbesetzern gewechselt? Ist er ein militanter Atomkraft-Gegner, der Strommasten umsägt? Sicherlich nicht. Die Bestimmung ist auch nicht auf ihn gemünzt, sondern auf die politischen Protestbewegungen, mit denen die EU-Staaten im letzten Jahr in Göteborg und Genua zu tun hatten. Darüber können auch die beschwichtigenden Formulierungen in der Präambel des Beschlusses nicht hinwegtäuschen.
Für die Skeptischen, hier zwei weitere Beweise: Am 29. Januar unterbreitete die spanische Präsidentschaft der Terrorismus-Arbeitsgruppe des Rates den Vorschlag eines Standardformulars für den Nachrichtenaustausch über „terroristische Vorkommnisse“. Kommunizieren will man u.a. über „Gewalt und kriminelle Schädigungen bei EU-Gipfeltreffen und anderen Ereignissen, die orchestriert werden von radikalen extremistischen Gruppen, die klar und deutlich die Gesellschaft terrorisieren“. Sie seien das „Werk eines lockeren Netzwerkes … von Organisationen, die ihren legalen Status dazu benutzen, um terroristischen Gruppen die Erreichung ihrer Ziele zu erleichtern“.

Bereits im Oktober letzten Jahres bemühte sich die damals belgische Präsidentschaft um eine neue Kategorie von Daten im Schengener Informationssystem (SIS): „violent troublemakers“, deren Teilnahme an „Ereignissen“ man verhindern wolle, im Klartext: Fußballfans, aber auch „gewalttätige Demonstranten“. Der belgische Vorschlag stützte sich auf Punkt 45 des Anti-Terror-Fahrplans, gemäß dem der Input ins SIS zu verbessern sei.
Schon 1996, als der Anschluss Österreichs an das SIS zu technischen Problemen führte, hatte der damalige Schengener Exekutivausschuss den Umbau des Systems zu einem SIS der zweiten Generation beschlossen. Nachdem man sich zwischenzeitlich mit einer technischen Krücke, einem „SIS eins plus“, beholfen hatte, wurden Mitte 2000 die Planungen für das SIS 2 in Angriff genommen.
Seit 1995 liegt bei den Personendaten des angeblichen Fahndungssystems (derzeit 1,9 Millionen) der Anteil der keiner Straftat verdächtigen Nicht-EU-BürgerInnen, die zur Zurückweisung an den Grenzen oder zur Abschiebung ausgeschrieben sind, zwischen 80 und 90 Prozent. Der belgische Vorschlag von Oktober 2001 brächte hier einen Overkill: Nicht-EU-AusländerInnen sollten gleich bei der Visumvergabe bzw. bei der Einreise im SIS erfasst werden. Der Eintrag, so die Überlegung des damaligen EU-Vorsitzes, bliebe blind, nicht abrufbar, bis das Visum abläuft. Wenn die Person nicht fristgerecht ausreisen würde, sollte die Ausschreibung automatisch aktiviert werden. Ziel des Ganzen: „Kontrolle der Migrationsströme“. Was hat das mit Terrorismusbekämpfung zu tun?
Man muss kein Verschwörungstheoretiker sein, um zu verstehen, dass der Elfteseptember als Pauschallegitimation für alle nur erdenklichen Verschärfungen der „inneren Sicherheit“ dient. Verfassungen und feierlich verkündete Grundrechte-Chartas sind bloße Sahnehäubchen. Man kann sie unterrühren oder, wenn’s einem zu fett wird, mit dem Löffel abheben.

Heiner Busch ist Redakteur und Mitherausgeber von Bürgerrechte & Polizei/Cilip in Berlin. Zuletzt erschien von ihm das Buch „Polizeiliche Drogenbekämpfung – eine internationale Verstrickung“, Verlag Westfälisches Dampfboot 1999.

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