Die Rückkehr der Hoffnung

Von Antje Krüger · · 2004/04

Vor einem Jahr noch hatte niemand in Argentinien eine Vorstellung, wie und ob überhaupt dieses Land aus seiner abgrundtiefen Krise zu retten sei. Néstor Kirchner, die Verlegensheitslösung, um nicht dem korrupten Partei-„Freund“ Carlos Menem neuerlich die Macht zu überlassen, hat das Unglaubliche erreicht: Argentinien befindet sich wieder im Aufbruch.

Von allen Seiten greifen die Hände nach ihm. Eine Frau hält ihn umarmt, ein Kind streichelt das schüttere, graue Haar. Fast erdrücken sie ihn. Ihn, den Mann mit den schiefstehenden, etwas schielenden Augen, dem kleinen Mund und der gekrümmten Nase, der sich an kein Protokoll hält, der seine Krawatten an die Arbeiter verschenkt, wenn sie ihn darum bitten. Den Herren mit dem Sprachfehler, dem die Worte holpernd von den Lippen kommen, dessen Reden weder glatt noch schön, dafür aber Klartext sind. Ihn, der den Kontakt selbst mit den Ärmsten nicht scheut, ja, dem das Bad in der Menge die tägliche Luft zum Atmen scheint. Nein, er ist kein Superstar, kein Popidol. Auch wenn der Applaus der Massen es suggeriert. Noch im Mai letzten Jahres haben bei den Präsidentschaftswahlen nur 22 Prozent auf ihn gesetzt; er war ein Niemand, der Provinzler aus Feuerland – wie sollte der schon Argentinien aus dem Dreck ziehen?
Heute stehen laut Umfragen 89,5% der ArgentinierInnen hinter Néstor Kirchner von der Peronistischen Partei (PJ), ihrem Präsidenten. Nach Argentinien ist die Hoffnung zurückgekehrt, die unter der Jahrhundertkrise vor zwei Jahren begraben worden war. Damals stand das Land am Abgrund; Millionen Menschen wurden in die Armut getrieben. Weit über die Hälfte der Befragten, insgesamt 64,8%, glaubt nach einer Umfrage des Institutes CEOP, dass es ihnen in diesem Jahr wieder besser gehen wird. Die Erwartung von Veränderungen und Optimismus sind die vorwiegenden Stimmungen in der Bevölkerung. Für 2004 wird ein Wirtschaftswachstum von 6 bis 7% prognostiziert. In der Landwirtschaft, dem Baugewerbe und der Tourismusbranche werden wieder Arbeitskräfte gesucht, und die Einkaufszentren verzeichnen die ersten Gewinne. Zumindest die Mittelschicht bekommt den Aufschwung langsam zu spüren.

Néstor Kirchner, noch bis zu seiner Antrittsrede als Präsident am 25. Mai 2003 skeptisch beäugt, ließ gleich mit seinem ersten Diskurs in der Casa Rosada, dem Regierungspalast, das ganze Land aufhorchen. Keine Selbstbeweihräucherung und keine uneinlösbaren Versprechen wie sonst in Argentinien üblich. „Die Politik, die Institutionen und die Regierung müssen mit dem Volk wieder versöhnt werden“, sagte damals der Peronist. Ungewohnte Töne in einem Land, in dem die Bevölkerung den Glauben an die politische Führung und eine existierende Demokratie verloren hatte. Kirchner versprach, die argentinische Politik von Grund auf zu erneuern. Und er hält bis heute Wort.
Es gibt keinen Sektor in Staat und Gesellschaft, der diese Erneuerung nicht nötig hätte. Zwei der wichtigsten Säulen dabei sind der Kampf gegen Korruption und Straflosigkeit, die lange das Land regierten und mafiöse Strukturen schufen, die nur äußerst schwer zu durchbrechen sind. Kirchner entließ korrupte Richter im Obersten Gerichtshof, tauschte die berühmt-berüchtigten Führungsriegen von Militär und Bundespolizei aus, übergab einer Oppositionspolitikerin den Rentenfonds PAMI, aus dem sich seit Jahren die leitenden Funktionäre auf Kosten der PensionistInnen bereicherten, und bewirkte in Kongress und Senat die Annullierung zweier Straffreiheitsgesetze, aufgrund welcher die verantwortlichen Militärs einer der grausamsten Diktaturen in Lateinamerika (1976-1983) noch immer nicht zur Rechenschaft gezogen werden konnten.
Mit diesen Maßnahmen hat Kirchner mitten ins Wespennest gestochen. „Néstor schmeißt die Mafia raus“, feiert ein Grafitto in Buenos Aires die unerwartete Konsequenz des 54-jährigen.

Die gleiche Vehemenz, mit der Kirchner im Land durchgreift, legt er auch in der Außenpolitik an den Tag. George W. Bush, der im Jänner Kirchner harsch kritisierte und aufgrund Argentiniens Kuba- und Schuldenpolitik zu einem Treffen bestellte, antwortete der Präsident, dass ihn niemand zu sich zitieren brauche und schon gar nicht, um ihn zu maßregeln. Diese Haltung brachte dem studierten Juristen den Applaus der meisten seiner lateinamerikanischen Amtskollegen ein. Denn Argentinien hält trotz internationalen Drucks an seiner Position fest, nur 25% der Auslandsschulden zurückzuzahlen. Zu mehr sieht sich das Land nicht fähig, will es die momentane Erholung der Wirtschaft nicht gefährden, so das Argument der Regierung. „Mehr zu zahlen bedeutete einen erneuten Völkermord an den Argentiniern“, erklärte Kirchner, der die Konzepte des Internationalen Währungsfonds für die Verarmung des Landes mitverantwortlich macht. Deshalb haben heute nach Ansicht von Kirchner die dringenden sozialen Probleme der Bevölkerung vor der Rückzahlung der Schulden Priorität.

Denn nach wie vor ist die Arbeitslosigkeit mit all ihren Konsequenzen laut einer Umfrage des Instituts CEOP die größte Sorge der ArgentinierInnen. Auch wenn ein erster leichter Aufschwung spürbar ist, bleiben doch große Teile der Bevölkerung davon noch immer ausgeschlossen. Die massenhafte Verarmung der letzten zwei Jahre prägt das Straßenbild. Tausende Menschen leben vom Müll der anderen, ziehen nachts mit Handkarren durch die Städte. Kinderarbeit ist Alltag geworden, Hunderte leben von Almosen, haben keinen Zugang zu Bildung, Obdach und Gesundheit. Die radikale Talfahrt im Zuge der Krise hat das Land auf Generationen geschädigt. Die anhaltenden Prosteste der Arbeitslosenbewegungen, der Piqueteros, und die Unruhe, die diese bei der Bevölkerung hervorrufen, offenbaren den enormen Handlungsbedarf. Mit einem ersten Programm, inspiriert am Modell der „Grameen Bank“ des Ökonomen Mohamed Yunus aus Bangladesch, wird jetzt über Kleinkredite die Gründung von lokalen Unternehmen unterstützt.
Doch unabhängig von all den schon getroffenen Maßnahmen ist auch das Jahr 2004 eine Herausforderung für Argentiniens Politik. Denn was sich heute als Hoffnung und Unterstützung für Präsident Kirchner manifestiert, kann schnell zu massiven Forderungen werden, wenn sich nicht bald greifbare Ergebnisse zeigen.

Die Autorin ist freie Journalistin mit Schwerpunkt Südamerika und lebt in Berlin. Sie verbrachte kürzlich drei Monate in Argentinien. (Siehe auch Titelgeschichte in SWM 4/03.)

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