Die Schatten der Vergangenheit

Von Werner Hörtner · · 2012/03

Auch eineinhalb Jahre nach Amtsantritt von Präsident Juan Manuel Santos ist in Kolumbien kein Demokratisierungsschub erkennbar – nur die offizielle Rhetorik ist sanfter geworden.

Einhellige Zustimmung erhielt das Eingeständnis des Staatschefs Santos, dass es sich bei den bewaffneten Auseinandersetzungen im Lande um einen „internen bewaffneten Konflikt“ handelt. Unter seinem Vorgänger Uribe war diese Formulierung tabu; er sprach immer nur vom Kampf gegen terroristische oder kriminelle Banden.

Breite Zustimmung fand auch das „Gesetz für die Opfer und Landrückgabe“, das mit 1. Jänner in Kraft trat. Die Angehörigen von Personen, die in diesem Konflikt seit 1985 ums Leben kamen, haben Anrecht auf eine Entschädigung, und die Menschen, die durch gezielte Vertreibung durch die paramilitärischen Gruppen oder durch die Auseinandersetzungen zwischen den bewaffneten Akteuren von ihrem Land flüchteten, haben das Recht zur Rückkehr oder, in bestimmten Fällen, ebenfalls auf eine monetäre Wiedergutmachung. Für die Umsetzung dieses Gesetzes wird aber noch viel Blut fließen, denn die neuen Herren der okkupierten Ländereien – paramilitärische Führer, Drogenhändler, Wirtschaftsunternehmen – werden die Ländereien nicht kampflos zurückgeben. Im Vorjahr wurden bereits über 20 AktivistInnen von Bauern- und Opferverbänden, die sich zur Durchsetzung ihres Rechtes auf Entschädigungen gebildet haben, ermordet.

„Ni Santos ni Dios“ (Weder Heilige noch Gott) konnte man während der Studentendemonstrationen in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahres auf Hausmauern lesen, wobei jedem klar war, dass die „Heiligen“ eine Anspielung auf den Namen des kolumbianischen Präsidenten war. Also: Wir wollen weder diesen Präsidenten noch Gott. Wobei der Präsident schließlich den Protesten gegen ein geplantes Gesetz zur weiteren Privatisierung der Bildung nachgab und den Gesetzesentwurf zurückzog. Die Proteste sind abgeflaut, nachdem die Studierenden ihr Ziel erreicht hatten; sie sind nun dabei, einen Alternativvorschlag zur Gestaltung des Bildungswesens auszuarbeiten.

Nach acht Jahren Präsidentschaft des rechten Hardliners Álvaro Uribe Vélez hatte im August 2010 dessen politischer Ziehsohn und zeitweise Verteidigungsminister Juan Manuel Santos, Sprössling einer der einflussreichsten Familien des kolumbianischen Establishments, die Führung des Staates übernommen. Doch die Hoffnungen auf eine Demokratisierung des unter Uribe autoritär gelenkten Landes haben sich kaum erfüllt.

Bei einem Kolumbienaufenthalt Ende 2010 sprach der Autor mit Yessika Hoyos Morales, für Gewerkschaften zuständige Mitarbeiterin des Anwaltskollektivs CAJAR. Sie erzählte die Geschichte von der Ermordung ihres Vaters Jorge Darío Hoyos, eines prominenten Gewerkschaftsführers, im März 2001 und von ihren Recherchen über die Auftraggeber und Hintergründe der Ermordung ihres Vaters. Neugierig frage ich sie ein Jahr später nach dem Ergebnis ihrer Nachforschungen, ob sie in der Sache weitergekommen sei. „Nein“, antwortet die junge Anwältin für Arbeitsrecht, „es ist alles gleich geblieben seit einem Jahr. Auch in diesem Fall überlagert die Straflosigkeit die Gerechtigkeit.“ Die unmittelbaren Täter, die die Kugeln auf ihren Vater abfeuerten, sind wohl in Haft und auch verurteilt, doch über die Hintermänner herrscht weiterhin Unklarheit. CAJAR hat mehrmals von der Staatsanwaltschaft gefordert, dass die Ermittlungen in dieser Angelegenheit fortgeführt werden, doch diese schweigt und tut nichts.

Auch Yessika findet, dass sich unter dem neuen Präsidenten nur die Rhetorik geändert hat. „Santos präsentiert sich als der Chef einer demokratischen Regierung, der die Gewerkschaftsrechte respektiert. Er hat sogar ein Abkommen mit den USA über Garantien für die Gewerkschaftsrechte geschlossen, damit der US-Kongress den Freihandelsvertrag ratifiziert, doch geändert hat sich nichts. Seit seinem Amtsantritt im August 2010 bis Ende 2011 sind über 40 Gewerkschaftsaktivisten und -aktivistinnen ermordet worden.“

Der Fall von Yessikas Vater weist auf ein Phänomen hin, das weiterhin die kolumbianische Justiz dominiert: die Straflosigkeit, „la impunidad“. In etwa 95 Prozent der Fälle politisch motivierter Gewalt werden die Hintergründe der Tat nicht aufgeklärt. Ab und zu werden wohl die Mörder geschnappt, die meistens aus den Reihen paramilitärischer Gruppen oder der staatlichen Sicherheitskräfte stammen, doch die Anstifter bleiben unbekannt.

50 Jahre Krieg

Als Beginn des bewaffneten Konflikts in Kolumbien gilt der Aufstand der aus Bauernmilizen hervorgegangenen Guerillagruppe Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia (FARC) im Jahre 1964. Die Entstehung weiterer Rebellenorganisationen folgte. Mit einigen von ihnen hat die Regierung Frieden geschlossen. Mit den FARC gab es einen Dialogprozess unter Präsident Andrés Pastrana (1998-2002). Dessen Nachfolger Álvaro Uribe (2002-2010) setzte auf eine militärische Lösung. Juan Manuel Santos, der seit August 2010 regiert, gilt wegen seiner weniger aggressiven Rhetorik als konzilianter.

Jorge Molano ist auf Prozesse gegen Funktionäre des Staates und im Besonderen gegen Angehörige der Streitkräfte spezialisiert – in Kolumbien eine lebensgefährliche Tätigkeit. Er hat bereits die Verurteilung mehrerer hochrangiger Offiziere zu langen Haftstrafen erreicht. Sein Vorgänger in dieser Angelegenheit war der renommierte Menschenrechtsanwalt Eduardo Umaña Mendoza, der im März 1998 ermordet wurde. Seine Kollegen und FreundInnen waren überzeugt davon, dass seine Liquidierung in der 20. Militärbrigade geplant und von dieser exekutiert wurde. In dieser Richtung wurden auch die Nachforschungen angestellt. Doch plötzlich tauchten Informationen der Militärpolizei auf, die in eine andere Richtung wiesen. Die Staatsanwaltschaft begann dann dementsprechend nachzuforschen – und ließ sich auf einen Irrweg locken. Heute, 13 Jahre nach der Ermordung des Menschenrechtsverteidigers, steckt der Prozess immer noch im Stadium der Voruntersuchungen.

Uribe als Para-Chef? Pablo Hernán Sierra García kam vor 35 Jahren in einer ländlichen Region im nordkolumbianischen Departement Antioquia auf die Welt. Sein Schicksal steht beispielhaft dafür, wie in Kolumbien in den letzten Jahrzehnten Zigtausende junger Menschen in die teuflische Gewaltspirale gerieten, die sie häufig schließlich selbst zerstörte.

Pablos Eltern pflanzten auf ihrem Bauernhof Zuckerrohr zur Gewinnung von Rohzucker an. Sie verdienten damit genug, um mit ihren acht Kindern ein Auslangen zu finden. Doch als der Vater erfuhr, dass die ELN-Guerilla seine Entführung plante, zog die ganze Familie nach Medellín, wo sie fortan als Vertriebene, als Binnenflüchtlinge lebte.

In dieser Zeit, den 1980er und 90er Jahren, war die ELN in der Gegend, wo Pablo Sierra García aufwuchs, sehr aktiv und militärisch stark präsent. Zahlreiche junge Menschen wurden von den Aktionen der Guerilla angezogen und traten ihr bei, andere wurden abgeschreckt, darunter Pablo. Er begann als Informant der Armee zu arbeiten und Guerilleros zu denunzieren. So kam er mit den Paramilitärs – kurz Paras genannt – in Verbindung, die teilweise sehr eng mit den staatlichen Sicherheitskräften zusammenarbeiteten. Viele dieser Gruppen waren ja gegründet worden, um die Aufständischen zu bekämpfen und Grundbesitzer und Drogenhändler vor Entführungen und Erpressungen zu schützen.

Pablo arbeitete sich im „Bloque Metro“ hinauf, einem großen paramilitärischen Block, der in Medellín und Umgebung aktiv war, und wurde schließlich beauftragt, eine eigene paramilitärische Einheit aufzubauen. Im Rahmen dieser „Arbeit“ erteilte er den Auftrag zur Ermordung mehrerer Politiker und wurde dafür später zu einer hohen Haftstrafe verurteilt.

„Uribe ist der Gründer und Schöpfer der Paramilitärs, und ich verlange öffentlich von ihm, dass er sich dem Demobilisierungsprozess anschließt“, erzählt der ehemalige Para-Führer dem Abgeordneten Iván Cepeda im Gefängnis. Damit meint er, dass der Ex-Präsident vor Gericht über seine Verwicklungen in die Verbrechen der Paramilitärs Bericht ablegen müsste. Pablo will es der Justiz beweisen. Uribe und eine befreundete Familie hätten eine paramilitärische Gruppierung gegründet und mehrere Massaker begangen. „Mit Listen in der Hand zogen sie von Dorf zu Dorf und brachten die Leute um. Das Militär hat diese Gruppe sehr unterstützt, besonders das Bataillon Molano“, erzählt Pablo Sierra García.

„Ich weiß, mit dieser Erklärung bin ich ein Selbstmörder, ein Kamikaze. Doch ich fühle mich der Wahrheit verpflichtet“, erklärt er gegenüber Iván Cepeda, der ihn kürzlich im Gefängnis Itagüí in Medellín besucht hat. Cepeda ist Kongressabgeordneter der einzigen linken Oppositionspartei „Polo Democrático“ – und einer der am meisten gefährdeten Menschenrechtsaktivisten in Kolumbien. „In Zukunft, wenn wir die Vorkommnisse der jüngsten Vergangenheit untersucht haben werden, wird das Regime von Uribe einen prominenten Platz in der universalen Geschichte der Kriminalität und der willkürlichen Machtausübung einnehmen“, ist der junge Linkspolitiker überzeugt. „Uribe war einer der Gründer des modernen Paramilitarismus; er förderte auf institutionelle und legale Weise die Bildung paramilitärischer Einheiten.“

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