„Die Solidarische Ökonomie ist eine konkrete Utopie“

Von Redaktion · · 2009/02

Ein Gespräch mit Claudio Nascimento, dem Koordinator im brasilianischen Staatssekretariat für Solidarische Ökonomie (SENAES) und namhaften Vordenker für neue Formen von Politik und Wirtschaft. Das Interview führte für das Südwind-Magazin Leo Gabriel.

Südwind: Wie ist das, was wir heute Solidarische Ökonomie nennen, in Brasilien überhaupt entstanden?
Claudio Nascimento:
Ich habe gerade ein Buch über meinen Weg zur Solidarischen Ökonomie geschrieben, die in der heutigen Form erst in den 1990er Jahren entstanden ist. Sie basiert aber auf viel älteren Erfahrungen, wie etwa denen der ländlichen Kooperativen in der Zeit der Militärdiktatur, aber auch auf verschiedenen Erfahrungen der Arbeiterselbstverwaltung, die es in den Städten gegeben hat.

Es sind also einzelne Projekte, von denen die Solidarische Ökonomie ausgegangen ist?
Ja, aber der Terminus bezieht sich eigentlich auf den Zusammenschluss dieser Einzelprojekte, weshalb wir in Brasilien in den 1990er Jahren ein Foro Nacional de Economia Solidaria (Nationales Forum der Solidarischen Ökonomie) geschaffen haben. Der Solidarwirtschaft liegt eben das Konzept der Vernetzung implizit zugrunde.

Wer oder was wird denn da miteinander vernetzt?
Einerseits sind es die selbstverwalteten Produktionsbetriebe, andererseits aber auch die sozialen Bewegungen oder Gewerkschaften. Die Solidarische Ökonomie ist eben nicht nur ein rein ökonomisches Konzept, sondern setzt die Existenz von sozialen Bewegungen voraus. Beide sollten auch vom Staat unterstützt werden, wenngleich das nicht überall möglich ist.
Bei der Solidarischen Ökonomie handelt es sich um ein integrales Konzept, durch das der Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus erfolgen soll. Letztendlich müssen wir den Staat verändern, wie das in der Pariser Kommune oder in der Bewegung Emiliano Zapatas in der mexikanischen Revolution der Fall war.

Ist die Solidarische Ökonomie also eine Ideologie?
Nein. Die Ideologie kommt später, dazu brauchen wir einen Erziehungsprozess, der lange dauern kann. Sie entsteht mit der Praxis der Gemeinden, in denen es Versammlungen gibt – wie in Peru zu Zeiten von Velasco Alvarado oder im Chile von Salvador Allende. Das Wichtige dabei ist die Herausbildung eines sozialen Eigentums – wie heute in Venezuela, wo sich ein soziales Eigentum gebildet hat, das weder ein staatliches noch ein privates Eigentum ist.

Wie passt das mit dem Kampf der indigenen Völker um ihre Autonomie oder mit dem Kampf um den Sozialismus, der den Klassikern zufolge ja eine Machtergreifung durch die Arbeiterklasse zur Voraussetzung hat, zusammen?
Wir erleben heute eine Krise der Entwicklungsmodelle, die zum Zusammenbruch des Realsozialismus in der Sowjetunion, aber auch zu einer Krise innerhalb der Sozialdemokratie geführt hat. Aber es gibt auch eine Krise der Demokratie, auf die schon Marx hingewiesen hat; er hat aber seinen Ansatz auf die asiatische Produktionsweise beschränkt. Das soziale Eigentum als Begriff findet sich aber auch bei Carlos Mariátegui [Anm. d. Red.: Peruanischer Journalist und Linksintellektueller, Gründer und bis zu seinem Tod 1930 Vorsitzender der KP Perus] in seinen „Sieben Essays über die peruanische Realität“, in denen er sich die indigenen Völker zum Vorbild nahm, die weder Staats- noch Privateigentum kennen.

Wie sieht nun ein Staat aus, in dem die Wirtschaft nach den Prinzipien der Solidarischen Ökonomie funktioniert? Ist sie überhaupt auf einer Geldwirtschaft aufgebaut?
Es handelt sich dabei darum, eine konkrete Utopie zu verwirklichen. Die Solidarische Ökonomie braucht öffentliche Investitionen, man braucht also Geld. Deshalb haben wir in Brasilien so genannte „Volksbanken“ entwickelt, in denen die lokalen Gelder verwaltet werden. Mit diesen Geldern kann man in Brasilien sogar im Supermarkt bezahlen – wie in Katalonien während des spanischen Bürgerkriegs.

Was ist also der Vorteil im Vergleich zur kapitalistischen Ökonomie? Sind dort die Preise tatsächlich niedriger, gibt es weniger Arbeitslose und größeren Wohlstand?
In der Solidarischen Ökonomie gibt es keine Gehälter – die Produkte werden verkauft und der Gewinn wird aufgeteilt; das kann manchmal besser und manchmal schlechter sein.
Claudio Nascimento ist Koordinator des im Arbeitsministerium angesiedelten Staatssekretariats für Solidarische Ökonomie (SENAES), das nach der Amtsübernahme des Präsidenten Luis Inácio „Lula“ da Silva eingerichtet wurde. Im langen Lebensweg des in Recife und Warschau graduierten Historikers und Pädagogen spiegelt sich nicht nur die Zeitgeschichte Brasiliens, sondern auch der Entwicklungsprozess der lateinamerikanischen Linken wider.

Auf der Flucht vor der brasilianischen Militärdiktatur ging er ins Exil nach Polen, um dort die vom jugoslawischen Modell inspirierten Selbstverwaltungsmodelle zu studieren. Nach seiner Rückkehr im Jahre 1970 baute er im Rahmen der brasilianischen Gewerkschaftszentrale CUT die erste brasilianische Arbeiteruniversität auf und gründete 1980 das bis heute bestehende Institut für Solidarische Ökonomie INCA. Zusammen mit dem berühmten Pädagogen Paulo Freire und Marcos Arruda, dem namhaften Theoretiker der Solidarische Ökonomie, rief er die internationale „Allianz für eine pluralistische Welt“ ins Leben. Diese trieb bereits während der 1990er Jahre eine „Globalisierung von unten“, basierend auf dem Konzept der Weltbürgerschaft, voran.

Das Gespräch führte Leo Gabriel im Anschluss an das 4. Österreichische Sozialforum (ASF), das vom 24. – 26. Oktober in Sankt Peter in der Au (Niederösterreich) stattfand.

Rein quantitativ gesehen: Gibt es viele solcher Projekte in Brasilien?
In Brasilien gibt es tausende Erfahrungen, ich habe eine Forschung darüber gemacht, es gibt sie überall, im armen Nordosten ebenso wie im reichen Süden. Im Nordosten gibt es Agroindustrien, aber auch zehntausende kleine Betriebe. Insgesamt sind bereits Millionen Menschen in die Solidarische Ökonomie integriert.

Welche Chancen gibt es angesichts der gegenwärtigen Finanzkrise, einen qualitativen Sprung in Richtung Solidarische Ökonomie zu machen?
Wir wissen nicht, welches Ausmaß die Strukturkrise haben wird, die sich in jedem Land anders gestaltet. In Brasilien sagt man, dass die härteste Zeit 2009 beginnen wird. Die Regierung wird das Budget kürzen müssen und es wird weniger Investitionen geben. Das bedeutet, wir haben dann Millionen Arme, die kein Fleisch mehr essen können, die kein Geld haben werden, ihre Kinder in die Schule zu schicken. Das wird die Probe aufs Exempel für die Solidarische Ökonomie sein.

Glauben Sie, dass es in Europa möglich ist, eine Solidarwirtschaft aufzubauen, oder ist es hier viel schwerer, sie umzusetzen?
Ich war 2004 in Frankreich, um die Solidarwirtschaft zu diskutieren, aber die Gewerkschaften beteiligten sich nicht. Dort gibt es auch Erfahrungen mit der Selbstverwaltung. Wir müssen einfach mehr tun. Das Problem in Europa scheint mir zu sein, dass durch die Krise die politische Rechte an Stärke gewinnt. Das ist der Unterschied zu Brasilien, wo wir im Rahmen des Weltsozialforums in Belém einen großen Schritt vorwärts machen werden. Aber trotzdem gilt der Spruch Pascals: der Kampf ist eine Herausforderung; und Mariátegui hat einmal gesagt: Ich kämpfe, daher bin ich.

Leo Gabriel ist Journalist, Filmemacher und Autor mit Schwerpunkt Lateinamerika, Aktivist der Sozialforumsbewegung und Vorstandsmitglied von Südwind Entwicklungspolitik.

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