Die Töchter und Söhne des Guaraná

Von Dorothea Nürnberg · · 2001/05

Ein Besuch im hintersten Amazonien, weit entfernt von Beton und Verkehr, von wo aus das Guaraná seinen weltweiten Siegeszug als Lebens- und Liebeselixier genommen hat.

Tai wacu – wacu sesso“. Der alte Häuptling der Sateré-Maué-Indianer erhebt sich, lächelt, streckt uns seine faltige Hand entgegen, murmelt höfliche Sateré-Willkommensworte, setzt sich unter dem dicht geflochtenen Palmdach des Gästehauses auf die alte Holzbank, blickt auf den Tisch, schweigt. Gemeinsames Schweigen. Stille. Fernes Blätterrauschen des tropischen Regenwaldes, nahes Kichern neugieriger Kinder, lautloses Staunen eines Faultierbabys, festgeklammert an dem Hemdchen eines kleinen Indiomädchens. Gemeinsames Schweigen. Und Lächeln. Und Dasein. Eingestreut in die Selva, den amazonischen Dschungel.

Für Augenblicke zweck- und sinnbefreit. Unter dem tropischen Palmendach inmitten des amazonischen Regenwalds. Weit entfernt von Maučs, dem Ausgangspunkt unserer Schiffsexpedition in die Reserva, das Reservat der SateréMaué-Indios, noch viel weiter entfernt von Manaus, der einstmals blühenden Kautschukstadt, sehr weit entfernt von Beton und Verkehr, Kaufen und Handeln. Sehr nahe am Puls Amazoniens – Fluss und Himmel und Sonne und Regenwald.

Der Häuptling blickt auf den sandigen Boden, auf den großen Holztisch, seine Frau baumelt in der Hängematte, unser indigener Führer aus Maučs, Barrô, der unersetzliche Mittler zwischen den Welten, beginnt ein Gespräch, um den neugierig schweigenden Europäern den Einstieg in die Welt indigener Gedanken zu erleichtern. Fragen nach der Guaraná-Ernte, nach Jagd und Fischfang, nach Schule, Ausbildung und alten Traditionen schwirren in Sateré-Maué-gefärbtem Portugiesisch über den Tisch, während Sapô, das Guaraná-Willkommensgetränk, gereicht wird.

Guaraná – Zauberwort in der Reserva, Heilmittel, Lebens- und Liebeselixier, das mittlerweile in zahlreichen Verformungen die Welt eroberte, seinen Ursprung jedoch bei jenem amazonischen Indianerstamm hat, dessen Dörfer und Ansiedlungen Ziel unserer Reise in die indigenen Welten Brasiliens sind.

Sapô – ausnahmsweise nicht mit Flusswasser zubereitet, da das Dorf Nova Esperanza am Eingang der Reserva über einen Tiefbrunnen ebenso wie über einen Generator verfügt.

Die Kalebassenschale wandert von Mund zu Mund, langsam, schweigend wird das bitter schmeckende, belebende Pulver-Wasser-Gemisch getrunken, der Häuptling blickt lächelnd auf den Tisch, bevor er die Fragen Barrôs beantwortet. Christen, ja Christen sind alle hier, aber deswegen haben sie ihre Kultur nicht abgelegt, nein, nur die Kämpfe, die blutigen Kriege untereinander haben aufgehört, das Gute ihrer Kultur, die Tänze und Gesänge, die Sprache haben sie bewahrt. Großteils. Wenngleich die Sorge um die Bewahrung der alten Traditionen – Kunsthandwerk, das Wissen um Heilkräuter und Rezepturen aus dem Dschungel, die Kenntnis der spirituellen Rituale in den Ausführungen des Häuptlings mitschwingt. Grund dafür ist das mangelnde Interesse der jungen, Fußball-begeisterten, fernsehenden, Portugiesisch und Sateré-Maué sprechenden Mitglieder des Stammes. Der indigene Kulturverlust durch die Überlappungen mit der Kultur der ”Weißen“ wird von manchen BeobachterInnen für unaufhaltsam gehalten.

Das Faultierbaby löst sehr langsam die linke Vorderpfote von dem Hemdchen des Indiomädchens, greift sehr langsam, sehr bedächtig, sehr friedlich nach einem Baoba-Blatt, das zwischen den Fingern des Mädchens zusammengeknüllt als Nahrung für das kleine Haustier wartet.

”Ein ideales Symbol für Frieden“ – das Faultier, meint Barrô, es greift niemals an, ist niemals aggressiv, selbst seine Verteidigung erfolgt aggressionslos.

Frieden, ein häufig verwendetes Wort im Wortschatz des indigenen Führers – Frieden mit der Natur, Frieden mit der Erde, in Frieden leben mit Wald und Fluss.

Nicht Ausbeutung und Gewinnmaximierung sind der Zugang indianischer Lebensauffassung zur Natur, sondern ein Leben im Gleichklang, im gegenseitigen Gleichgewicht. ”Wir sind Teil dieser Erde, sie gehört uns nicht, daher kann auch niemand Land ’besitzen‘, das Land, die Erde ist immer nur Leihgabe.“ So das alte indianische Grundverständnis des Lebens, welches in den Übergriffen weißer Wirtschaftsinteressen häufig in katastrophalem Ausmaß missachtet wird.

Wir verlassen das Dorf, kehren zurück an Bord unseres kleinen Expeditionsbootes, das soeben von einer friedlichen, fluchtwilligen Vogelspinne besetzt wird, genießen von unserem brasilianischen Bordkoch aus Südbrasilien fachmännisch zubereitete Caipirinha. Die zinnoberrotleuchtende Tropensonne übergießt den klaren Schwarzwasserfluss, die weißen Baumstämme mit flirrenden Rottönen, ein grauer Flussdelphin kreuzt den Weg eines Einbaums, der zwölfstündige Tropentag neigt sich in die zwölfstündige Tropennacht. Barrô singt indianische Lieder und erzählt von den Mythen des Regenwaldes, von den Ursprüngen der ”Söhne und Töchter der Sonne“. Indianische Schöpfungsgesänge und indianische Todeserfahrungen fließen in das nächtliche Froschkonzert ein.

Amazonien brennt, oder wird abgeholzt, oder vergiftet – durch Quecksilber in den Flüssen, durch Bergbau und Goldsucher – Amazonien, jenes außergewöhnliche und einzigartige, durch europäische und amerikanische, japanische und brasilianische Wirtschaftsinteressen bedrohte Ökosystem, Heimat zahlreicher stark dezimierter Indiostämme, ungeahnter Pflanzen- und Artenfülle kämpft ums Überleben.

Der Aufschrei der wenigen weißen Verfechter der Rechte der indigenen Völker, beispielsweise des aus Vorarlberg stammenden Bischofs der Diözese Xingú, Erwin Kräutler, wird von den Interessen der internationalen Konzerne übertönt. Planierraupen und Brandherde dringen immer weiter vor in geschützte Gebiete, machen auch vor demarkierten Indioreservaten nicht halt.

”Amazônia está queimando“ – Amazonien brennt.

Barrô lässt die letzten Klänge des Liedes in der Froschgesang-flirrenden Nachtluft stehen, macht einen tiefen Zug aus seinem von einem alten Schamanen in Santa Fé gedrehten Zigarillo, bevor Brasilianer und Europäer in ihre Hängematten kriechen und unter dem leuchtenden Kreuz des Südens in die Tropennacht eintauchen.

Amazonien brennt – nicht überall, glücklicherweise auch nicht in Curuatuba, dem abgelegensten Dörfchen unserer Tour – fünf Stunden Beibootfahrt durch den überfluteten Wald, gefolgt von einem längeren Marsch durch die Plantagen und überfluteten Wälder rund um das Dorf, um schließlich auf einer kleinen Hochebene mit Palmhütten, Fußballfeld und Glühbirnen-Dorfbeleuchtung anzukommen. Wir knüpfen die Hängematten im Gästehaus auf und erleben eine lange, Feuerschein-, nicht Glühbirnen-erhellte Nacht in Gemeinschaft mit dem Häuptling des Dorfes unter fern verrauschendem Tropenregen. Der Generator für die Glühbirnen ruht, wird nur für besondere Gelegenheiten angeworfen.

Hilfe, ja Hilfe wird den Indios oft versprochen, Kleidung, Schulsachen für die mittlerweile großteils wieder indigenen Lehrer, die die Indiokinder in den ersten Schuljahren im Dorf in portugiesischer Sprache und brasilianischer Geschichte unterweisen, um in weiterer Folge wieder die Stammessprache sowie Geschichte und Traditionen, das Heilwissen und die Tänze der Ahnen zu vermitteln. Hilfe, um das neu erwachende Selbstbewusstsein der indigenen Völker Brasiliens zu stärken, um den Reichtum einer Kultur, die von den ”Weißen“ jahrhundertelang missachtet und zerstört wurde, wieder neu zu festigen.

Hilfe wird versprochen, doch Hilfe, materielle Hilfe bleibt ein leeres Wort seitens der FUNAI, der staatlichen Indianerschutzbehörde, seitens der Gouverneure der Amazonasstaaten.

Aus der nahe liegenden Dorfkirche klingt festlich-fröhliche Musik, die abendliche Feierstunde hat soeben begonnen, gewährt Einblick in die Symbiose aus indianischer und christlicher Spiritualität – einander ergänzende Energien zum Schutz der Mutter Erde und ihrer Kinder, der Töchter und Söhne der Sonne, der Erde, des Guaraná. Schutz für den Regenwald, Schutz – durch die Bewahrung indigener Kultur, durch längst anstehende internationale Maßnahmen gegen den Raubbau am Regenwald, gegen den rücksichtslosen Abbau von Bodenschätzen in den demarkierten Ländern der Indios. Schutz gegen die Übergriffe gedungener Pistoleros, die Indiostämme aus ihren Gebieten vertreiben, um Großgrundbesitzern den Weg zur Abholzung zu ebnen. Schutz vor den Übergriffen internationaler Pharmafirmen, die sich das Wissen der Indios um die Heilwirkungen der Medizinalpflanzen aus dem Regenwald zu Eigen machen, die neu gewonnenen Erkenntnisse in den USA und Europa patentieren lassen, auf Kosten der indigenen Völker wissenschaftliche Erfolge feiern.

Die Autorin lebt als Schriftstellerin in Wien und arbeitet neben ihrem literarischen Schaffen auch journalistisch. Sie unternahm ausgedehnte Reisen durch Asien, Nord- und Südamerika mit Schwerpunkt Amazonien/Brasilien. Zuletzt erschienen: ”Auf dem Weg nac

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