Ein blutiges Gemetzel

Von Robert Poth · · 2010/03

Mit der zunehmenden Motorisierung droht der Blutzoll des Straßenverkehrs, eines der größten Gesundheitsprobleme im Süden, weiter zu eskalieren. Auf multilateraler Ebene wird nun versucht, die Investitionen in Verkehrssicherheit anzukurbeln.

Es dürfte unseren LeserInnen nicht entgangen sein: China hat im Vorjahr die USA als größter Automarkt der Welt abgelöst. 13,6 Millionen PKW, Busse und LKW wurden verkauft, ein Plus von 46% (!) gegenüber 2008. Aber auch Brasilien erzielte mit 3,1 Mio. Fahrzeugen einen neuen Rekord, und Indien verzeichnete mit fast 1,5 Mio. Fahrzeugen den stärksten PKW-Absatz seit Jahren – herausragende Beispiele der rasch zunehmenden Motorisierung in ärmeren Ländern. Gut für die kriselnde Automobilbranche, für das Wirtschaftswachstum und leider auch für den Treibhauseffekt. Aber nicht die Klimakosten dieses Szenarios waren es, die bereits vor einigen Jahren in Institutionen wie der Weltgesundheitsorganisation WHO und der Weltbank die Alarmglocken läuten ließ: Es war der zu befürchtende weitere Anstieg der Opferzahlen im Straßenverkehr – und die erreichen bereits jetzt katastrophale Dimensionen, und zwar überwiegend in Entwicklungs- und Schwellenländern.

Die WHO schätzt – auf Basis aktueller Erhebungen (2008) und Datenmodellierungen -, dass der Straßenverkehr derzeit jährlich weltweit ca. 1,23 Millionen Todesopfer fordert. Dazu werden Menschen gezählt, die bei einem Verkehrsunfall entweder sofort getötet werden oder innerhalb von 30 Tagen an den Unfallverletzungen sterben. Damit steht der Straßenverkehr weltweit auf Platz 9 der Todesursachen, in der Größenordnung mit Tuberkulose und Malaria zu vergleichen. Dazu kommen noch pro Todesfall ca. 25 schwere Verletzungen, die eine Behandlung im Krankenhaus erfordern und/oder bleibende Behinderungen verursachen.

Die globale Schiefverteilung könnte deutlicher nicht sein: Mehr als 91% der Verkehrstoten entfallen auf Länder mit mittlerem und niedrigen Einkommen und lediglich 8,5% auf die reichen Länder, obwohl auf ihren Straßen mehr als 52% der weltweit zugelassenen Kraftfahrzeuge unterwegs sind. Die Länder mit niedrigem Einkommen verzeichnen mit bloß 9% der zugelassenen Kfz sogar knapp 42% der Verkehrstoten.


Offensichtlich ist der Straßenverkehr in ärmeren Ländern weit gefährlicher. Um wie viel, lässt sich überschlagsmäßig berechnen – man vergleicht die Anzahl der Todesfälle pro zugelassene Kfz. Demnach ist das Todesrisiko in Ländern mittleren Einkommens achtmal und in Ländern niedrigen Einkommens 28-mal so hoch wie in den reichen Ländern. Das absolute Risiko, bei einem Verkehrsunfall zu sterben, ist dagegen „nur“ etwa doppelt so hoch. Was aber bloß für die Bevölkerung insgesamt gilt: Kinder sind in ärmeren Ländern wesentlich stärker gefährdet als in reichen Ländern – in der EU sterben pro 100.000 Einwohner 1,7 Kinder bei Verkehrsunfällen, in Südafrika 26.

Die globale Schieflage ist nicht die einzige Eigenheit des Phänomens. Etwa sind rund drei Viertel oder mehr der Unfalltoten im Straßenverkehr männlichen Geschlechts, und zwar in allen Kulturräumen und Weltregionen und unabhängig davon, ob die Opfer überwiegend Fußgänger (wie etwa in Bangladesch) oder „stärkere“ Verkehrsteilnehmer sind. Und nicht nur sind zumeist untere Einkommensschichten disproportional betroffen, wie u.a. Studien in Indien gezeigt haben: Verkehrsunfälle sind in vielen Fällen sogar der Grund, warum Haushalte verarmen, was in Anbetracht der fehlenden sozialen Sicherheitssysteme leider nicht verwundert.

Was verwundern kann, ist der geringe Stellenwert, den die Verkehrssicherheit bisher im entwicklungspolitischen Kontext einnahm – sowohl aufgrund der Dimension des Problems, seiner Verknüpfung mit dem Thema Armutsbekämpfung, seiner volkswirtschaftlichen Kosten (siehe „Unterschätzte Unfallkosten“) und nicht zuletzt auch wegen der Erfahrung in den reichen Ländern. Denn dort konnten in den letzten Jahrzehnten trotz steigender Motorisierung und Verkehrsleistung zumindest die Todesraten spürbar gesenkt werden (siehe Grafik) – in Österreich etwa von 1.886 Verkehrstoten 1976 auf 630 im Vorjahr.



Offenbar konnte ein Know-how erworben werden, das sich vielleicht transferieren lässt – politischen Willen auf beiden Seiten vorausgesetzt. Nötig wäre ein solcher Wissenstransfer jedenfalls. Denn wenn nicht umgehend weltweit in mehr Verkehrssicherheit investiert wird, droht eine weitere Eskalation des Gemetzels. Nach einem „Business as usual“-Szenario der Global Road Safety Facility der Weltbank, dem bisher einzigen einschlägigen multilateralen Finanzierungsinstrument, würde der Blutzoll des Straßenverkehrs zwischen 2000 und 2020 um 65% zunehmen – es wäre dann mit mehr als zwei Millionen Verkehrstoten pro Jahr zu rechnen.

Nun scheint aber auf internationaler Ebene ein Prozess an Dynamik zu gewinnen, der 2004 mit einem Bericht von WHO und Weltbank („World Report on Road Traffic Injury Prevention“) begonnen hatte, der ersten weltweiten Untersuchung des Problems. Darin wurde die Stoßrichtung vorgegeben: Minimierung der Hauptrisikofaktoren – Alkohol am Steuer, Nichtverwendung von Sicherheitsgurten, Kindersicherungen und Helmen, unangemessene und überhöhte Geschwindigkeit und schlechte Infrastrukturgestaltung.

Im Vorjahr publizierte die WHO ihren ersten „Global status report on road safety“, eine Bestandsaufnahme der Sicherheit im Straßenverkehr in 178 Ländern auf Basis einer Erhebung von 2008. Unter den Erkenntnissen: Nur 22% der teilnehmenden Länder verfügten über Daten über Todesfälle und Verletzungen im Straßenverkehr, Schätzungen der Unfallkosten und Daten über die Verwendung von Sicherheitsgurten und Helmen – was auch als Indiz eines fehlenden politischen Willens gewertet werden kann.

Diesen zu generieren hat sich die britische Commission for Global Road Safety, eine Initiative einer Stiftung des Automobilsport-Weltverbandes FIA, zur Aufgabe gemacht. Sie veröffentlichte im Mai 2009 eine Studie („Making Roads Safe: A Decade of Action for Road Safety“), in der auch konkrete Forderungen gestellt werden. Darunter: ein Treffen auf Ministerebene zum Thema weltweite Verkehrssicherheit sowie 300 Millionen Dollar im Rahmen eines Zehnjahres-Aktionsplans zur Förderung der Verkehrssicherheit in Schwellen- und Entwicklungsländern.

Tatsächlich fand diese erste UN-Ministerkonferenz („First Global Ministerial Conference on Road Safety“) bereits statt – Ende November 2009 in Moskau, mit mehr als 1.500 TeilnehmerInnen. Sie endete u.a. mit einer Einladung an die UN-Generalversammlung, 2011-2020 zu einer „Decade of Action for Road Safety“ zu erklären. Kurz davor hatten sieben multilaterale Entwicklungsbanken inklusive der Weltbank in einer gemeinsamen Stellungnahme die Umsetzung eines breiten Maßnahmenpakets zur Sicherheit des Straßenverkehrs zugesichert. Die Weltbank geht davon aus – ohne Anführung von Details – dass im kommenden Jahrzehnt fünf Millionen Leben gerettet und 50 Mio. schwere Verletzungen vermieden werden könnten. 300 Mio. Dollar sollte das jedenfalls wert sein.

Weblinks
WHO: www.who.int/violence_injury_prevention/publications/road_traffic/en/index.html
Commission for Global Road Safety:
www.fiafoundation.org/commissionforglobalroadsafety/index.html
Global Road Safety Facility (Weltbank): http://go.worldbank.org/3Y524T7KS0

Unterschätzte Unfallkosten im Süden

Im multilateralen Kontext generell sowie von der Commission for Global Road Safety (siehe Weblinks) werden die Unfallkosten in Entwicklungs- und Schwellenländern im Schnitt auf zumindest 1% des Bruttoinlandsprodukts (BIP), in den reichen Ländern auf 2-3% des BIP geschätzt. Ob korrekt oder nicht: Die angeführten Zahlen – 453 Mrd. US-Dollar für die reichen Länder und 64,5 Mrd. Dollar für die übrigen Länder – sind mit Sicherheit viel zu gering, jedenfalls für letztere.

Erstens basieren sie auf einer Studie der britischen Entwicklungsagentur DFID aus dem Jahr 2000, die BIP-Daten von 1997 verwendet. Auf Basis von BIP-Daten des Internationalen Währungsfonds für 2009 ergeben sich für die ärmeren Länder bereits Unfallkosten von 175 Mrd. Dollar – und das unter der optimistischen Annahme, dass sich die Effekte von höherer Motorisierung, zunehmendem Verkehr und allfälligen Maßnahmen für mehr Verkehrssicherheit in diesem Zeitraum ausgeglichen hätten. Rechnet man diesen Betrag in internationale Dollar um (in Rücksicht auf die Abweichung der Wechselkurse von der tatsächlichen Kaufkraft), kommt man sogar auf 320 Mrd. Dollar.

Zweitens schätzte die DFID-Studie (mangels Daten) die Unfallkosten in den ärmeren Ländern auf Basis des verlorenen wirtschaftlichen Outputs. Das gilt jedoch als Untergrenze. Nach dem so genannten „Zahlungsbereitschaftsansatz“ (z. B. wie viel würde für eine Maßnahme bezahlt werden, die das Risiko eines tödlichen Verkehrsunfalls in einem bestimmten – meist geringen – Ausmaß verringert?) ergeben sich in der Regel weit höhere Werte, die auch als „immaterielle Kosten eines Unfalltods“ einkalkuliert werden können. In einer aktuellen Verkehrskostenstudie für Sachsen wurden diese mit 1,5 Mio. Euro angesetzt. Das ist natürlich kein Maßstab für ärmere Länder. Es liefert aber einen guten Grund, auch 320 Mrd. Dollar für eine Unterschätzung zu halten.
rp

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