Flinke Fladerer

Von Redaktion · · 2018/Jan-Feb

Eduardo Labarca macht einen chilenischen Taschendieb auf Welttournee zu seinem Romanhelden. Erhard Stackl sprach mit dem Schriftsteller.

Das Gesicht fein zerknittert, der Schnauzbart so weiß wie das Haupthaar, so sitzt mir der chilenische Schriftsteller Eduardo Labarca (79) in einem Wiener Kaffeehaus gegenüber. Mit fast jugendlicher Begeisterung erzählt er von einer speziellen Kategorie seiner Landsleute: „Die chilenischen Taschendiebe sind die besten der Welt“, behauptet er. Das sage die britische Polizeibehörde Scotland Yard ebenso wie die französische Polizei über die Langfinger vom Ende der Welt. „La Yuyito“, die berühmteste dieser chilenischen Taschendiebe, der sogenannten „Lanzas“, habe in der New Yorker Metro sogar dem Chef des FBI die Brieftasche gemopst.

Er selbst habe von den flinken Fladerern erstmals gehört, als er Ende der 1970er Jahre nach Westeuropa kam, erzählt Labarca. Er lebte als Exil-Chilene in Frankreich, Spanien und viele Jahre in Österreich, wo es überall Zeitungsberichte zu den behänden Dieben gab. Labarca, der sein Brot als Übersetzer für die UNO verdiente, machte sich Notizen dazu.

Als er 2013 nach Chile heimkehrte, war dort eine massive Kampagne gegen sogenannte „Asoziale“ im Gang. Es wurde verlangt, alle Kleinkriminellen einzusperren. Labarca kam es ungerecht vor, dass Milliardäre, die das Volk mit Preisabsprachen und durch Steuervermeidung „um tausende Millionen Pesos“ betrogen hätten, ungeschoren blieben. Die international tätigen Taschendiebe erschienen ihm dagegen wie Figuren aus subversiven Piratengeschichten und Abenteuerromanen. Also schrieb er selbst einen.

„Der Pfeil“. Hauptfigur des Romans „Lanza internacional“ ist Elías Segovia, ein Bub aus Santa Estela, einem Armenviertel der chilenischen Hauptstadt Santiago. Um der Misere zu entkommen, folgt er dem Beispiel einiger Nachbarn und beginnt in überfüllten Bussen seine Mitmenschen zu bestehlen. Zuhause feilt er seine langen Fingernägel spitz zu und übt an Kleiderpuppen, Geldbörsen mit einem Pinzettengriff aus Jacken- und Hosentaschen zu fischen. Er hat Erfolg. Vom unmittelbaren Ziel motiviert, seiner stark übergewichtigen Mutter eine Fettabsaugung zu finanzieren, wagt er sich auf den Hauptplatz, die Plaza de Armas, und in die wohlhabende Oberstadt vor, nicht ohne sich vor den Diebeszügen mit eleganter und damit dort unauffälliger Kleidung auszustatten.

Zum Lebensziel wird es, sich später, mit 50, zur Ruhe zu setzen und selbst ein Haus in einem Viertel der Reichen zu besitzen. Leo Go, der bekannteste Polizeireporter des Landes, dessen Reportagen in den Armenvierteln begeistert gelesen werden, wird bald auf Elías aufmerksam und gibt dem gewaltfreien Taschelzieher einen Spitznamen: „El Flecha“ – der Pfeil.

Eduardo Labarca bei einer Lesung im Wiener Instituto Cervantes. Seine Romane „Lanza internacional“ (2014) und „Los 50 del lanza” (2017) sind – bisher noch ohne Übersetzung – in der Edition Catalonia, Santiago de Chile erschienen.

Politischer Redakteur. „Ich war selbst einmal Kriminalreporter,“ sagt Labarca, der in den 1960ern nach einem Jus-Studium in die Redaktion der Tageszeitung El Siglo eintrat. „Ich war zwar politischer Redakteur, aber bei Wochenenddiensten mussten wir auch zu Kriminalfällen ausrücken und darüber schreiben.“

In der Zeit der Linksregierung Salvador Allendes (1970-73) wurde Labarca landesweit bekannt, als er bei einer TV-Diskussionsreihe im Stil des österreichischen „Club 2“ führend mitmachte. Vor dem Putsch General Pinochets 1973 wurde Labarca Chef der Wochenschau der Filmfirma Chilefilms.

Die Aufnahmen des argentinischen Kameramanns Leonardo Henrichsen, der seine eigene Erschießung durch einen chilenischen Soldaten filmte, kamen durch ihn in alle Welt. Nach dem Putsch musste Labarca flüchten, um sein eigenes Leben zu retten. Er landete in Moskau, wo er jahrelang als Sprecher des Radioprogramms „Escucha Chile“ (Höre, Chile) seine Landsleute via Kurzwelle mit oppositionellen Infos versorgte.Damals begann er, sich der Literatur zuzuwenden. Er veröffentlichte eine Allende-Biografie und schrieb später den Roman „Cadáver tuerto“, der in Chile 2005 als „Buch des Jahres“ prämiert wurde. (2008 ist dieses Buch über Tyrannei und Exil unter dem Titel „Der köstliche Leichnam“ in der Übersetzung von Renata Zuniga im österreichischen Drava-Verlag erschienen.) In „Butamalón“, einem weiteren Roman, beschreibt Labarca poetisch den Einsatz eines spanischen Missionars auf der Seite aufständischer Indigener im 16. Jahrhundert.

Der nicht leicht zu lesende Wälzer war auch unter den Büchern, die Labarca einem im Gefängnis St. Pölten einsitzenden Dieb mitbrachte, mit dem er Kontakt aufgenommen hatte. Denn das war der Wunsch des Landsmannes gewesen: Telefonkarten, um mit der Familie in Chile zu telefonieren, und Lektüre in spanischer Sprache.

Im zweiten Band seiner Lanza-Reihe („Los 50 del lanza“ – Lanza mit 50) beschreibt Labarca solche Diebe bei der Arbeit. Sie schwärmen in das Shoppingcenter SCS in Vösendorf aus, erleichtern tschechische und ungarische EinkaufstouristInnen um ihre Barschaft, ÖsterreicherInnen um Bank- und Kreditkarten, sowie In- und Ausländer um ihre Ausweise. Karten und Dokumente verschwinden in einem Schlitz in der Verkleidung der Fahrertür eines silberfarbenen BMW 320, mit dem der Protagonist zu deren kriminellen „Weiterverarbeitung“ nach Mailand braust. Abends feiern die in Wien gebliebenen Diebe in Latino-Bars mit teurem Whisky, werden allerdings mit Lokalverbot belegt, als die Polizei immer öfter auftaucht und ihre Tagesbeschäftigung ruchbar wird.

Deutsch, leicht gemacht. Im Wiener Teil des Romans kommt auch das Flüchtlingsquartier „Macondo“ in Simmering vor, wo gerade (reale) österreichische Solidaritätsaktivisten wie Irene Filip, Peter Stania und Herbert Berger zur Exilgemeinde sprechen. Neuankömmlingen aus Chile wird beigebracht, wie sie sich ohne Deutschkenntnisse verständigen können. Sie müssten bloß „Joroba“ (= „Mist!“) rufen, und schon käme der „Herr Ober“. „Vas a la costa“ („Fährst du zur Küste“) funktioniert für „was kostet?“ und „ya voy“ („Ich komme“) für „jawohl“. „Mozart“ muss dann klarerweise „Mahlzeit“ heißen. Dementsprechend endet auch mein Interview mit Eduardo Labarca. Es klingt wie ein hingemurmeltes „Auf wiedersehen“, wenn er sagt: „Olvidenme“ („Vergessen Sie mich“).

Erhard Stackl ist freiberuflicher Autor und Journalist und Herausgebervertreter des Südwind-Magazins.

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