Freiheit als soziales Gebot

Von Amartya Sen · · 2002/04

Amartya Sen erhielt 1998 als Ökonom den Nobelpreis, doch ist sein philosophisches Credo genau so preiswürdig. SÜDWIND-Mitarbeiterin Brigitte Voykowitsch besuchte den indischen Denker zu Hause.

Ich wurde auf einem Universitätscampus geboren und mir scheint, ich habe mein ganzes Leben auf dem einen oder anderen Campus verbracht“, beginnt Amartya Sen seine knappe Autobiographie, die er für das Nobelkomitee verfasst hat. Lehrer und Forscher wollte er immer sein, in die Politik hat es ihn nie gezogen. „Was würden Sie denn tun, wenn man Sie zum Premier von Indien beriefe?“ wurde er einmal von indischen StudentInnen gefragt. Sens Antwort kam rasch und knapp: „Zuallererst würde ich das Amt zurücklegen.“
Auf der Handlungsebene mitmischen – nein, sich auf der analytischen Ebene einmischen – ja, unbedingt und unablässig: So könnte man kurz das Credo des Bengalen formulieren, dessen gesamtes Denken und Forschen sich stets um den Menschen und dessen (Un)Freiheit gedreht hat. Nicht im abstrakten, abgehobenen Sinn, sondern ganz und gar auf die Lebensrealität – und das aktuelle politische Geschehen – bezogen.
Die Ökonomie ist Sens Revier, soziale Gerechtigkeit seit Jahrzehnten das vorrangige Anliegen seiner akademischen Karriere, die ihn seit seinem ersten Lehrauftrag an der Jadavpur Universität in Kalkutta 1950 über Berufungen nach Cambridge, an die Delhi School of Economics, die London School of Economics, an die Universitäten Oxford, Cornell und Harvard schließlich zurück nach Cambridge geführt hat. Dort wurde ihm sogar die honorige und traditionell Briten vorbehaltene Stelle des Master of Trinity College anvertraut.

Dass Sen sich seit dem 11. September in der neu aufgeflammten Debatte um den Kampf der Kulturen häufig zu Wort gemeldet hat, darf freilich nicht verwundern. Denn wieder geht es ihm, der sich schon bald auch der Philosophie zuwandte, um Freiheit, Menschenrechte und das Zusammenspiel von Individuum und Gemeinschaft.
„Jeder hat das Recht auf einen Lebensstandard, der ihm und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung und notwendige soziale Leistungen.“ Dieses vor mehr als 53 Jahren in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte festgeschriebene Prinzip darf als Grundansatz für Sens analytisches Engagement gelten. Das genannte „Wohl“ definiert Sen allerdings nicht als Besitz oder Einkommen, sondern als die Chance, es erwerben zu können. Jeder Bürger und jede Bürgerin soll die Möglichkeit haben, den eigenen, selbstgewählten Lebensentwurf umzusetzen.
Die Kluft zwischen Reich und Arm wird sich nur schließen lassen, Ausbeutung, Entrechtung, Unterentwicklung und Verelendung werden sich nur überwinden lassen, wenn, so Sen, die Freiheit des Einzelnen zum zentralen sozialen Gebot erhoben wird. Die Freiheit, die er meint, ist dabei als umfassender Begriff zu verstehen, der politische, bürgerliche, ökonomische und soziale Rechte umfasst. Wirklich frei ist nur, wer gesund und entsprechend gebildet, sozial abgesichert und wirtschaftlich ohne Existenzsorgen an einem demokratischen Prozess partizipieren und damit an der Gestaltung seiner Gesellschaft mitwirken kann. Wenn ein politisch-ökonomisches System dies gewährleistet, dann darf es als eines für den Menschen gelten. Die These, wonach einzelne Freiheiten einander ausschließen und rascher wirtschaftlicher Aufschwung und Demokratie einander hinderlich seien, weist Sen zurück.

Freiheit, wie sie der Nobelpreisträger definiert, umfasst aber noch einen weiteren, essentiellen Aspekt, nämlich die Möglichkeit des einzelnen, zu bestimmen, wie er sich selbst sieht, sein Recht auf multiple Identitäten und seine Freiheit von einengenden Kategorisierungen. „Wer sich mit Menschenrechten beschäftigt, muss genau darauf achten, wie Menschen in grobe und angeblich vorrangige Identitätskategorien hineingezwängt werden“, übte Sen nach dem 11. September vielfach scharfe Kritik an der wieder populär gewordenen These vom Kampf der Kulturen. Es sei irrelevant, ob man die Frage nach einem bevorstehenden Konflikt der Kulturen mit Ja oder Nein beantworte, wird Sen seit den Terroranschlägen in den USA nicht müde zu wiederholen. Die Fragestellung an sich sei bereits problematisch und seiner Ansicht nach strikt abzulehnen, da sie von einer „engen, mutwilligen und betrügerischen“ Kategorisierung des Menschen ausgehe.
„Jene, die der Freundschaft zwischen den Zivilisationen das Wort reden und jene, die den unvermeidlichen Zusammenprall dieser Zivilisationen vorhersagen, teilen dieselbe verarmte und eindimensionale Sicht der Welt. Diese Reduktion auf eine einzige Kategorie ist ein epistemischer Irrtum und stellt eine große ethische und politische Gefahr dar“, betont der indische Wissenschaftler.

Für Amartya Sen ist die gesamte Debatte nach dem 11. September in die falsche Richtung gelaufen. Um Terrorismus und dessen Ursachen hätte es gehen müssen. Die Frage, ob der Islam nun eine friedliebende Religion ist oder nicht, sei irrelevant und schon in ihrer Formulierung fragwürdig, ganz abgesehen davon, in wie kurzer Zeit es Politiker vom Schlage eines Tony Blair plötzlich zum Expertentum in Sachen Islam gebracht hätten.
So wie Sen bei der Analyse der Ursachen von Armut und Hunger häufig in seiner eigenen Heimat ansetzte, wo er als Kind in den 40er Jahren Zeuge verheerender Hungersnöte wurde, so führt er auch in der Debatte um Identitäten gerne Beispiele aus dem Subkontinent an. Kategorien wie „die Hindu-Zivilisation“ oder „die muslimische Welt“ weist er als künstlich und einengend zurück: „Indien hat in etwa so viele muslimische Staatsbürger wie [das eigens für die Muslime gegründete] Pakistan und weitaus mehr als die meisten Länder der so genannten muslimischen Welt“, erkärte er jüngst bei einem Vortrag in Delhi. Ostpakistan habe sich als neuer Staat Bangladesch vom übrigen Pakistan abgespalten, weil „die bengalische Identität stärker war“ als die mit Westpakistan gemeinsame muslimische Identität.
Die Hoffnung auf Frieden liegt für Sen in dem Bewusstsein, wie „unterschiedlich verschieden“ Menschen sind, sodass sie eben nicht „entlang irgendeiner Bruchlinie klassifiziert werden können“.
Dass er mit solchen Ansätzen bei Politikern vom Schlage eines Blair und Bush so wenig ankommt wie bei jenen, die in Indien gerade wieder einmal die Geschichte umschreiben, ist Sen bewusst.
Mit der mangelnden Popularität seines Denkens in bestimmten Kreisen hat er längst leben gelernt. Auch sein Begriff von Entwicklung, der beim Menschen und nicht bei abstrakten ökonomischen Indikatoren ansetzen muss, wurde zwar seit Jahrzehnten von seinen Anhängern gewürdigt, aber durfte er für seine „Wohlfahrtsökonomie“ mit der höchsten Anerkennung rechnen? Gemunkelt wurde immer wieder darüber, dass Sen den Nobelpreis verdiene. „Schon 1971, als sein Vater starb, war davon die Rede, dass Bablu ausgezeichnet werden könnte“, erinnerte sich die Mutter, als es 1998 so weit war. Amartya Kumar Sen, „Bablu“, wie die Mutter ihn nennt, war endlich die Auszeichnung des Osloer Komitees zuteil geworden.
Wollte das Komitee damit ein Gegengewicht zur Entscheidung des Vorjahres setzen, als es mit Robert Merton and Myron Scholes die Begründer der Hedgefonds und damit absolute Verfechter eines unabgefederten Kapitalismus geehrt hatte, wie vielerseits spekuliert wurde? Oder hatte nach der Asienkrise tatsächlich ein Umdenken stattgefunden? Durfte nun auch Menschlichkeit ein Faktor im Wirtschaftsdenken sein?
Sen nutzte das Preisgeld jedenfalls zur Gründung zweier Stiftungen, des Pratichi India Trust und des Pratichi Bangladesh Trust, deren Aufgabe in der Bekämpfung von Analphabetentum, der Schaffung von Gesundheitseinrichtungen und dem Einsatz für die Gleichstellung der Frau liegt.
Wie sehr sich Bildung und Selbstbestimmung von Frauen auf die Kinderanzahl sowie auf Gesundheit und Bildung der Kinder auswirken, hatte Sen bereits in den 60er Jahren eingehend analysiert, Jahrzehnte, bevor dieses Thema „modern“ wurde und 1994 bei der UN-Konferenz für Bevölkerung und Entwicklung in Kairo ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückte. Aber modern sein war noch nie Sens vorrangiges Anliegen. Dazu ist ihm der Mensch und dessen Entwicklung in Freiheit viel zu wichtig.

Von Sen auf Deutsch verfügbar:
Amartya Sen: Ökonomie für den Menschen. Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft.
Carl Hanser Verlag, München/ Wien 2000, 424 Seiten, 1 23,91.

Die Autorin ist freie Journalistin mit Arbeitsschwerpunkt Süd- und Südostasien.

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