Gefangen in den eigenen Mythen

Von Redaktion · · 2015/09

Warum sind Heißsporne der dominanten Hindu-Mehrheit in Indien so darauf aus, jeden Unterschied zwischen Religion und Nation auszumerzen? Und was bedeutet das für alle Menschen in Indien? Ein Kommentar von NI-Autorin Urvashi Butalia.

"Ruf mich nach neun an“, schrieb mir eine befreundete Professorin von der Jadavpur University in Kolkata vor ein paar Tagen. „Wir gehen gerade alle zum Rindfleischfest.“ Bei einem „Rindfleischfest“ wird demonstrativ öffentlich Rindfleisch gegessen, um gegen das in einigen indischen Teilstaaten bestehende oder geplante Rindfleischverbot zu protestieren. In Maharashtra ist das Verbot bereits in Kraft. Eine begrüßenswerte Entwicklung, jedenfalls aus Sicht des Hindu-Nationalismus – Hindus glauben, dass Kühe heilig sind und ihr Fleisch nicht gegessen werden sollte.

In anderen konservativ regierten Teilstaaten wird überlegt, es Maharashtra gleichzutun. In Haryana im Norden ist das schon geschehen. Und in Uttar Pradesh, dem Nachbarstaat des Unionsterritoriums Delhi, ist die Kampagne bereits voll im Gange: Der Slogan „gau mata ko rashtra pashu banao“ („Macht Mutter Kuh zum Nationaltier“) prangt an Plakatwänden entlang der Hauptstraßen.

Ein Rindfleischverbot, eine alte Forderung rechter Hindus, war bisher von der Zentralregierung nicht zugelassen worden (indem der indische Staatspräsident das entsprechende Gesetz von Maharashtra einfach 20 Jahre lang nicht unterzeichnete, Anm. d. Red.), und aus gutem Grund. Indien ist ein säkulares Land, die demokratischen Rechte seiner Minderheiten sind in der Verfassung verankert. Die Ernährung ist ein wichtiger Teil davon: Das Gefühl von Heimat und Zugehörigkeit beruht auch auf kulinarischen Gepflogenheiten. Für die 150 Millionen Musliminnen und Muslime in Indien ist Rindfleisch ein Grundnahrungsmittel und eine ihrer wichtigsten Eiweißquellen. Das Geschäft mit Rindfleisch gibt hunderttausenden Menschen Arbeit. Wie kann man es dann einfach verbieten?

Der muslimischen Bevölkerung, den Dalits (früher auch als „Unberührbare“ bezeichnet, Anm. d. Red.), den ChristInnen und natürlich auch den Hindus, die Rindfleisch essen, wird damit nicht nur ein wichtiges Nahrungsmittel entzogen, sondern auch ein grundlegendes demokratisches Recht verwehrt. Aber solche Überlegungen spielen offenbar keine Rolle, wenn es darum geht, der „Hindu-Nation“ zu ihrem Recht zu verhelfen.

Hindu-Dominanz. Das Projekt einer neuerlichen „Hinduisierung“ eines ohnehin bereits sehr hinduistisch geprägten Indien gewinnt zusehends an Unterstützung. Warum das in einem Land nötig sein sollte, dessen Bevölkerung sich zu 80 Prozent aus Hindus zusammensetzt (auch wenn diese Bezeichnung nicht für alle dasselbe bedeutet), ist eine Frage, auf die es keine einfachen Antworten gibt. Warum sollten sich Hindus an den Rand gedrängt fühlen? Und warum sollten andere, viel kleinere und weniger einflussreiche Gruppen an diesem Gefühl der Marginalisierung schuld sein?

Umkämpftes Rindfleisch

Das Verbot des Schlachtens von „Kühen und Kälbern und anderem Milch- und Zugvieh“ ist Teil des Grundsatzes einer „modernen und wissenschaftlichen Landwirtschaft“ gemäß Art. 48 der indischen Verfassung von 1950. Die Umsetzung obliegt den Teilstaaten, die fast alle (Ausnahmen u.a. Kerala und Westbengalen) entsprechende, allerdings unterschiedliche Regelungen erlassen haben. Betroffen ist in der Regel das indische Hausrind (Zebu oder Buckelrind), zum Teil aber auch der Wasserbüffel. Ein generelles Rindfleischverbot galt etwa bereits in Haryana, während das neue Verbot in Maharashtra Wasserbüffel und Büffelfleisch ausnimmt. Notorische Folgen der uneinheitlichen Rechtslage sind großteils illegale und daher unkontrollierte Schlachthäuser und ein umfangreicher Schmuggel von Lebendtieren und Rindfleisch quer durch Indien und in Nachbarstaaten wie Bangladesch. Indien ist außerdem noch vor Brasilien der größte Rindfleischexporteur der Welt. Dabei handelt es sich offiziell nur um Büffelfleisch, was allerdings generell bezweifelt wird. red

In Indien werden praktisch alle wichtigen leitenden Funktionen in Wirtschaft, Institutionen, Bildungsprojekten usw. von Hindus aus hohen Kasten eingenommen, zumeist von Männern. Allen einschlägigen Berichten zufolge hat Indien trotz der Fortschritte durch die positive Diskriminierung der Minderheiten noch einiges aufzuholen, was ihre Rechte und ihren Status betrifft. Die größte der zahlreichen Minderheiten im Land ist die muslimische Bevölkerung, und sie bereitet den Hindus die meisten Sorgen.

Ihr Anteil beträgt derzeit etwa 15 Prozent. Trotzdem gehört die Vorstellung, sie würden die Hindus bald zahlenmäßig überflügeln, weil sie mehr Kinder hätten, zu den beliebtesten und hartnäckigsten Mythen unter jenen Hindus, die sich in ihrem eigenen Land an den Rand gedrängt fühlen. Dass das nach Adam Riese gar nicht möglich ist, wird schlicht und einfach ignoriert.

Es gab eine Zeit, und das ist noch nicht so lange her, da hätten wir über einen potenziellen Hindu-Fundamentalismus gelacht, vielleicht den Kopf geschüttelt, und mit ziemlicher Sicherheit das dauerhafteste (und auch der Wahrheit entsprechende) „Klischee“ heruntergebetet: dass der Hinduismus keine Religion sei, sondern eine Philosophie, noch dazu voller Widersprüche und Schattierungen; dass er sich auf kein einzelnes Buch zurückführen lasse; und dass von einem Hindu-Fundamentalismus daher keine Rede sein könne.

Veränderungen. Heute ist das anders. In den letzten 20 Jahren hat sich einiges verändert – es gab kaum einen Zeitpunkt, zu dem nicht die eine oder andere Minderheit aufs Korn genommen worden wäre. Und es beschränkt sich nicht auf religiöse Minderheiten oder Menschen: Betroffen sind auch Bücher, Filme, Diskussionen, Theaterstücke usw. Seit die rechte Bharatiya Janata Party (BJP) im Mai 2014 die Regierungsmacht übernommen hat, wurden die Führungsriegen praktisch aller wichtigen Institutionen abgesetzt und durch loyale Hindus ersetzt.

Ein paar zufällig ausgewählte Beispiele: In Mangalore werden Frauen gewaltsam attackiert, weil sie in einer Bar Alkohol getrunken haben, denn das widerspricht angeblich der Hindu-Tradition; in Westbengalen, Maharashtra und Delhi werden Kirchen verwüstet, vielleicht weil man ChristInnen auf „ihren Platz verweisen“ muss; in Madya Pradesh werden Adivasi (Sammelbezeichnung für die indischen Stammesvölker, Anm. d. Red.) zum Hinduismus zwangskonvertiert; in Delhi werden Verlagshäuser gezwungen, Bücher aus dem Angebot zu nehmen, die angeblich „hindufeindlich“ oder kritisch gegenüber Hindus sind; in Muzaffarnagar (Uttar Pradesh) werden muslimische Menschen überfallen, viele werden getötet, die Frauen vergewaltigt.

Frauen werden besonders angegriffen: Fundamentalismus und Patriarchat passen gut zusammen. Hindu-Männer fühlen sich berechtigt, Frauen daran zu hindern, den Mann zu heiraten, den sie selbst wollen, oder ihnen jedes angeblich für Hindus ungehörige Verhalten zu verbieten, etwa sich an den Händen zu halten oder sich in der Öffentlichkeit zu küssen.

In einem Land der Größe Indiens wäre es natürlich möglich, diese Vorkommnisse als irrelevant abzutun – würde sich nicht stets irgendeine extreme Hindu-Gruppe öffentlich zu solchen Übergriffen bekennen. Man könnte auch sagen: „Aber das ist doch nur eine kleine Minderheit; die meisten Hindus sind nicht gewalttätig oder intolerant.“ Auch damit liegt man im Grunde nicht falsch. Aber zutiefst beunruhigend ist es, wenn sich unsere politische Elite und insbesondere unser Premierminister bei solchen Ereignissen in Schweigen hüllt, was nur einen Schluss zulässt: Das Projekt der Schaffung einer neuen Hindu-Nation wird auf höchster Ebene unterstützt.

Gefühlte Bedrohung. Wie verbreitet ist dieses Gefühl, sich in einem Belagerungszustand zu befinden? Schwer zu sagen. Es besteht jedenfalls eine Tendenz, alles Mögliche als Beweis für die Realität der Bedrohung zu interpretieren. Werden etwa Hindus in Pakistan schlecht behandelt, wird postwendend gefordert, mit Minderheiten in Indien ebenso zu verfahren. Dazu kommt eine weitere, völlig irrationale Angst: dass Indien zwischen zwei muslimischen Nationen quasi eingeklemmt, eingequetscht wäre, zwischen Pakistan und Bangladesch, und sich gegen „feindliche Einfälle“ (sprich: Flüchtlinge aus Bangladesch) und Terrorismus wappnen müsste.

„Beunruhigender als diese einzelnen Übergriffe“, meint eine befreundete Anwältin, „ist diese perfide Art, in der sich so etwas wie ‚Hindutum‘ in unser Alltagsleben einschleicht. Dass man nicht essen kann, was man will, dass man bei allem, was man schreibt oder veröffentlicht, stets aufpassen muss, das ist es, was mir wirklich Sorgen macht.“

Die aggressive Diaspora. Einige Unterstützung erfährt dieses selbstbewusste Einfordern hinduistischer Werte und Traditionen aus der indischen Diaspora, ist sie überzeugt. Es handelt sich um Ärzte, Akademikerinnen, Ingenieure, IT-Fachleute und StudentInnen, eine generell eher konservativ eingestellte Gruppe, die sich selbst als eine Art „vorbildliche Minderheit“ betrachtet und sich wundert, warum sie in ihrer selbst gewählten neuen Heimat (zumeist die USA) so wenig beachtet wird. „Seit fast drei Generationen, seit der nominellen Unabhängigkeit Indiens 1947“, heißt es in einem kürzlich erschienenen Buch mit dem Titel „Rearming Hinduism“, „(…) war der Hinduismus eine Religion, die im Stillen gelebt wurde.“

Aber auf welchen Wegen kann sich das Gefühl, eine an den Rand gedrängte Minderheit zu sein, in ein vergleichbares Gefühl der Entmachtung einer Mehrheitsbevölkerung verwandeln? In diesem Kontext hat sich das Internet als einflussreiches Werkzeug erwiesen: Man nutzt es, um für Kampagnen zu mobilisieren, neue Mitglieder zu rekrutieren, KritikerInnen im virtuellen Raum zu verfolgen und zu drangsalieren, und man versucht insbesondere die Mittelschicht auf die eigene Seite zu bringen, die ansonsten kaum von sich aus aktiv würde.

Rajiv Malhotra, einer der bekanntesten Proponenten des Hinduismus in den USA, stellt im Internet einige erstaunliche Behauptungen auf: Christentum und Islam, meint er, wären jünger als 2.000 Jahre – und davor, was gab es da in der Welt? Natürlich den Hinduismus. Tatsächlich dominierte der Hinduismus einst in einem großen geographischen Gebiet, von Kabul bis Indonesien, von Kasachstan bis Kanya Kumari (Tamil Nadu). Aber was ist heute davon übrig? Knapp 20 Prozent der ursprünglichen Einflusssphäre. Außerdem haben die Hindus ihre Flüsse – und daher das Wasser, den Lebensnerv – an Pakistan, Nepal und Bangladesch verloren. Man ist ein bloßer Schatten seiner selbst.

Um die Rückgewinnung des früheren Selbst ging es auch, als Hindu-Gruppen 2005 versuchten, die Darstellung des Hinduismus in Lehrbüchern in den Schulen Kaliforniens in ihrem Sinne „korrigieren“ zu lassen. Dieses Wiederaufleben des Hinduismus in der Diaspora steht in engem Zusammenhang mit der Machtübernahme durch die BJP. Tatsächlich wurde die Wahlkampagne Narendra Modis großteils von im Ausland lebenden InderInnen organisiert.

Was aber bedeutet das für Indien? Welche Auswirkungen auf Indien werden die Aktionen einer gewalttätigen Randgruppe, die aufgrund der aktuellen politischen Kräfteverhältnisse den Eindruck hat, mit allem ungestraft davonzukommen, sowie einer Diaspora haben, die zwar weniger zu Gewalt neigt, aber der es um die Eroberung der kulturellen und intellektuellen Sphäre geht? Die Gefahr zeichnet sich deutlich ab: Der Premierminister äußerte unlängst indirekte Kritik an Freisprüchen in Gerichtsverfahren, die mit der Meinungs- und Redefreiheit begründet wurden – er meinte, die Justiz sollte aufpassen, nicht auf „Fünf-Stern-AktivistInnen“ hereinzufallen, gemünzt auf NGOs und andere KritikerInnen der Hinduisierung Indiens (die in 5-Stern-Hotels absteigen, Anm. d. Red.).

Einfache Lösungen gibt es nicht, das war in Indien immer so. Fest steht aber, dass die Gefahr real ist; Gleichgültigkeit kommt nicht in Frage. Wir könnten uns zurücklehnen und sagen, die Vielfalt Indiens lässt sich nicht so einfach zerstören. Oder wir könnten tun, was die indische Zivilgesellschaft immer getan hat: kämpfen, um alles zu verteidigen, was gut ist in diesem Land – seine Diversität, seinen Säkularismus, seine Meinungsvielfalt, seine Freiheit und natürlich seine Menschen.

 Copyright New Internationalist

Urvashi Butalia ist eine feministische Verlegerin und Schriftstellerin und lebt in Indien. Sie ist Direktorin des Verlags Zubaan (zubaanbooks.com).

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