Hunger als soziale Schande

Von Werner Hörtner · · 2004/11

Der Sonderberater von Brasiliens Präsident Lula für Armutsbekämpfung, Frei Betto, stellte auf Einladung von Südwind Entwicklungspolitik in Wien die neue Sozialpolitik seines Landes vor.

Am Tage seines Abflugs nach Wien zu den 25 Jahre-Veranstaltungen von Südwind Entwicklungspolitik speiste Frei Betto noch mit Präsident Lula und dem Generaldirektor der UN-Organisation für Ernährung und Landwirtschaft (FAO), dem Senegalesen Jacques Diouf, zu Mittag. Dieser hatte die brasilianische Hauptstadt zur Eröffnung eines Weltkongresses der Agrarwissenschaft besucht und dabei die Hunger- und Armutsbekämpfung der Regierung Lula in höchsten Tönen gelobt. „Das größte Problem beim Kampf gegen den Hunger in der Welt ist das Fehlen eines politischen Willens – erst an zweiter Stelle folgt der Mangel an entsprechenden Ressourcen“, kritisierte der Direktor der größten UNO-Spezialorganisation die internationale Staatengemeinschaft.
Frei Betto, Sonderberater des brasilianischen Präsidenten für dessen Programm Fome Zero (Null Hunger), sieht das ebenso: „Der Hunger ist das größte Problem in der heutigen Welt – auch wenn nur wenige Menschen davon reden. Er ist eine soziale Schande, und diese Schande kann nur dann beendet werden, wenn es gelingt, das soziale Problem in eine politische Angelegenheit zu verwandeln.“

Der Dominikanermönch, der in der Zeit der Militärdiktatur vier Jahre im Gefängnis verbrachte und später als einer der führenden Befreiungstheologen Brasiliens bekannt wurde, war in den letzten Jahren Berater der Landlosenbewegung MST. Noch vor seinem Wahlsieg bat ihn sein Freund Lula, beim Entwurf des „Null Hunger“-Programms mitzuarbeiten. Dieses wohl ehrgeizigste Armutsbekämpfungsprogramm der Welt soll bis zum Ende der vierjährigen Amtszeit des sozialistischen Staatschefs, also bis Dezember 2006, allen BewohnerInnen Brasiliens drei Mahlzeiten täglich garantieren.
„Null Hunger“ beruht im Wesentlichen auf drei Säulen: Die erste ist das so genannte „Familien-Stipendium“, eine monatliche Geldüberweisung an arme Familien – wobei das Geld nur an Frauen ausbezahlt wird. Bis zum Jahresende werden 6,5 Millionen Familien in den Genuss dieser Unterstützung kommen – insgesamt wird die Zahl der in Armut lebenden Familien auf 11,4 Mio. geschätzt, das sind 53 Mio. Menschen.
Das zweite Standbein, das für Frei Betto wichtigste Element des ganzen Programms, ist die Strukturpolitik: Agrarreform, Wohnbauförderung, Berufsausbildung, Verbesserung der Wasserver- und -entsorgung, Gemeinschaftsküchen, Hausgärten – ein ganzes Bündel sozialpolitischer Maßnahmen, die in enger Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Organisationen umgesetzt werden sollen. Die dritte Säule schließlich ist die Erziehung, wobei die entsprechende Praxis eng an den großen Pädagogen Paulo Freire, der die „Pädagogik der Unterdrückten“ entwickelte, anknüpfen soll.

In Kreisen der Linken und von entwicklungspolitisch engagierten Menschen stößt es immer wieder auf Unverständnis und Kritik, dass der ehemalige Gewerkschaftsführer und deklarierte Sozialist Lula die neoliberale Politik seines Vorgängers Cardoso fortsetzt. Im Gespräch mit dem SÜDWIND-Magazin zeigt Frei Betto Verständnis, stellt aber diesen Umstand in einen realpolitischen Kontext: „Diese Kritik stimmt. Aber Lula hat eben nur eine Wahl gewonnen und nicht die ganze Macht im Staat. Alle wichtigen Entscheidungen müssen vom Kongress approbiert werden, der mehrheitlich konservativ ist. Jene Präsidenten und Regierungen in Lateinamerika, die dachten, wenn sie an die Regierung kommen, haben sie auch die Macht im Lande, haben sich schwer getäuscht und Schiffbruch erlitten. Das passierte zuletzt mit Allende in Chile und mit den Sandinisten in Nicaragua. Und wir können leider nicht alles umsetzen, was wir uns wünschen, sondern nur das, was wir können. Das führt zu vielen Widersprüchen, aber wir glauben weiterhin, dass wir mit der Zeit unsere sozialen Anliegen möglichst umfassend umsetzen können.“
Das „Null Hunger“-Programm bekommt immer mehr auch internationalen Vorbildcharakter. Frei Betto wird häufig von Regierungen eingeladen, die brasilianische Erfahrung in anderen Ländern vorzustellen. Paraguay, Argentinien, Peru, Guatemala, die Dominikanische Republik und Chile wollen ähnliche Programme zur Armutsbekämpfung starten.

www.fomezero.gov.br www.mobilizacao.org.br

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