Im Schatten des großen Bruders

Von Brigitte Pilz · · 2002/02

Seit mehr als 50 Jahren ist die Beziehung Taiwans zur Volksrepublik China ungeklärt. Während sich persönliche und wirtschaftliche Kontakte meist über Umwege gestalten, liegt der offizielle politische Dialog auf Eis.

Bist du ein Yams oder ein Taro?“ fragen Taiwanesen einander, um herauszufinden, wann sich die Vorfahren des Gegenübers auf der Insel angesiedelt haben. Anders ausgedrückt: Wie tief sind deine Wurzeln? Yams oder „einheimische Taiwanesen“ meint jene, die in großer Zahl seit dem 17. Jh. vom chinesischen Festland kamen. Taro meint die Millionen „Festländer“ (und ihre Nachkommen, heute 15% der Bevölkerung), die nach 1945 mit Chiang Kai-shek und seiner Kuomintang (KMT) vor den siegreichen Kommunisten flohen. Heute wird diese Frage nach der Herkunft von vielen abgelehnt. Sie ignoriert die indigenen Volksgruppen (zwei Prozent der Bevölkerung), die vor allen anderen auf der Insel lebten.
„Und in Wahrheit sind wir peanuts – Erdnüsse“, sagt der jetzige Präsident Taiwans, Chen Shui-bian. „Die Menschen hier sollten leicht Wurzeln schlagen und das Land, auf dem und von dem sie leben, als ihre Heimat betrachten.“ Hinter dieser Aussage steckt eine politische Haltung mit weitreichenden Auswirkungen vor allem auf die Beziehungen zum großen Bruder Volksrepublik (VR) China, weil diese Haltung die „Taiwanisierung“ des Landes meint.

Jahrzehntelang hat die KMT den Menschen eingebläut, sie seien Chinesen, die Rückeroberung des Festlandes sei nur eine Frage der Zeit. Zwar hat die Regierung 1991 offiziell darauf verzichtet, die Wiedervereinigung mit Waffengewalt anstreben zu wollen. Doch sich nur auf das kleine Taiwan zu beschränken, kommt für die KMT nicht in Frage. So ist die Identität jedes Einzelnen bis heute mit der politischen Haltung verquickt. Viele sagen, ja, ich fühle mich kulturell als Chinese, doch politisch als Taiwanese.
Zahlreiche Menschen haben in der Zeit des „weißen Terrors“ (siehe Kasten) der KMT trotz Androhung von Gefängnis, Exil und sogar Todesstrafe die Idee von der Unabhängigkeit Taiwans vom chinesischen Festland und der Freiheit für seine BewohnerInnen verfolgt. Einer von ihnen ist Su Beng. Der heute 83-jährige verbrachte 41 Jahre im japanischen Exil. Tagsüber betrieb er ein kleines Nudel-Restaurant, nachts traf er Gleichgesinnte, um Sabotage-Aktionen gegen das KMT-Regime zu organisieren. 1993 ist er nach Taipei zurückgekehrt. Er gründete die Vereinigung für Taiwans Unabhängigkeit (ATI). Seit sieben Jahren beleben seine AnhängerInnen samstags und sonntags die Straßen um ihr Hauptquartier in der Hopingstraße. Mit dekorierten Kleinlastern und Trommelwirbel fordern sie die Unabhängigkeit der Insel. So radikal sind allerdings nur wenige.

Die Democratic Progressiv Party (DPP) zum Beispiel ist als Partei der Unabhängigkeit und für eine Demokratisierung des politischen Systems angetreten. Seit sie an der Macht ist, halten sich ihre Vertreter, so auch Präsident Chen Shui-bian, mit Aussagen zur Unabhängigkeit Taiwans deutlich zurück, müssen sich zurückhalten, denn die Führung der VR in Peking reagiert scharf auf alle Anzeichen in diese Richtung. Für sie ist Taiwan eine abtrünnige Provinz. Die VR droht nach wie vor mit militärischer Übernahme, sollte die Insel ihre Unabhängigkeit erklären.
Säbelrasseln gab es in den vergangenen Jahrzehnten mehr als einmal. Im Mai 1996 wurden vor den ersten freien, direkten taiwanesischen Präsidentenwahlen vor der südchinesischen Küste militärische Manöver inszeniert und Raketen über der Insel „getestet“. Das Auftauchen zweier US-Flugzeugträger stoppte das Spektakel. Und erst letzten November, kurz vor den Wahlen in Taiwan, meldete sich Zhang Mingqing als Sprecher des chinesischen Büros für Taiwan-Angelegenheiten zu Wort: „Wenn Taiwan nicht zum Ein-China-Prinzip zurückkehrt, werden wir alles unternehmen, um die territoriale Integrität zu sichern, einschließlich des Gebrauchs von Waffen.“ Wie groß die Gefahr eines militärischen Übergriffes tatsächlich ist, kann aber niemand sagen.

Die „Beziehung zur VR“ war im Wahlkampf des letzten Herbstes in Taiwan das Thema Nummer eins. Die politischen Parteien unterscheiden sich voneinander ja nicht im Sinne von „rechts“ und „links“, sondern vor allem in ihrer Antwort auf die Frage: Welche Strategie ist gegenüber Peking anzuwenden? Die KMT – und die von ihr abgespaltenen Parteien People First Party und New Party – beharren auf dem mit Peking angeblich bereits 1992 errungenen Konsens „Es gibt nur ein China“, wobei jede Seite ihre Interpretation für dieses eine China habe (haben dürfe). Das sei, so die KMT, die Basis für weitere Dialoge.
Präsident Chen Shui-bian meint hingegen, er habe einem solchen Konsens nie zugestimmt. „Ein China“ bedeute für Peking natürlich die Volksrepublik inklusive Taiwan. „Das wäre der Tod für unser Land.“ Auch das Modell „Ein-Land-zwei-Systeme“, wie es für Hongkong und Macau praktiziert werde, könne Taiwan nie akzeptieren. Die Bevölkerung dieser früher europäischen Kolonien könne ihre Regierungen nicht selbst bestimmen. Am pointiertesten drückt es der frühere Staatschef Lee Teng-hui – nun nicht mehr aktiver Politiker – aus: „Taiwan ist längst unabhängig. Es kann nur Verhandlungen von Staat zu Staat geben.“

Ist das Beharren der riesigen VR (1,3 Mrd. EinwohnerInnen) auf der winzigen „Provinz“ Taiwan (23 Mio. EinwohnerInnen auf 36.000 km2) nur eine Frage des Prinzips? Nein, denn mit der Kontrolle des Luft- und Seeraumes um die Insel wäre die VR gegenüber Japan und Südkorea in einer stark verbesserten Position und der Vorherrschaft in Asien ein Stück näher. Deshalb beobachten die Nachbarstaaten die Vorgänge um die beiden Bruder-Länder mit großer Sorge. Auch fürchten sie, in einen bewaffneten Konflikt hineingezogen zu werden. Die ungeklärte Beziehung VR-Taiwan ist somit einer der brisantesten schwelenden Konflikte im südostasiatischen Raum.
Die Übernahme Taiwans oder die Wiedervereinigung brächte der VR außerdem einen riesigen finanziellen Input. Taiwan ist ein reiches Land. Das Bruttosozialprodukt pro Kopf beträgt fast 13.000 US-Dollar (Österreich 25.000 Dollar). Taiwan steht im internationalen Handel weltweit an 14. Stelle. Das Land besitzt 113 Mrd. Dollar an Devisenreserven, liegt damit global an dritter Stelle. In puncto Konkurrenzfähigkeit liegt es auf Platz sieben. Die Auslandsverschuldung ist unerheblich. Die Industrie, allen voran die High-Tech-Branche, ist hoch entwickelt. Taiwan ist drittgrößter Produzent von Computer-Notebooks (13 Mio. Notebooks 2001). 1999 machten die taiwanesischen Exporte 148 Mrd. Dollar aus, gegenüber 140 Mrd. Dollar an Importen.
Freudig wurde in Taipei die kürzliche Aufnahme Taiwans in die WTO begrüßt. Zwölf Jahre hatte man sich darum bemüht. (Doch erst musste die viel schwierigere Aufnahme der VR über die Bühne.) Im allgemeinen Jubel – der vor allem die internationale Akzeptanz der Insel im Auge hat – gehen warnende Stimmen einzelner Wirtschaftsfachleute (noch) unter. Sie äußern ähnliche Besorgnis wie in anderen Ländern: nachteilige Folgen für einzelne Sparten, vor allem die Landwirtschaft, durch Billigimporte; Zunahme der Arbeitslosigkeit; steigender Konkurrenzdruck durch ausländische Investitionen.
Das wirtschaftlich erfolgsgewohnte Taiwan ist im letzten Jahr wie andere Staaten auch ohnedies in eine Rezession geschlittert. Die Exporte sanken 2001 um 17 Prozent (wobei der Computer-Markt am stärksten betroffen ist), die Importe um 22 Prozent. Nicht zuletzt hatten die Terroranschläge in den USA enorme ökonomische Auswirkungen auf das exportabhängige Taiwan. Die Voraussagen für das Wirtschaftswachstum wurden für 2002 von vier auf zwei Prozent revidiert.

Der WTO-Beitritt hat für Taiwan zusätzliche Brisanz: Wie wird er sich auf die Gestaltung der Beziehungen zur VR auswirken? Wenngleich der direkte politische Dialog derzeit ausgesetzt ist, ist der persönliche, der kulturelle und der wirtschaftliche Austausch rege. Trotz zahlreicher Beschränkungen auf beiden Seiten gingen im Jahr 2000 bereits 23 Prozent der Exporte in die VR und Hongkong (erstmals mehr als in die USA). Und mehr als die Hälfte der Auslandsinvestitionen Taiwans wird in der VR getätigt, der Großteil über Firmensitze in Hongkong und Macau. Die Privatwirtschaft drängt auf weitere Öffnung. Es lockt vor allem die billige Arbeitskraft in der VR. ExpertInnen warnen vor einem Exodus der taiwanesischen Betriebe, einer Aushöhlung der heimischen Industrie und einer zu großen Abhängigkeit vom chinesischen Markt.
Ob es im Rahmen der WTO einen freien Markt zwischen Taiwan und der VR geben wird, ist noch völlig offen. Und nur wenige glauben, dass der WTO-Beitritt beider Länder den politischen Dialog positiv beeinflussen wird. Es könnte sogar sein, dass sich die VR auf das Ein-China-Prinzip beruft und auch alle Wirtschaftsangelegenheiten mit Taiwan zur internen Angelegenheit erklärt.

Trotz der Euphorie über den WTO-Beitritt sind laut einer aktuellen Umfrage 46 Prozent (fünf Prozentpunkte mehr als vor einem halben Jahr) der Bevölkerung Taiwans der Meinung, der internationale Status ihres Landes verschlechtere sich. Die zunehmende politische und wirtschaftliche Bedeutung der VR China kratzt am Selbstbewusstsein der Taiwanesen. Nur 8,6 Prozent sprechen sich jedoch für eine Wiedervereinigung unter der Formel „Ein-Land-zwei-Systeme“ aus, 72 Prozent sind dagegen. Eine andere Umfrage zeigte auf, dass sich nur ein Viertel wünscht, die Idee der Unabhängigkeit solle voran getrieben werden. Zu groß ist die Furcht vor Pekings Reaktionen. Die Mehrheit will keine Veränderung in der Beziehung zur VR, obwohl die Unsicherheit und Unklarheit des Status quo das gesamte politische Leben auf der Insel beeinflussen.

Brigitte Pilz, freie Mitarbeiterin des SÜDWIND-Magazins, hielt sich im Oktober und November 2001 in Taiwan auf. Fotos von der Autorin.

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