Im Zeitalter der kleinen Schritte

Von Rainer Falk · · 2005/10

Ein Weltgipfel zwischen Hoffnung und Enttäuschung war der Millenniumsgipfel in New York. Er repräsentierte ziemlich genau das heute denkbare Spektrum der Möglichkeiten, meint Rainer Falk.

Es war keineswegs Zufall, dass die Hoffnung auf diesem größten UN-Gipfel aller Zeiten nicht von den Plenumsveranstaltungen der über 150 Staats- und Regierungschefs ausging, die sich vom 14. bis 16. September in New York versammelt hatten. Vielmehr sorgten die eher bescheidenen Veranstaltungen am Rande dafür, dass das Großereignis nicht ganz abgeschrieben werden musste. So nutzte die „Lula-Gruppe“, zu der inzwischen neben den beiden Initiatoren Brasilien und Frankreich auch Chile, Spanien, Algerien und Deutschland gehören, den Gipfel dazu, um die neuesten Initiativen ihrer „Aktion gegen Hunger und Armut“ vorzustellen. Die wichtigste ist die Einführung einer Flugticket-Abgabe durch Frankreich und Chile schon ab 1. Jänner 2006.
Mit dieser Abgabe soll der praktische Beweis erbracht werden, dass „innovative Finanzierungsmechanismen“ in der Entwicklungszusammenarbeit praktikabel sind, um schnell Geld zu mobilisieren und damit den Anstrengungen zur Realisierung der Millenniumsziele, z.B. der Halbierung der absoluten Armut oder der Verringerung der Kindersterblichkeit um zwei Drittel bis 2015, den erforderlichen Impuls zu geben.

Beide Initiativen – ebenso wie der Stufenplan der EU zur Erhöhung der Entwicklungshilfe bis 2015 auf 0,7% des Bruttonationaleinkommens (BNE) oder die Beschlüsse des G8-Gipfels von Gleneagles – werden in der Abschlussresolution des New Yorker Gipfels zwar wohlwollend erwähnt und zur Kenntnis genommen, aber das eher im Rahmen eines A-la-carte-Menüs, aus dem sich jedes Industrieland das Passende heraussuchen kann. Eine gemeinsame Finanzierungsinitiative der Staatengemeinschaft zur Realisierung der viel beschworenen neuen Partnerschaft zwischen Nord und Süd, wie sie das Millenniumsziel Nummer 8 vorsieht, findet sich in dem 35-seitigen Abschlussdokument nicht.
Es war dieser fehlende Mehrwert, der die meisten NGOs von „tiefer Enttäuschung“ und „verpassten Chancen“ reden ließ. Realistisch waren die hohen Erwartungen freilich nicht mehr, seit die Bush-Regierung ihren neuen UN-Botschafter John Bolton ins Rennen schickte, um den Entwurf des Outcome-Dokuments mit mehreren hundert Änderungsvorschlägen bis zur Unkenntlichkeit zu verwässern. Dabei wollten die US-PolitikerInnen zeitweise selbst von dem Begriff der Millenniumsziele nichts mehr wissen, den sie andernorts, zuletzt in Gleneagles, zumindest verbal anerkannt hatten. Es hätte also alles noch viel schlimmer kommen können. Dass sich Präsident Bush dann in seiner Rede zu eben diesen Zielen bekannte und seltsam konziliante Töne anschlug, gilt nach dieser Vorgeschichte für viele, etwa für den von Kofi Annan eingesetzten Leiter des UN-Millenniumsprojekts, Jeffrey Sachs, schon als Erfolg einer mobilisierten Weltöffentlichkeit.

Tatsächlich repräsentiert das Ergebnis des New Yorker Gipfels in entwicklungspolitischer Hinsicht ziemlich genau das heute denkbare Spektrum an Möglichkeiten. Dabei erfordert dessen Realisierung unter den gegebenen Kräfteverhältnissen selbst noch ein hohes Maß an Aufrechterhaltung von öffentlichem politischem Druck. Beispiel Handel: Hier sind die Beschlüsse mit am schwächsten, was nicht zuletzt auf den Umstand zurückzuführen ist, dass der UNO in punkto Handelspolitik schlicht das Mandat verweigert wird. Beispiel Entschuldung: Hier geht das Dokument ein wenig über die Beschlüsse von Gleaneagles hinaus und betont, die Finanzierung von Schuldenerlassen dürfe nicht aus bestehenden Hilfebudgets erfolgen, und auch über den Kreis der hoch verschuldeten ärmsten Länder (HIPC) hinaus gebe es einen dringenden Entschuldungsbedarf.
So sehr die Millenniumsziele mit dem Gipfel endgültig zum prägenden Konzept der internationalen Entwicklungspolitik für die nächste Etappe geworden sind (an dem sich künftig alle, auch IWF und Weltbank, messen lassen müssen), so wenig kann der Gipfel nur nach seinen entwicklungspolitischen Beschlüssen beurteilt werden. Die entscheidende Frage war vielmehr, ob der Paket-Ansatz von UN-Generalsekretär Kofi Annan tragen würde, die Überprüfung der Millenniumsziele mit einem Anlauf zu einer groß angelegten Reform der Vereinten Nationen zu verbinden und einen neuen Multilateralismus zu etablieren. Dieses Kalkül ist offensichtlich nicht aufgegangen.

Die Vision einer neuen Weltordnung mit verbesserter Repräsentanz der Länder des Südens in internationalen Entscheidungsprozessen, mit einer gestärkten Effizienz der Weltorganisation, mit neuen Schritten zu nuklearer Abrüstung und der Begrenzung der Weiterverbreitung von Atomwaffen hat in New York teilweise gar nicht oder allenfalls nur teilweise Gestalt angenommen. Immerhin spricht einiges für die Interpretation, die nach dem EU-Entwicklungskommissar Louis Michel jetzt auch Kofi Annan übernommen hat: Ein halbvolles Glas ist besser als ein leeres. Vor allem der gemeinsame Beschluss zu einer neuen Verantwortung der Staatengemeinschaft für den Schutz vor Völkermord, ethnischen Säuberungen und massiven Menschenrechtsverletzungen könnte ein neues Kapitel in der Weiterentwicklung des Völkerrechts einleiten. In anderen Fragen, etwa in Bezug auf die Stärkung der UNO beim Peacekeeping, Peacemaking und Peacebuilding oder dem neu beschlossenen UN-Menschenrechtsrat, muss die Vollversammlung noch gehörig nachbessern.


AutorenInfo:
Rainer Falk ist Soziologe und Herausgeber des monatlich erscheinenden Informationsbriefs „Weltwirtschaft & Entwicklung“ (W&E); im Internet unter: www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org. Er lebt in Luxemburg und war auf dem Millenniumsgipfel in New York dabei.

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