Land in Geiselhaft

Von Nikki van der Gaag · · 1999/11

Seit vor neuen Jahren die UN-Sanktionen über den Irak verhängt wurden, fehlt es dort an allen lebensnotwendigen Dingen. Eine Lokalaugenschein von New Internationalist-Redakteurin

Erzählen Sie mir nichts über die Menschenrechte“, erklärt Nasra al-Sa’adoun streng. „Eure Auffassung davon ist mir zu einfach: Der Westen steht für das Gute und der Irak für das Schlechte. Ihr denkt, Ihr habt das Recht, Euch in unsere Angelegenheiten einzumischen, weil Ihr das schon immer so getan habt.“

Nasra ist eine freundliche Frau mit angegrautem Haar mit einem Abschlußzeugnis der Pariser Sorbonne-Universität und einem historischen Wissen über Großbritannien, das meines bei weitem übersteigt.

Ihr Großvater hat als damaliger irakischer Premierminister im Alter von 40 Jahren den Freitod einer Unterwerfung unter das Empire vorgezogen.

Mustapha, Nusras Gefährte und Ehemann, ist am 17. Januar dieses Jahres, dem neunten Jahrestags des Beginn des Golfkriegs, plötzlich im Alter von 52 Jahren gestorben. Niemand weiß, warum so gesunde und muntere Menschen wie Mustapha einfach zusammenbrechen und ihre Familien in tiefem Schmerz zurücklassen. Das ganze Land Irak ist überzogen von schwarzen Bannern, die von einem Todesfall künden.

Die Sanktionen gegen den Irak sind die drakonischsten, welche die UNO jemals verhängt hat. Es sind auch die einzigen in diesem Jahrhundert, bei denen ein (mit wenigen Ausnahmen) vollständiges Wirtschaftsembargo ausgesprochen wurde – nicht beschränkt auf bestimmte Güter oder Regionen. Für Sabah Al-Mukhtar, einen in London lebenden Iraker und Präsident der Liga Arabischer Rechtsanwälte, befindet sich „das ganze Land in Geiselhaft, wobei ihm die notwendigen Lebensgrundlagen verweigert werden“.

Denis Halliday, ehemaliger Koordinator für humanitäre Angelegenheiten im Irak, der von seiner Position zurückgetreten ist, weil er nicht mehr länger ein Regime von Sanktionen verwalten wollte, drückt es noch härter aus: „Wir sind dabei, eine ganze Nation zu zerstören. Es ist so einfach und so erschreckend. Außerdem ist es ungesetzlich und unmoralisch.“

Die Zahlen sprechen für sich. Laut UNICEF sterben jeden Monat zwischen 5.000 und 6.000 Kinder an den direkten Folgen der Sanktionen. Die Kindersterblichkeitsrate ist von 48 je 1.000 im Jahr 1990 auf 122 je 1.000 im Jahr 1997 gestiegen. Eins von vier Kindern leidet an Unterernährung, das bedeutet einen Anstieg um 73 Prozent seit 1991.

Dabei sitzt das Land immer noch auf den wahrscheinlich zweitgrößten Ölreserven der Welt. Im Mai 1996 wurde dem Irak zwar gestattet, eine bestimmte Menge an Erdöl im Austausch gegen Lebensmittel auf den Markt zu bringen, doch das konnte die Situation auch nur marginal entspannen. Die Ölpreise bleiben konstant ziemlich niedrig und es fehlt an der nötigen Infrastruktur, um die erlaubte Ölmenge überhaupt zu fördern.

47 Prozent der Einnahmen fließen in einen UN-Fonds. Die 1,5 Mrd. US-Dollar, die die irakische Regierung schließlich erhält, reichen für humanitäre Güter für sechs Monate. Es kostet allein 600 Mio. US-$, in dieser Zeit alle Leute mit einem Kilo Zucker zu versorgen.

Die Entbehrungen sind nicht nur physischer, sondern auch psychischer Natur. Viele aus der Elterngeneration der heutigen Jugend genossen eine hervorragende Ausbildung, waren wohlernährt und weitgereist. Die jetzige Generation lebt zornig, hungrig und isoliert von der restlichen Welt.

Die neuen jungen Kader der regierenden Ba’ath-Partei sind der Meinung, Präsident Saddam Hussein und die jetzige Regierung hätten dem Westen zu viele Zugeständnisse gemacht und vertreten einen weitaus härteren Kurs. Andere junge Leute sehen den Feind schlicht in den USA.

Die Eltern der siebenjährigen Dina arbeiten beide als Zivilingenieure. Das Mädchen zeigt mir stolz seine ausgesprochen detailreichen und phantasievollen Zeichnungen Unter den Prinzessinnen und Meerjungfrauen, Mama, Papa und Schulfreunden befindet sich auch ein Blatt mit einem Soldaten. Vom rechten Rand aus zielt er auf etwas auf der linken Seite des Bildes. Ihre Eltern erklären ziemlich verlegen. „Sie sagt, das ist ein amerikanischer Soldat, der Blumen erschießt. Sie sagt, die Amerikaner mögen keine Blumen.“

Wie alle Kinder im Irak hat Dina den Westen bisher nur als aggressiv und rigoros erlebt. In ihrem Garten blühen zwar die Blumen, aber beinahe die Hälfte aller Palmen in ihrer Heimat, aus der früher 80 Prozent des weltweiten Dattelbedarfs exportiert wurden, sind abgestorben. Schuld daran ist nicht nur der allgemeine Mangel an Spritzmittel und Dünger. Der radioaktive Niederschlag als Folgeerscheinung des Golfkriegs belastet die gesamte Umwelt im Irak.

Zusätzlich ist die Bevölkerung im Nord- und Südteil des Landes seit dem Beginn der Operation Wüstenfuchs im Dezember letzten Jahres regelmäßigen Bombardments durch Großbritannien und die USA ausgesetzt.

Die beiden Großmächte rechtfertigen ihren Bombeneinsatz als Schutzmaßnahme für die Zivilbevölkerung , indem sie in der für den irakischen Flugverkehr gesperrten Zone militärische Ziele angreifen.

Doch drei Kilometer westlich des Dorfes Basheka, das für seinen Weinbau bekannt ist, waren weit und breit keine militärischen Anlagen oder Camps. Schafhirten und Schafe blieben die einzigen Opfer des Angriffs.

Jawdat al Kazzi ist ein Geistlicher aus dem südlichen Libanon, der seit 13 Jahren im Nordirak lebt. Hinter seiner würdevollen Ausstrahlung spürt man seinen Zorn: „Wenn Clinton und Blair echte Christen wären, würden sie uns das nicht antun! Die Iraker haben alles verloren bis auf ihre Moral. Die Menschen hier im Land verfügen über eine große moralische Kraft.“

Wir sitzen im flackernden Schein einer Öllampe in einer Dominikanerkirche. Die Ehefrau Napoleons des III. hat einst die Kirchenglocke gestiftet. Der Priester weist auf die Widersprüchlichkeit im Standpunkt Washingtons hin: „Es gibt einen Maßstab für den Irak und einen anderen für die Freunde der USA, z.B. für Israel. “

Bisher haben die Sanktionen und Bombardments das Gegenteil des ursprünglich beabsichtigten Zieles erreicht. Sie haben die herrschende Regierung eher gestärkt als geschwächt. Saddam Hussein wurde für viele im Irak wie im gesamten Nahen Osten zur Symbolfigur für den irakischen Widerstand und die Entschlossenheit, sich unter keinen Umständen dem Druck des Westens zu beugen.

Inerhalb des Landes wird keine Opposition beduldet. Die Oppositionsbewegung im Exil bleibt durch ihre Gespaltenheit (eine Liste des US-Außenministeriums beinhaltet derzeit 85 Parteien) völlig ineffektiv.

Der westlichen Öffentlichkeit wird glauben gemacht, der Irak sei an allem schuld.

Mit dem Golfkrieg wurde der irakische Präsident Saddam Hussein zum weltweit meistgehaßten Politiker erkoren. Dabei ist die ganze Regierung, nicht nur der Präsident – für die Unterdrückung der Opposition die Verhaftung und Exekution ihrer politischen Gegner verantwortlich zu machen. Das wird gerne als Verfolgung von Minderheiten dargestellt, was aber so nicht stimmt. Die Regierung in Bagdad gestattet ihren Minderheiten, einschließlich der Kurden, mehr Freiheit in der Ausübung ihrer religiösen und kulturellen Praktiken als dies in jedem anderen Staat des Nahen und Mittleren Ostens praktiziert wird, vorausgesetzt, daß sie keine nationalen Unabhängigkeitsansprüche erheben. Wer solches im Sinn hat, wird als Bedrohung angesehen und einfach nicht toleriert. Im Jahresbericht 1999 von Amnesty International werden der irakischen Regierung „Folter und Mißhandlung von Gefangenen und Verhafteten“, sowie Hunderte von Exekutionen und Tausende Fälle von „Verschwinden“ vorgeworfen. Ein Anschuldigungsprofil, das sich nicht wesentlich von anderen diktatorischen Systemen in anderen Erdteilen unterscheidet.

Die irakische Bevölkerung nahm im Zeitraum zwischen 1984 und 1989 durchschnittlich 3.372 Kalorien pro Tag zu sich (zum Vergleich: das Tagesminimum beträgt 2.100). Die Analphabetenrate war auf fünf Prozent gesunken (der Irak hatte dreimal in Serie den UNESCO-Preis für Lese- und Schreibfertigkeit erhalten), 92 Prozent der Bevölkerung hatten sauberes Wasser und 93 Prozent Zugang zu einer Klinik oder einem Krankenhaus.

Erziehungs- und Gesundheitswesen waren kostenlos und Iraks Sozialfürsorge galt als eine der umfassendsten und großzügigsten in der gesamten arabischen Welt.

Stolz konnte der Irak auf die Unterstützung verweisen, die er anderen bedürftigen Ländern angedeihen ließund seine herausragende Rolle im politischen Machtgefüge in Nahost. Wirtschaftliche Rechte standen gegenüber der Freiheit des Einzelnen immer im Vordergrund. Heute ist den BürgerInnen im Irak beides abhanden gekommen.

INI = Die Sanktionen waren vom UN-Sicherheitsrat am 6. August 1990 – noch vor dem Golfkrieg – mit der Absicht verhängt worden, den Irak zum Abzug seiner Truppen aus Kuweit zu veranlassen. Warum hat man sie dann nicht aufgehoben, nachdem dieses Ziel militärisch durchgesetzt worden war?

Der Westen erklärt, die Führung in Bagdad halte sich nicht an die UNO-Resolutionen. Die USA haben jedoch in mehreren Etappen die Aufhebung der Sanktionen weniger an die Inspektion der Waffenarsenale bzw. deren Abrüstung als vielmehr an die Ablöse Saddam Husseins als Präsident geknüpft. Die Voraussetzungen für die vollständige Aufhebung der Sanktionen sind derart komplex gestaltet, daß es beinahe unmöglich scheint, sie jemals zu erfüllen.

Die Menschen im Irak sind diesbezüglich pessimistisch. Sie glauben, die USA wollen dem Irak als politische Kraft in der Region die Hände gebunden halten und das irakische Öl vm Markt fernhalten.

1996 konfrontierte der US-Journalist Lesley Stahl Madeleine Albright, damals US-Botschafterin bei der UNO, damit, daß laut Schätzungen die Sanktionen bereits einer halben Million Kinder das Leben gekostet hätten.

Albright stellte die Zahl nicht in Abrede und gab zur Antwort: „Es ist eine sehr schwere Entscheidung, aber der Preis – wir glauben, daß es den Preis wert ist.“

Als ich mich bei Nasra vor meiner Abreise bedanke, erklärt sie mir unverblümt: „Was ich gesagt habe, habe ich nicht Ihnen zuliebe gesagt, sondern meinem Land zuliebe.“ Dabei klingt der ganze Stolz und die Hingabe ihres Großvaters für sein Land durch. „Kürzlich wurde ich von einem anderen Ausländer gefragt“, fügt sie mit einem stillen Lächeln hinzu, „was er Leuten antworten solle, warum sich das irakische Volk nicht gegen Saddam Hussein erhebe. Ich empfahl ihm: Sagen Sie ihnen, Sie sollen sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern. Hebt das Embargo auf und laßt uns unser Land selber wiederaufbauen.'“

copyright New Internationalist

Übersetzung: Wolfgang Smejkal

Nikki van der Gaag ist Redakteurin des NI

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