Mann und Musikerin zugleich

Von Susanne Böhm · · 2006/09

Ausgerechnet in der traditionellen Musik schaffen sich homosexuelle Männer in Mauretanien eine Nische, die ihnen einen gewissen Freiraum gewährt. Sie übernehmen den weiblichen Part und treten öffentlich mit Musikerinnen auf. Dabei ist Homosexualität in der islamischen Republik tabu.

Traditionell kennt die Musik in Mauretanien strikte Geschlechtergrenzen: Männer spielen die Laute, genannt tidinit, und Frauen die Winkelharfe ardin. Selbst die Herstellung der ardin ist reine Frauensache, wie Frauen allgemein eine starke Position in der mauretanischen Musik einnehmen. Seit einiger Zeit ist es jedoch auch möglich, dass ein Mann mit betont femininem Auftreten neben der Musikerin sitzt und eine ardin baut – oder sogar darauf spielt! Männer, die den weiblichen Part übernehmen und gemeinsam mit Musikerinnen auftreten, sind inzwischen ein üblicher Anblick.
In Mauretanien werden sie „gor-djigène“ genannt, ein Wort aus dem Wolof, das soviel wie Mann-Frau bedeutet. Gemeint sind damit homosexuelle Männer, wobei die direkte Anrede mit gor-djigène als beleidigend gilt. Galgala, ein etwa 30 Jahre alter gor-djigène, der sich einer bekannten Musikerfamilie angeschlossen hat, nennt sich nun Aïcha. Er ist daran, eine ardin zu flicken, als er mit hoher Stimme aufschreit: „Jetzt hab ich mich in den Finger gestochen.“ Mari Mint Nana, die Besitzerin des Instruments, sitzt daneben und gibt ihm Tipps für die handwerkliche Arbeit. „Weißt du“, vertraut sie mir später an, „ich arbeite und unterhalte mich gerne mit Galgala. Solche Männer können Frauen einfach besser verstehen, und ich habe zu ihm mehr Vertrauen als zu vielen meiner Freundinnen.“ In der Tat übernehmen gor-djigène häufig die Rolle des Vermittlers, wenn sich etwa eine neue Beziehung anbahnt oder es sonst Probleme unter Freundinnen und Freunden gibt.

Männliche Homosexualität gilt im Islam, wie in der jüdisch-christlichen Tradition, als Sünde. Über Schwere und Bestrafung gibt es unterschiedliche Auslegungen. In manchen islamischen Ländern wie Jemen und Saudi-Arabien droht schwulen Männern die Todesstrafe, während die Regeln bezüglich weiblicher Homosexualität diffuser sind. Dementsprechend tabu ist Homosexualität in Mauretanien. Auch hier gilt: Was nicht sein darf, wird nicht erwähnt oder diskutiert. Vor allem noble Familien, die ihre „festen“ MusikerInnen haben, meiden das Thema. Sidi, ein Ingenieur aus einer noblen Familie in der Hauptstadt Nouakchott, umschreibt den widersprüchlichen Umgang mit Homosexuellen so: „Sie werden akzeptiert, wie sie geboren worden sind, mit all ihren Neigungen. Aber das Ausleben ihrer Triebe und ihr feminines Benehmen werden nicht akzeptiert und sind tabu.“
Deshalb ist es nicht einfach, mit den Leuten über die gor-djigène zu sprechen. Falls man trotzdem Gelegenheit dazu hat, wird schnell klar, dass damit sehr unterschiedliche Vorstellungen verbunden sind. Der Begriff selbst wird auf mehrere Arten definiert: Ein Mann, der die Gesellschaft von Frauen sucht; der sich gerne wie eine Frau benimmt und wie sie kleidet und schminkt; ein Mann, der mit anderen Männern eine Geschlechtsbeziehung hat oder auch ein Mann, der keine Kinder zeugt und quasi als geschlechtslos gilt. Der Griot Mohamed Ould Dendeni erzählt über den gor-djigène, der sich seiner Familie angeschlossen hat, dass dieser einige Zeit verheiratet war. „Natürlich hat er aber keine eigenen Kinder“, fügt er verschmitzt lächelnd hinzu.
Das Phänomen dieser „Mann-Frauen“ ist relativ neu und wird ziemlich übereinstimmend seit etwa 20 Jahren beobachtet. Welche Veränderungen der Gesellschaft haben es ermöglicht, dass diese verachteten oder gemiedenen Männer als Musiker einen einigermaßen akzeptierten Platz innerhalb des sozialen Systems einnehmen konnten?

Zwei Phänomene haben die mauretanische Gesellschaft tiefgehend verändert: Die Sesshaft-Werdung und die Landflucht der Bevölkerung. Klimabedingt war bis vor etwa 30 Jahren der größte Teil der Bevölkerung als Nomaden unterwegs. Die Lebensbedingungen in der Wüste waren hart und die Leute, die mit ihren Tieren und bescheidenem Anbau überleben wollten, waren gezwungen, ihre Standorte nach dem unregelmäßig fallenden Regen zu richten. Sie wohnten in Zelten und zogen während des ganzen Jahres umher.
1965 betrug der Anteil der Nomaden an der gesamten Bevölkerung fast 80 Prozent. 35 Jahre später waren weniger als fünf Prozent nicht sesshaft. Auch in der Verstädterung zeigt sich dieselbe rasante Entwicklung. Während 1950 erst zwei Prozent der Bevölkerung in Städten lebten, sind es heute fast zwei Drittel. Nouakchott gilt als eine der am schnellsten gewachsenen Städte der Welt. Sie wurde 1957 von der französischen Kolonialmacht als Hauptstadt bestimmt und hatte damals nur etwa 500 EinwohnerInnen. Heute liegt die Einwohnerzahl knapp an der Millionengrenze.
Vor diesem Hintergrund ist es erstaunlich, dass sich viele Traditionen und Normen erhalten haben. Mit der neuen städtischen Lebensform ist es aber möglich geworden, manche Tabus aufzuweichen. Die Leute sind nicht mehr im selben Ausmaß wie früher gezwungen, mit ihrer Familie und in ihrem genau vorgegebenen Sozialsystem zu leben. Es ist eher möglich, sich zu lösen und sich anderen Gruppen anzuschließen. So konnten sich die gor-djigène mit der Kaste der MusikerInnen zusammentun. Sie schufen sich dort einen Bereich, in dem sie von der Gesellschaft zumindest toleriert werden.

Es ist kein Zufall, dass sich die „Mann-Frauen“ gerade der Gruppe der Griots angeschlossen haben. Die ersten schriftlichen Berichte von europäischen Afrikareisenden im 18. Jahrhundert stellen fest, dass sich die Berufskaste der Musizierenden von der übrigen Bevölkerung abhebt. Dem weißen Beobachter stachen die MusikerInnen durch ihr „unverschämtes Auftreten“ ins Auge. Im Gegensatz zu anderen Mitgliedern der Gesellschaft dürfen Griots und Griotes durch Musik, Sprache und Mimik Emotionen öffentlich ausdrücken. Sie brechen Tabus, erzählen Obszönitäten und sind nicht zu Ehrerweisungen verpflichtet. Aufgrund ihrer sozialen Stellung werden sie eher verachtet, denn sie stehen in der Kasten-Hierarchie auf der vorletzten Stufe. Nur die ehemaligen SklavInnen haben einen noch niedrigeren Status. „Sie werden verspottet und bezahlt“, drückt es eine gängige Redewendung aus. Zwar gibt es sehr berühmte und reiche Musikerfamilien. Für deren Töchter wäre es aber unmöglich, etwa einen Mann aus einer noblen Krieger- oder Maraboutfamilie zu heiraten. Allenfalls für die Söhne werden Ausnahmen toleriert. Für sie sei es immer klar gewesen, einen Griot zu heiraten und in der Tradition zu bleiben, erzählt die Griote Mari. Und sie verweist lächelnd auf ihre sechsjährige Tochter: „Auch sie wird einmal einen großen Griot zum Mann haben.“
Gleichzeitig verfügen Griots über Einfluss, zum Teil auch Reichtum und Zugang zu wichtigen Leuten. Der Preisgesang, eine Jahrhunderte alte westafrikanische Tradition, hat in Mauretanien bis heute nichts an Popularität eingebüßt. Wohl ist er nicht mehr das Nachrichten- und Geschichtsmedium von früher, sondern mehr Unterhaltungsmusik bei Festen und sozialen Anlässen. Trotzdem kommt keine Präsidentschaftswahl ohne Preisgesänge für die Kandidierenden aus. Die Musizierenden sind mit dem Wort verbunden. Es ist ihr Werkzeug, ihr Werkstoff, aber auch eine gefährliche Waffe. Sie informieren, zugleich können sie aber auch als SchmeichlerInnen und LügnerInnen auftreten oder sogar singend über die Noblen herziehen, die geizig waren und ihnen nichts gegeben haben. Ihr Status ist ambivalent, sie werden verachtet und verehrt.
Anders als im früheren Nomadentum sind die heutigen Griots weniger und seltener an eine noble Familie oder an einen Herrscher gebunden und somit unabhängiger. Dadurch können sie kritischer auftreten, und sie werden von manchen dafür sogar gefürchtet.

Sind es die besondere soziale Stellung der Musizierenden und die größere Bewegungsfreiheit sexueller Minderheiten, aufgrund derer diese beiden Gruppen zusammen gefunden haben? Tatsache ist, dass gor-djigène als Musizierende inzwischen ein häufiger Anblick sind, wenn auch lange nicht jede Musikerfamilie mit einem zusammen arbeitet. Sie sind an der Organisation von Taufen und Hochzeiten beteiligt und unterhalten und animieren die Gäste bei gesellschaftlichen Anlässen. Die so genannten Mann-Frauen haben sich damit einen Platz in einem strikt hierarchischen System geschaffen, in einer Gesellschaft, in der Homosexualität ein Tabuthema ist und Liebe zwischen Männern unter Strafe steht.

Susanne Böhm ist Ethnologin und promoviert am Musikethnologischen Archiv der Universität Zürich über die Rolle der Musikerin in der Gesellschaft Mauretaniens. Sie hat mehrere Jahre in Mauretanien gelebt.

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