Menschenrechte unter dem Halbmond

Von Werner Hörtner · · 1999/03

Die Türkei ist eine der beliebtesten Urlaubsdestinationen der ÖsterreicherInnen. Über die Menschenrechtssituation im Land am Bosporus hört man wenig – und viele der Reisenden wollen auch nichts davon wissen.

„Seit nunmehr bald vier Jahren weint sie jeden Tag um ihn“, erklärt die junge Kurdin die beklemmende Szene. Ihre Mutter steht in der Mitte des Wohnzimmers und wimmert ihren Schmerz in ein blutverschmiertes ehemals weißes Leibchen, zeigt uns ein kleines Loch an der Vorderseite: die Einschußstelle. Hier drang die Kugel in den Körper ihres Sohnes, des 20jährigen Reiz K., und setzte dem jungen Leben ein abruptes Ende. Und ein völlig unverschuldetes Ende, klagt die Mutter, denn er habe nichts getan, war nur ein unbeteiligter Zuschauer.

Die Szene, die sich der junge Reiz anschauen wollte, war der größte Volksaufstand in der jüngeren Geschichte der Türkei. Nach einer Provokation der faschistischen „Grauen Wölfe“. kam es zu einer vier Tage andauernden Erhebung, die schließlich angesichts der Übermacht von Polizei und Militär wieder zusammenbrach.. 15 Menschen wurden während der Unruhen in Gazi erschossen, und einer von ihnen war der 20jährige Reiz.

Heute noch, fast vier Jahre später, stehen an der Einfahrt des Stadtviertels drohend und mahnend ein Panzer und ein Wasserwerfer.

Nach Klagen mehrerer Rechtsanwälte erließ die Staatsanwaltschaft schließlich Haftbefehle gegen acht der an dem Massaker beteiligten Polizisten; einer befindet sich auch tatsächlich in Haft. Der Prozeß wurde lange verschleppt und schließlich an ein Gericht im 17 Busstunden entfernten Trabzon abgegeben. Er läuft immer noch.

Denn wenn Richter nach internationalen Rechtsmaßstäben urteilen wollen, und vor allem bei Prozessen gegen Angehörige offizieller Institutionen, geraten sie nur zu leicht in Konflikt mit dem staatlichen Repressionsapparat. Es gibt nicht selten Divergenzen zwischen Innenministerium und Militär auf der einen und der Justizverwaltung auf der anderen Seite, erklärt Murat Celik (mit Cedille), Vorsitzender der Sektion Istanbul des „Zeitgenössischen Juristenverbandes“, der in der ganzen Türkei 2000 Mitglieder zählt. Außerdem würde die Justiz budgetär systematisch ausgehöhlt, so der Anwalt, der selbst schon zur Genüge Bekanntschaft mit den kruden Behandlungsmethoden der Polizei gemacht hat.

Schwere körperliche Mißhandlungen zur Erpressung von Geständnissen gehören zum Alltag im Polizeigewahrsam. Auch die Verkürzung der Polizeihaft auf sieben Tage in städtischen und zehn Tage in ländlichen Gebieten hat nichts an dieser Praxis geändert. Wobei sich diese Verhörmethode keineswegs auf politische Häftlinge beschränkt.

Auf über 1000 Folterfälle pro Monat schätzt Önder Özkalipci (Cedille) die Zahl allein für Istanbul, doch werden die meisten nicht angezeigt. Der frühere Gerichtsmediziner im Innenministerium arbeitet nun in einem Behandlungszentrum für Foltergeschädigte der „Türkischen Menschenrechtsstiftung“ (TIHV).

Dieser 1990 gegründete, von Amnesty International, UNO und anderen internationalen Organisationen finanzierte Verein unterhält fünf derartige Zentren in der Türkei.

Das Wartezimmer füllt sich schnell nach Öffnen der Ordination. Ein älterer Mann mit krummem Bein humpelt herein – auch er ein Opfer der Polizeihaft, wie mir der Arzt später bestätigt, doch ich getraue mich nicht, ihn auf die Ursache seines Gebrechens anzusprechen.

Neben der medizinischen und psychologischen Betreuung von Folteropfern sieht die TIHV als zweite Aufgabe die Dokumentation und Publikation von Menschenrechtsverletzungen in der Türkei. Trotz dieser brisanten Aufgabenstellung habe die Organisation heute unter keiner besonderen Repression zu leiden, lächelt Doktor Ökalipci, nur ab und zu werde jemandem ein Verfahren angehängt. In der Anfangsphase hingegen seien zwei der Mitarbeiter ermordet worden.

Die Zahl der durch Folter in den Polizeirevieren und Haftanstalten ums Leben gekommenen Personen ist erschreckend hoch. Wurden von 1983 bis 1994 insgesamt 230 Gefangene auf diese Weise ermordet, so kam es 1995, unter der Regierung von Tansu Ciller (Cedille), zu einer Explosion derartiger Vorfälle: 122 Todesfälle in einem Jahr. Und 1996 erhöhte sich diese Zahl sogar noch auf 190. Dennoch sprechen staatliche Behörden nur von fallweisen Übergriffen einzelner Beamter; Anzeigen wegen erlittener Folter bleiben in der Regel ohne Ergebnis.

Ein Hauptziel der Attacken der türkischen Sicherheitskräfte – und staatsnaher paramilitärischer Verbände wie der „Konterguerilla“ – ist der international bekannte und angesehene Menschenrechtsverein IHD. Ein wohl weltweites Unikum: eine „Massenorganisation“ – fast 17.000 Mitglieder – zum Schutz und zur Verteidigung der Menschenrechte. Mit 54 lokalen Büros im ganzen Land, mit Hunderten MitarbeiterInnen – gegen die meisten von ihnen laufen Strafverfahren. Dreizehn Mitglieder dieser 1986 gegründeten Einrichtung wurden bisher ermordet, der Vorsitzende Akin Birdal im vergangenen Mai bei einem Schußattentat schwer verletzt.

Vor der Istanbuler Sektion im alten Stadtteil Taksim stehen oft Polizeibeamte und registrieren die BesucherInnen, wird uns im Büro der IHD erzählt. Ein schneller Blick auf die Straße, doch niemand ist zu sehen. Ab und zu kommen sie auch herauf, untersuchen die Büroräume, bedrohen die MitarbeiterInnen.

Saban (Cedille) Dayanan ist Mitglied des Vorstands der Istanbuler IHD-Sektion. Durch seinen „Nebenberuf“ als Journalist und Fotograf ist er nicht nur bestens informiert über die gewalttätigen Übergriffe von Polizeiorganen bei Demonstrationen oder in der Haft. Beim Versuch der fotografischen Dokumentation solcher Übergriffe hat er bisher mehr als eine Kamera verloren …

Im vergangenen Jahr wurden 29 Chefredakteure und Eigentümer von Zeitungen und Zeitschriften inhaftiert, weiß Dayanan zu berichten. Wo Hunderte Menschen in der Haft ums Leben kommen, verschwinden, bei nie aufgeklärten Attentaten ermordet werden, kann es auch um die Pressefreiheit nicht gut bestellt sein.

Eines der Medien, die immer wieder mit Beschlagnahme, Verbot und staatlicher Willkür konfrontiert sind, ist die linke Wochenzeitschrift „Kurtulus“, was soviel wie Rettung, Befreiung bedeutet. Doch trotz aller Unterdrückungsmaßnahmen erscheint das Magazin, das sich als „Stimme des Widerstands gegen ein Unrechtsregime“ versteht, weiter.

Gülay Yücel, leitende Redakteurin bei Kurtulus, erzählt mir ungerührt detailliert von den Mißhandlungen, die sie in der Polizeihaft erlitten hat. Am 7. Oktober des Vorjahres hatte ein Polizeikommando das Zentralbüro der Zeitschrift in Istanbul gestürmt, alle Anwesenden festgenommen, Produktionsmittel zerstört und Gelder beschlagnahmt. Binnen sieben Tagen wurden die meisten aus der Polizeihaft entlassen, gegen drei Kurtulus-RedakteurInnen wurde Anklage erhoben. Bei der Verhandlung am 29. Jänner im Staatssicherheitsgericht von Istanbul wurden jedoch alle freigelassen.

Die rechtliche Begründung für die Festnahme von ZeitungsmitarbeiterInnen – vom Eigentümer bis zum Kolporteur – lautet häufig auf „Mitgliedschaft bei einer terroristischen Vereinigung“, da nach dem Anti-Terror-Gesetz am leichtesten gegen Oppositionelle vorgegangen werden kann. Es gibt jedoch in der Verfassung und verschiedenen Gesetzen 156 Artikel, die Meinungsäußerungen als Straftat aufzählen.

Bei Kurtulus hat man sich auf die staatlichen Unterdrückungsmaßnahmen eingerichtet, so gut es geht. Da fast jede Ausgabe beschlagnahmt und zensuriert wird, druckt man zuerst nur wenige hundert Exemplare und dann, nach Rückgabe der zensurierten Nummer, eine Neuauflage in der Höhe von 12.000 Stück, die durch Hauszustellung oder im Postversand im ganzen Land verteilt wird.

Auch in Wien ist Kurtulus erhältlich: In Belgien wird nämlich eine – textgleiche – internationale Ausgabe gedruckt und in ganz Europa vertrieben.

Mit jeder Zensur wird auch eine Anklage gegen Kurtulus erhoben. „Die Verfahren dauern jedoch ziemlich lang, und wenn es schließlich zum Verbot kommt, so haben wir das Formular für die Wiederzulassung unter einem neuen Namen schon vorbereitet“, verrät die junge Chefredakteurin, wobei ein Schmunzeln ihr sonst so ernstes Gesicht überzieht. Was bleibt, ist immer der – groß gedruckte – Unteritel Kurtulus, unter dem die Zeitschrift bekannt ist, während der – ganz klein beigefügte – Haupttitel nach jedem Verbot geändert wird.

Da fällt mir eine weitere Bedeutung des Namens ein, den sich die ZeitungsbetreiberInnen offensichtlich zu Herzen genommen haben: Kurtulus heißt auch Ausweg.

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