Mexican Beauty

Von Stefanie Kron und Boris Kanzleiter · · 2000/05

In der Millionenstadt Ciudad Juarez, an der Grenze zwischen Mexiko und den USA, wurden in den letzten Jahren an die zweihundert Frauen vergewaltigt und umgebracht. Viele Opfer sind einander ähnlich. Überlegungen zum sozialen Raum und zum psychologischen H

Eine Kurzmeldung in der mexikanischen Tageszeitung La Jornada von Anfang Februar: Beim Versuch sich zu erhängen erlitt eine 22-jährige Frau schwere Verletzungen. Aus Angst, von dem Mann ermordet zu werden, der sie zuvor in einer Bar gezwungen hatte, Drogen zu nehmen und sie dann in einer leer stehenden Wohnung vergewaltigte, wollte sie ihrem Leben ein Ende setzen. Die junge Frau fürchtete das gleiche Schicksal wie viele andere Frauen, die in den vergangenen Jahren vergewaltigt, gefoltert und ermordet in Ciudad Juarez aufgefunden wurden, allein drei in den

vierzehn Tagen zuvor.

In Ciudad Juarez gehört Gewalt zum Alltag. Die Mordrate liegt hier fünfmal so hoch wie in Mexiko-Stadt. Über tausend Menschen werden in Ciudad Juarez jährlich umgebracht, erstochen in Auseinandersetzungen rivalisierender Gangs, erschossen im Mafia-Stil, hingerichtet mit verbundenen Augen. Hintergrund ist oft das blühende Geschäft mit Heroin und Kokain an der Grenze.

Aufsehen erregt in Mexiko aber eine Mordserie, bei der seit 1993 mindestens 200 Frauen umgebracht wurden. Dutzende von ihnen starben wie Alma Chavira Farel: Zuerst vergewaltigt por las dos vias, dann getötet. Por las dos vias, „auf beiden Wegen“, heißt der mexikanische Euphemismus für anale und vaginale Vergewaltigung. Ihre Leichen wurden auf Müllplätzen in der Wüste rund um Ciudad Juarez gefunden, versteckt im Schutt oder einfach hingeworfen. Die Frauen, welche identifiziert werden konnten, wiesen Ähnlichkeiten auf: Fast alle waren schlank, trugen schulterlanges, dunkles Haar, kamen aus armen Familien und viele von ihnen arbeiteten in den Maquilas, Weltmarktfabriken, die vom niedrigen Lohnniveau hinter der US-Grenze

profitieren.

Ciudad Juarez ist eine Boomtown. Um die Jahrhundertwende lebten hier gerade mal Zehntausend Menschen. Heute drängen sich knapp zwei Millionen durch den Staub der pulsierenden Metropole, durch den kleinen kolonialen Stadtkern, die rasch anwachsenden Elendsviertel und die ausgedehnten Industriegebiete.

Die Erfolgsgeschichte der Stadt beginnt mit der Prohibitionszeit während der 20er-Jahre in den USA. Damals wurde Ciudad Juarez zum Vergnügungspark für US-Touristen auf der Suche nach Alkohol und käuflichem Sex. In den 40er-Jahren setzte sich der Aufschwung fort. In El Paso, der gegenüberliegenden Grenzstadt auf der US-Seite, baute die Army eine große Militärbasis.

In Ciudad Juarez boomten Prostitution und Handel. In den 60er-Jahren setzte dann das staatlich geförderte Grenzindustrialisierungprogramm ein. Die Stadt wurde zum Zentrum der Billiglohnfabrikation ausgebaut. Zahlreiche transnationale Konzerne investierten. 230.000 Menschen arbeiten in Ciudad Juarez heute in über 400 Maquiladoras, Weltmarktfabriken in Freihandelszonen an der Grenze.

Der prosperierende legale und illegale Handel ist das zweite Standbein der Wüstenmetropole. Doch auch in der traditionellen Branche des Sex- und Drogentourismus lässt sich noch immer gutes Geld verdienen.

Erste Nachrichten von den Frauenmorden gingen in den „Verbrechen“-Spalten der Zeitungen unter. Polizei und Politik reagierten gleichgültig auf die Forderung der Angehörigen nach Aufklärung. Erst die Kampagne einer lokalen Frauengruppe, die seit März 1995 gezielt auch die internationale Öffentlichkeit ansprach, brachte Bewegung. Politiker beschuldigten sich jetzt gegenseitig der Untätigkeit, die yellow-press wähnte den brutalsten Sex-Killer aller Zeiten am Werk und hatte ein auflagensteigerndes Thema entdeckt. Hysterie griff um sich.

Im Oktober 1995 nahm die Polizei dann Sharif Abdel Latif Sharif fest und präsentierte ihn der gierigen Öffentlichkeit als den verzweifelt gesuchten Serienmörder. Als US-Amerikaner ägyptischer Herkunft, der in Ciudad Juarez‘ Maquilaindustrie als Berater tätig war, erfüllte er alle

Erwartungen, die mit dem Sex-Monster verbunden wurden: fremd, irrational, pathologisch und gewalttätig.

Doch kaum saß Sharif hinter Gittern, tauchten zwei neue Leichen auf. Die These vom verrückten Einzeltäter

musste fallen gelassen werden.

Wilde Spekulationen griffen um sich. Vielleicht wurden die jungen Frauen von Organhändlern ermordet oder waren es doch Produzenten von Snuff-Pornos, wurde von der Presse voyeuristisch gemutmaßt. Vielleicht gibt es aber auch gar keinen organisierten Hintergrund der Mordserie?

Das meint die Journalistin Debbie Nathan. Sie stellt dagegen die Frage, wie ein sozialer Raum beschaffen sein muss, in dem eine solche Mordserie überhaupt möglich wird. Der alle soziale Beziehungen transzendierende Faktor in Ciudad Juarez ist die boomende Maquila-Industrie.

„Es besteht eine Verbindung zwischen der Entwicklung der Maquilas und sexualisierter Gewalt gegen Frauen, die als backlash gegen ihre sich verändernde ökonomische und soziale Rolle an Mexikos Nordgrenze erscheint“, schreibt Nathan.

Worin diese Verbindung bestehen könnte, erklärt die Soziologin Leslie Salzinger, die sich für ihre Forschungen monatelang an die Fließbänder der Maquilas gestellt hat.

Salzinger beschreibt, wie die Arbeit von vielen Betriebsleitungen tagtäglich nach detaillierten, geschlechtsspezifischen Kriterien verteilt wird. Die Aufseherin einer Maquila bringt es auf den Punkt: „Hier suchen sie nicht Arbeiterinnen, sondern Models mit kurzen Röcken und hohen Absätzen – Schönheiten.“

Die Werksleitung ist – für die ArbeiterInnen unsichtbar – in Büros hoch über den Produktionsbändern versteckt und beobachtet die Arbeitenden durch verdunkelte Fensterscheiben, während unten Aufseher, ausschließlich Männer, permanent die Gänge zwischen den Fließbändern

kontrollieren. Salzinger beschreibt, wie die Aufseher die Arbeitskontrollen sexuell aufladen, indem sie mit einigen Arbeiterinnen flirten, anzügliche Scherze oder Komplimente machen und mit

verschiedenfarbigen Karten die Arbeit der Frauen bewerten. Zusammen mit dem Flirten ergibt sich eine interne Rangliste, die mit einer einzigen Geste gleichzeitig „gute Arbeiterin“ und „begehrenswerte Frau“ meint.

Die Bedeutung von „weiblicher Schönheit“ für die Arbeitsverhältnisse in den Maquiladoras wird auch durch die regelmäßig veranstalteten stadtweiten „Miss Maquiladora“-Wettbewerbe verstärkt.

Zunehmend sind auch junge Männer in den Maquiladoras beschäftigt. Sie werden meist strikt von ihren weiblichen Kolleginnen unterschieden, sowohl was Ort und Art der Arbeit betrifft, als auch beispielsweise die Farbe ihrer Arbeitsanzüge. Dies markiert sie zwar als unterschiedlich,

trotzdem verdienen sie das Gleiche wie die Frauen, was von vielen als Schande gesehen wird, da es ihre traditionelle maskuline Identität untergräbt.

Männliche Beschäftigte, die nicht gut genug arbeiten oder sich auflehnen, werden zur Strafe in die Frauen-Werkhalle geschickt. Der Mann wird durch die Sanktion symbolisch und für alle KollegInnen erkennbar zur Frau abgestuft, eine öffentliche Demütigung in Mexikos vom

Macho-Kult geprägter Kultur.

Doch ist die Demaskulinisierung in den Maquilas Grund genug für Männer, Frauen zu überfallen, zu vergewaltigen und zu ermorden? In einer Studie über Identitätsbildungsprozesse von Menschen im mexikanischen Grenzgebiet zu den USA befragte der Soziologe Pablo Vila Hunderte BewohnerInnen von Juarez. Viele stellten dabei eine Verbindung her zwischen den Maquilas und den Bordellen der Stadt, zwischen der Arbeit in den Weltmarktfabriken und der Arbeit als Prostituierte, die ihre Dienstleistung den nordamerikanischen Sex-Touristen anbieten.

Der Norden des Landes gilt in der nationalen Mythologie Mexikos durch den mächtigen nördlichen Nachbarn einerseits als stets von außen bedroht. Genährt wird dieses Bild durch den Verlust Nordmexikos an die USA im Krieg 1847, der bis heute als „nationale Schande“ gilt.

Andererseits gelten die Nordmexikaner aber auch als nicht restistent gegen eine schleichende „Amerikanisierung“. Das bringt sie in den Ruf, latente „Verräter“ an der beschworenen nationalen Souveränität zu sein.

Sexarbeiterinnen in Städten wie Juarez bedienen mexikanische Männer genauso wie ausländische Männer, aber es sind die letzteren, die die imaginierte nationale Identität Mexikos bedrohen. Das

selbe gilt für die Maquilaproduktion. Sie wird mit Prostitution in Verbindung gebracht: Die jungen Arbeiterinnen verkaufen ihre Arbeitskraft an die potenten Investoren und Invasoren aus dem Norden.

Vila befragte auch Prostiutierte aus Ciudad Juarez über die Trennung zwischen ihrem Privatleben und der Arbeit als Prostituierte. Auch in ihren Aussagen spiegelt sich der dominante Diskurs wider. In ihrem Konzept der persönlichen Moral lehnten die meisten von ihnen, in einem Anflug von Patriotismus, den Sex por las dos vías, „auf zwei Wegen“, den Analsex mit Kunden, als schmutzig, fremd und somit „unmexikanisch“ ab.

INI: Die Vorstellung vom „Eindringen des Anderen“ parallelisiert die Verletzung der nationalen Grenzen symbolisch mit dem Eindringen in den Körper der mexikanischen Frau und vereint in der modernen Version Prostituierte und Maquila-Arbeiterin, wobei auch die Grenze zwischen

„Hingabe“ und Vergewaltigung seltsam ambivalent bleibt. Diese symbolische Konstellation knüpft an eine für die nationale Mythologie Mexikos zentrale Figur an. Demnach war die Conquista durch die Spanier nur möglich, weil Malinche, die indianische „Geliebte“ und Dolmetscherin Hernán Cortes‘, sich ihm freiwillig hingegeben hatte oder von ihm vergewaltigt wurde, was in der Geschichtsschreibung häufig gleichgesetzt wird.

Geht es um die nationale Souveränität Mexikos, taucht das Motiv Malinche in verschiedensten Formen ständig auf, als Dońa Marina, la Chingada oder eben als Prostituierte und Maquilaarbeiterin in Ciuadad Juarez. Und wie das Trauma des Verrats zu bewältigen ist, beschreibt der mexikanische Literatur-Nobelpreisträger Octavio Paz: Allein durch den ständigen Beweis der Männlichkeit, die darin besteht, hart und verschlossen zu sein und immer wieder das Weibliche „zu öffnen“, um sich der Macht zu vergewissern. Die Beziehung zwischen Mann und Frau in Mexiko, weiß Paz, „ist die der Gewalt, die von der zynischen Macht des Manns und der Ohnmacht der Frau bestimmt wird. Die Idee der Vergewaltigung überlagert dunkel alle diese Bedeutungen.“

Die Sexualmorde in Ciudad Juarez haben bis heute nicht aufgehört. 1996 wurde die Einzeltäterthese widerrufen, als die Polizei, inzwischen unterstützt von einer Sondereinheit des FBI, eine Gang junger Männer, mit dem Namen Los Rebeldes festnahm. 1998 wurde eine weitere Gang verhaftet und 1999 eine Reihe von Busfahrern vor Gericht gestellt, die für ein privates Unternehmen arbeiteten, das von einigen Werken für den Transport der Maquila ArbeiterInnen unter Vertrag genommen worden war. Die Busfahrer gaben an, von Sharif dafür angeheuert worden zu sein, Frauen, die bis zur letzten Haltestelle fahren mussten, umzubringen.

Insgesamt gibt es einige Zweifel an den Aussagen sowohl der Gang-Jugendlichen als auch der Busfahrer, da bekannt wurde, dass die Polizei Verdächtige in Untersuchungshaft gefoltert hatte, um Geständnisse zu erzwingen.

Ende Februar erschien der Bericht des US-State Departement zur Menschenrechtssituation in Lateinamerika. Im Kapitel zu Mexiko wurde unter anderem auch „das ‚Verschwinden‘ von fast

200 Frauen in Ciudad Juarez“ erwähnt – was das Problem extremer sexueller Gewalt zumindest verbal entsorgt.

Boris Kanzleiter lebt als freiberuflicher Journalist in Berlin und veröffentlichte zuletzt ein Buch über die Arbeitsmigration von Mexiko in die USA „Nach Norden“ (s. Rezension in SWM 10/99, S.47). Er arbeitete kürzlich einige Monate bei der deutschen Nach

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