Nachhaltigkeit von unten

Von Marc Diebäcker · · 2002/02

Die „Lokale Agenda 21“ wurde als weltumspannendes Projekt für Nachhaltigkeit und Partizipation auf kommunaler Ebene konzipiert. Dennoch zeigt sich auch hier ein markantes Nord-Süd-Gefälle. Eine Untersuchung über die LA21-Prozesse im Süden von Marc Diebäcker

Lokale Agenda 21 (LA21) – dieser Begriff steht seit der UN-Konferenz für „Umwelt und Entwicklung“ 1992 weltweit für nachhaltige und partizipative Prozesse auf kommunaler Ebene. Wird aber ein Blick auf die Anzahl der Gemeinden und Städte geworfen, die sich weltweit an diesem Projekt beteiligen, so zeigt sich die LA21 als ein Phänomen industrialisierter, meist europäischer Länder. Während sich in Europa derzeit rund 3.400 Städte und Gemeinden mit dem Label „LA21“ preisen (und damit signalisieren, dass sie partizipatorische Nachhaltigkeitspolitik betreiben), sind – optimistisch geschätzt – in den Ländern des Südens gerade einmal 1.200 Gemeinden auf diesen „Pfaden“ unterwegs. Die Hochburg in Asien, wo rund 600 Städte Aktivitäten zur Lokalen Agenda 21 fördern, ist mit rund 50 Prozent aller Kommunen das hoch industrialisierte Japan.
Fast zehn Jahre nach Rio stellt sich daher die Frage nach der politischen Relevanz der LA21 in Ländern des Südens: Welche Schwierigkeiten sind typisch? Welche Strukturen auf den verschiedenen Ebenen erschweren bzw. fördern eine LA21? Fragen, die sich allerdings die europäische „Agenda-Community“ nicht stellt, denn entsprechende Studien existieren so gut wie gar nicht.

Ein in New York ansässiges internationales Netzwerk lokaler Umweltinitiativen (ICLEI) – mit regionalen Büros in mehreren Kontinenten – hält das Unterfangen, in Afrika überhaupt Beteiligungsprozesse zu starten, für äußerst schwierig. „Viele zentralistisch regierte Länder stehen dem Thema ‚Good Governance’ sehr kritisch gegenüber. Befürchtungen, dass mit zunehmender Bürgerbeteiligung ein Machtverlust einhergeht, stellen große Barrieren bei Verwaltungen dar“, ist zum Beispiel in einer Studie aus dem letzten Jahr zu lesen.
Die wenigen afrikanischen LA21-Prozesse sind Mitte der 90er Jahre mit Geld von internationalen Organisationen initiiert worden. Einzelne Pilotversuche wurden gestartet und später auch als „best cases“ von ICLEI dokumentiert. Ein inhaltlicher Vergleich dieser Studien zeigt, dass Umweltthemen wie Abfallentsorgung und Wasserversorgung die wenigen afrikanischen Prozesse deutlich dominieren. Das weist auf einen ökologisch interpretierten Nachhaltigkeitsbegriff hin, wie er in westlichen industrialisierten Ländern und bei den dort ansässigen internationalen Organisationen als „Finanziers“ weit verbreitet ist.
In Afrika allerdings scheint diese Auslegung kaum anschlussfähig zu sein. Die Kenianerin Dorkas Onieto glaubt, „dass Nachhaltigkeit bei uns woanders beginnt als bei euch“ (gemeint sind die Industriestaaten; Red.) Die Professorin aus Nairobi, die über Umweltschutzunterricht an deutschen Schulen promoviert hat, leitet heute eine Nichtregierungsorganisation (NGO), die in Kenia die Koordinierung der LA-21-Aktivitäten vorantreibt. „Ich kann meine Leute nur vom Konzept der Nachhaltigkeit überzeugen, wenn für sie ein Nutzen sichtbar wird.“ Und der heißt in Kenia Armutsbekämpfung.

In Mwanza, der mit 420.000 EinwohnerInnn zweitgrößten Stadt Tansanias, ist dies zum Beispiel gelungen. In Foren und Arbeitsgruppen, in denen MitarbeiterInnen von Verwaltung, Politik, NGOs sowie Unternehmen vertreten waren, wurden Lösungsstrategien für den arg verschmutzten Victoriasee erarbeitet. Wenn diese gemeinsam entwickelten Strategien nun wirklich umgesetzt werden, profitieren eine Vielzahl von Menschen rund um den Victoriasee von den sozialen, ökologischen und ökonomischen Verbesserungen.
In Asien gilt derzeit Südkorea als ein „aufstrebendes“ Land in Sachen Agenda 21. Im September 2000 gründete die Regierung einen „Rat für Nachhaltige Entwicklung“, der nationale Initiativen zur LA21 unterstützt. Nach neuesten Schätzungen sollen inzwischen rund 70 Prozent der großen und kleineren Städte sich mit partizipativer Nachhaltigkeitspolitik auseinander setzen, womit Südkorea quantitativ gesehen mit der europäischen Spitzengruppe gleichauf liegt.

Myong-Jae Cha, Direktor des „Korea Institute for Sustainable Societies”, merkt allerdings kritisch an, dass der oft praktizierte Top-Down-Ansatz überwunden werden müsse, damit Korea wirklich eine führende Rolle unter den asiatischen Ländern spielen könne. „Leider haben die meisten Prozesse die Tendenz, von den Stadtregierungen gesteuert zu sein. Es gibt sogar Fälle, in denen nationale Regierungen oder große Städte Druck auf kleinere Kommunen ausgeübt haben.“ Das habe zur Folge gehabt, dass viele Aktionspläne sich in der Vergangenheit ähnelten und lokale Charakteristika und Lösungsansätze kaum behandelt worden seien. „Aber auch die von der Rio-Konferenz oder ICLEI empfohlenen internationalen Leitlinien müssen dringend diversifiziert werden, damit sie für die verschiedenen Regionen relevant werden“, glaubt Myong-Jae. Damit kritisiert er zurecht die sehr formalistischen Standards internationaler Organisationen, die die weltweit sehr unterschiedlichen politischen Strukturen ignorieren. Umsetzungsschwierigkeiten sind daher vorprogrammiert.
Bestätigt werden diese Thesen auch am Beispiel der LA21 der Kyonggi-Region im Nordwesten Koreas, wo rund neun Millionen Menschen leben. Dort wurden zunächst ExpertInnen ausgewählt, die einen Aktionsplan mit Schwerpunkt auf ökologischen Themen entwickelten und ihn erst nach seiner Fertigstellung der Bevölkerung vorstellten. Jährlich wird nun im Raum Kyonggi ein Wettbewerb mit einem Gesamtbudget von ca. 160.000 _ (2,2 Mio öS) ausgeschrieben, an dem sich alle NGOs beteiligen können. Im Jahr 2000 wurden zum Beispiel 25 Kleinstprojekte gefördert – vom Recyclingprojekt über Wasserqualitätsstudien bis hin zu Pflanzungen von Bäumen. Die Projekte selbst sind vielversprechend und für Korea neuartig, dennoch wünscht sich Professor Kwi-Gon Kim, Vorsitzender des Durchführungskomittees, viel mehr Beteiligung der EinwohnerInnen, was aber das derzeitige Konzept nicht zulasse.

Auch Erfahrungen in lateinamerikanischen Städten zeigen die problematische Rolle von internationalen Organisationen, die einen enormen Einfluss auf die LA21-Prozesse ausüben. Gerade Gemeinden und Städte ärmerer Länder wie Bolivien, Ecuador oder Kolumbien waren auf die finanzielle Unterstützung von außen angewiesen. Finanzielle Mittel flossen meist über nationale Ministerien und Länderregierungen zu lokalen Stadtregierungen, was Themenvielfalt und Handlungsspielraum der Bevölkerung und Akteure „vor Ort“ stark einschränkte.
Zugleich manifestierten sich die auf internationaler Ebene entwickelten Prozessstandards. So berichtete ICLEI letztes Jahr stolz: „In Südamerika wird der Fokus auf den Prozess gerichtet, der in der Regel nach einem von ICLEI geprägten Verfahren durchgeführt wird. Innerhalb dieses Prozesses konzentriert man sich auf ein Projekt.“ Damit wird die Wahrnehmung vielfältiger Lösungsansätze der lokalen Bevölkerung – Grundlage eines jeden LA21-Prozesses – von vornherein ad acta gelegt.

In südamerikanischen Städten gibt es aber auch durchaus positive Ansätze, einen LA21-Prozess „von unten“ zu initiieren, insbesondere wenn stadtteilorientiert gearbeitet wird. So zum Beispiel in Pampas de San Juan, ein in den 70er und 80er Jahren entstandenes Neubaugebiet am Rande der peruanischen Hauptstadt Lima: Dort wurde zuerst ein Nachbarschaftszentrum eingerichtet, das die EinwohnerInnen bei der Entwicklung und Umsetzung konkreter Projekte unterstützt. Gemeinschaftlich wurde zunächst das Wohnumfeld verbessert; erst später folgten größere Projekte anvisiert. Inzwischen wurde die Idee, öffentliche Parkanlagen mit bereits benutztem Wasser zu pflegen, in das Wassermanagementprogramm Limas aufgenommen, das von der japanischen Regierung finanziert wird.
Ein knappes Jahrzehnt nach Rio ist eine nüchternde Bilanz für die Lokale AGENDA 21 im Süden zu ziehen. Sicherlich haben die LA21-Prozesse zu einer Dezentralisierung der Politik in den Gemeinden beigetragen, was die Umsetzung einzelner innovativer Projekte ermöglichte. Politische Relevanz hat die Agenda 21 aber nur in einigen wenigen industrialisierten Ländern entfalten können, in denen sie von einem bereits existierenden Netzwerk aktiver NGOs aufgenommen und in der Öffentlichkeit vermittelt wurde – so z.B. geschehen in Südkorea durch die zahlreichen Umweltorganisationen.
Soll die LA21 auch in den ärmeren Ländern des Südens als ein sinnvolles Instrument für gesellschaftliche Entwicklung eingesetzt werden, müssen die zahlreichen, lokal operierenden Organisationen und Initiativen von internationalen und nationalen Institutionen als bedeutende Träger anerkannt werden. Es gilt, deren Organisationsstruktur zu stärken und auszubauen, um sie als Koordinationsstellen für die Bevölkerung nutzbar zu machen – allerdings ohne die Unterstützung an starre Ablaufschemata oder festgeschriebene Inhalte zu koppeln. Dabei darf es eben nicht, wie derzeit vielerorts üblich, lediglich zur Einbindung der NGOs kommen, sondern Problemwahrnehmungen und Lösungsstrategien der Bevölkerung müssen wirklich zugelassen werden.

Auf theoretischer Ebene zeigt sich deutlich, dass der Versuch Anfang der 90er Jahre, die damals relativ neue Strategie der „Nachhaltigen Entwicklung“ mit der „Partizipationstheorie“ auf Mikroebene zu koppeln, derzeit noch nicht gelungen ist. Solange das Konzept „Sustainable Development“ das Konzept „Human Development“ (Menschliche Entwicklung)“ nicht integriert, fehlt ihm ein wesentlicher Teilbereich für eine ganzheitliche, gesellschaftliche Entwicklung auf lokaler Ebene. Ein weit definierter Nachhaltigkeitsbegriff, der auch soziale oder ökonomische Schwerpunktsetzungen zulässt und zugleich die Verbindung von Ökologie, Ökonomie und Sozialem als Prozess ansieht, in dem den handelnden Menschen eine zentrale Bedeutung für Veränderungen zukommt, wäre eine „Erleichterung“. Nicht nur für die Länder des Südens.

www.iclei.org www.rio10.dk

Der Autor ist Sozialwissenschaftler und arbeitet zu lokalen Partizipationsprozessen und nachhaltiger Entwicklung im In- und Ausland. Derzeit koordiniert er u.a. das Wiener Pilotprojekt der Lokalen Agenda 21 im 9. Bezirk Alsergrund.

Basic

Berichte aus aller Welt: Lesen Sie das Südwind-Magazin in Print und Online!

  • 6 Ausgaben pro Jahr als Print-Ausgabe und/oder E-Paper
  • 48 Seiten mit 12-seitigem Themenschwerpunkt pro Ausgabe
  • 12 x "Extrablatt" direkt in Ihr E-Mail-Postfach
  • voller Online-Zugang inkl. Archiv
ab € 25 /Jahr
Abo Abschließen
Förder

Mit einem Förder-Abo finanzieren Sie den ermäßigten Abo-Tarif und ermöglichen so den Zugang zum Südwind-Magazin für mehr Menschen.

Jedes Förder-Abo ist automatisch ein Kombi-Abo.

84 /Jahr
Abo Abschließen
Soli

Mit einem Solidaritäts-Abo unterstützen Sie unabhängigen Qualitätsjournalismus!

Jedes Soli-Abo ist automatisch ein Kombi-Abo.

168 /Jahr
Abo Abschließen