Nichts als ein Schimpfwort

Von Redaktion · · 2010/02

Die Namensvetter der afghanischen Taliban sind im Nachbarland Pakistan zu gefürchteten und ungeliebten Kriminellen degeneriert. Aus dem heiß umkämpften Swat-Tal berichtet Eva Maria Teja Mayer.

Timergara, Hauptquartier einer Spezialeinheit des Frontier Corps in der nordwestlichen Grenzprovinz (NWFP), Mitte Oktober letzten Jahres: Die Gefechte sind vorbei, versprengte Taliban-Kämpfer halten sich noch in den Bergen. Man fahndet nach ihnen und ihren Unterstützern in Dörfern und Flüchtlingslagern. Ein Major der pakistanischen Armee präsentiert einige Gefangene. „Sie wurden von der lokalen Laschkar überstellt.“

„Laschkar“ ist das traditionelle Stammesaufgebot der Paschtunen auf freiwilliger Basis, der Kommandant ist der „Dschirga“ verantwortlich, dem Ältestenrat. „Wir kooperieren mit den Laschkars“, erzählt der Major. „Ohne Zusammenarbeit wäre ein Erfolg gegen diese Taliban-Verbrecher nicht möglich. Aber wir haben auch Informanten vor Ort.“

Die Taliban sind gefesselt, vor den Augen tragen sie dunkle Binden. „Es sind gefährliche Terroristen“, betont der Major, der auch übersetzt. Für das Interview werden die Binden abgenommen, ich darf die Männer einzeln sprechen. Javed, 24, ist verheiratet und Vater zweier Kinder, die nun bei den Großeltern leben. Warum er den Taliban beigetreten ist? „Ich wollte in den heiligen Krieg gegen die US- und NATO-Truppen in Afghanistan ziehen.“ Die Predigten eines aus Afghanistan stammenden Mullahs überzeugten ihn vom Nutzen des Märtyrertodes, der einen Ehrenplatz im Paradies verheißt. Doch daraus wurde nichts, seine Führer brauchten ihn in Pakistan für ihre eigenen Zwecke. „Es war ein Fehler“, murmelt er. Gehalt habe er von ihnen keines bezogen, sagt Javed; Insider sprechen aber von ca. 10.000 Rupien (ca. 80 Euro) Monatslohn pro Kämpfer.

Die wahren Schuldigen zu finden ist nicht leicht: Der 80-jährige zierliche Greis vor mir soll ein gefürchteter Taliban sein? „Meine Familie ist in einen Streit um Landbesitz verwickelt“, erklärt er freundlich. „Unsere Nachbarn verleumdeten meine Leute als Taliban, um den Grundbesitz an sich zu reißen. Ich will meine Angehörigen schützen, daher habe ich mich der Dschirga gestellt.“ Dem Major ist dieser „Fall“ sichtlich unangenehm. Dass man im „Krieg gegen den Terror“ auch private Rechnungen begleicht, weiß er. „Die Verhöre dauern noch an, in einigen Monaten ist alles geklärt.“

Die NWFP und die halbautonomen Stammesgebiete Pakistans entlang der Grenze zu Afghanistan galten als Hochburg der Taliban, meist einheimischer Paschtunen, aber auch Afghanistan-erprobter Kämpfer aus Arabien, Afrika, Usbekistan und Tadschikistan. Taliban und andere militante Gruppen errichteten ab Mitte 2007 eine Parallelstruktur zur Regierung. „Sie unterhielten Schariah-Gerichtshöfe, hoben Steuern ein und setzten Verdienstgrenzen fest“, berichtet General Tariq, Kommandeur des Frontier Corps. „Zunächst schwächten sie durch Ermordung vieler Stammesältester die paschtunische Stammesstruktur, dann dominierten sie die Dschirgas und trafen Entscheidungen gemäß ihrem Konzept von Islam.“

Ende 2007 wurde die Plattform der „Tehrik-i-Taliban Pakistan“ (TTP – Taliban-Bewegung Pakistans) gegründet. Nach gebrochenen Friedensabkommen mit der pakistanischen Regierung begann diese unter dem Druck der USA Ende April 2009 einen offenen Krieg gegen sie. Die derzeitige Taliban-Führungsspitze ist auf der Flucht in den Bergen und inszeniert Anschläge auch gegen ZivilistInnen; allein 2009 forderte der Terror in Pakistan 3.500 zivile Opfer. Die Menschenrechtskommission Pakistans wirft allerdings auch der Armee Folter und Tötung Gefangener vor. Die Erbitterung der Bevölkerung richtet sich nicht nur gegen die Taliban, sondern auch gegen die Angriffe von Drohnen, unbemannten Flugzeugen, durch die USA. Offizielle Zahlen sprechen von über 700 Toten letztes Jahr, auf jeden getöteten feindlichen Kämpfer kommen 140 pakistanische ZivilistInnen, die durch Drohnen starben.

„US-Drohnen nützen der Taliban-Propaganda“, sagt Mahbud, ein Beamter des Unterrichtsministeriums. Er begleitet mich durch Mingora im Swat-Tal, einem ehemaligen Touristenparadies. „Als Verbündete der USA werden unsere Soldaten von den Taliban zu Kafir, Ungläubigen erklärt, die man bekämpfen muss.“ Viele Schüler in Mingora hätten begeistert an einem freiwilligen zweiwöchigen Basis-Training der Taliban teilgenommen, wobei es neben Pistolenschießen auch pseudo-religiösen Unterricht gab. „Um sich selbst abzusichern, brachten viele Familien einen Verwandten als Mitglied bei den Taliban unter – genauso, wie man es sonst bei Polizei, Armee, Ministerien und Gericht macht.“ Besonders mit dem Versprechen von „schneller und transparenter Gerechtigkeit“ punkteten die Taliban – zu groß war die Korruption der Gerichte. Ohne Bestechung zogen sich Prozesse oft bis in die nächste Generation.

Mahbud selbst wurde von Taliban entführt und verbrachte 24 Stunden in einem ihrer Gefängnisse. Entführungen und das Erpressen von Schutzgeldern übernahmen die Taliban neben dem Schmuggel von Waffen, Drogen, Holz, Elektrogeräten etc. als einträglichen Geschäftszweig von lokalen Banden, vor denen sie die Zivilbevölkerung anfänglich schützen wollten. Bei Mahbud verlangte man kein Lösegeld. „Sie warfen mir vor, für eine amerikanische NGO zu arbeiten – ein für Taliban todeswürdiges Verbrechen.“

Dass er mit dem Leben davonkam, verdankt er den Kontakten seines Vaters, Professor Wahid. Dieser leitet ein College und ist nebenbei Anführer der militanten „Al Badr“-Mudschaheddin, die sich in Flüchtlings- und Katastrophenhilfe engagieren und im indisch besetzten Teil Kaschmirs sowie in Afghanistan militärisch aktiv sind.
„Talib“ (Arabisch für „Student“), Plural „Taliban“ (in Paschto bzw. Paschtu, der Sprache der paschtunischen Stämme im Nordwesten Pakistans und in Afghanistan). Die gefürchteten Krieger waren anfangs friedliche Schüler von Koranschulen; viele wuchsen in pakistanischen Flüchtlingslagern auf, als in Afghanistan Warlords gegen die Sowjets kämpften. USA, Pakistan und Saudi-Arabien, aber auch pakistanische Paschtunen unterstützten die Warlords. Im nachfolgenden Bürgerkrieg setzten sich Taliban-Verbände gegen die Warlords durch, doch nach sieben Jahren wurde das fundamentalistisch-islamische Taliban-Regime 2001 durch die US-geführte Invasion gestürzt.
Während die afghanischen Taliban derzeit wieder einen Großteil ihres Landes kontrollieren, stehen ihre pakistanischen Namensvetter – eine undurchsichtige Mischung aus Afghanistan-Veteranen multinationaler Herkunft, religiösen Eiferern und echten Reformern, wirtschaftlich und sozial Benachteiligten, Kriminellen und Söldnern verschiedener Herren – kurz vor dem Aus.
E.M.

Im Fastenmonat Ramadan bin ich bei seiner Familie zum gemeinsamen Fastenbrechen nach Sonnenuntergang eingeladen. „Die meisten Taliban sind ungebildet, selbst ihre Prediger wissen nichts über den Dschihad, den heiligen Krieg, den sie angeblich führen“, sagt Prof. Wahid und vergleicht den typischen Taliban-Mullah mit einem Maulesel (englisch mule). „Dschihad bedeutet Anstrengung für ein gerechtes, gutes Ziel – wenn man z.B. die Wahrheit sagt oder schreibt, zählt auch das dazu. Die Taliban in Afghanistan führen einen Befreiungskrieg gegen Invasoren, das ist echter Dschihad. Solche Kämpfer nennt man Mudschahidin – diesen Titel verdienen die Taliban in Pakistan nicht. Sie missbrauchen den Islam.“

Von ihnen wurden vor allem junge Männer aus armen Familien rekrutiert, die von Landlords wie Leibeigene ausgebeutet werden. Der Besitz von Kalaschnikow, Handy, Geld und die Aussicht auf sozialen Aufstieg verblendete viele, religiöse Versprechungen taten das ihre. Die Willkürherrschaft der Taliban übertraf jene der feudalen Landlords. Schulen und Spitäler wurden gesprengt, Geschäfte geplündert, Musik und Tanz verboten, Frauen außer Haus nur in Ganzkörper-Burka geduldet, Gegner bestialisch ermordet. Ehemalige Unterstützer wandten sich ab. Selbst die Namensvetter in Afghanistan teilten die Empörung: Anfang November 2009 distanzierten sie sich in einem TV-Interview vom „unislamischen“ Verhalten der Taliban in Pakistan.

„Taliban ist bei uns nur noch ein Schimpfwort“, sagt Mahbud. „Diese Leute sind gemeine Verbrecher und keine Mudschaheddin.“

Eva Maria Teja Mayer, Magistra der Geschichte, lebt als freie Autorin und Journalistin in Wien. Reisen und Feldforschung, vor allem in Südasien. Im vergangenen Jahr recherchierte sie über vier Monate in Pakistan.

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