Nigeria vor den Wahlen

Von Katrin Gänsler · · 2022/Nov-Dez
Tausende Nigerianer*innen protestieren regelmäßig unter dem Hashtag #EndSARS gegen Polizeigewalt. © Tobi James Candids / CC BY-SA 4.0 / commons.wikimedia.org

Nigeria wählt im Februar 2023 ein neues Staatsoberhaupt. Die Spitzenkandidaten versprechen regelmäßig, die Gewalt zu beenden, dabei droht sich die Situation in den kommenden Monaten zuzuspitzen.

Die Sicherheitsfirma SBM Intelligence, die ihren Sitz in der nigerianischen Hafenmetropole Lagos hat, findet deutliche Worte: Seit 2020 warnt sie regelmäßig vor Nigerias „Entführungsindustrie“. Neben der miserablen Sicherheitslage trage diese im besonderen Maße zur Instabilität im Land bei, heißt es im jüngsten Bericht aus dem Monat August. Zwischen Juli 2021 und Juni 2022 wurden mehr als 3.400 Menschen im ganzen Land gekidnappt, 564 weitere in Verbindung mit Entführungen ermordet. Knapp zehn Millionen US-Dollar an Lösegeld forderten die Entführer.

Es ist davon auszugehen, dass die Dunkelziffer weitaus höher liegt, da viele Fälle nicht angezeigt werden. Das liegt nicht zuletzt daran, dass der Senat vor einigen Monaten ein Gesetz verabschiedet hat, das für Lösegeldzahlungen bis zu 15 Jahre Gefängnis vorsieht.

Das schreckt ab, argumentieren Senator*innen. Kritiker*innen wie Monday Ubani von der Anwaltsvereinigung Nigerian Bar Association sagen jedoch: Opfer und deren Angehörige werden doppelt bestraft. „Sie zahlen aus Verzweiflung und Hilflosigkeit, da sie wissen, dass der Staat versagt hat.“ Die Behörden seien weder in der Lage, Leben und Eigentum zu schützen, noch die Freilassung zu erreichen, so Ubani.

All das kann sich in den kommenden Monaten weiter zuspitzen, werden doch im Februar und März ein neuer Präsident, Gouverneur*innen sowie Bundes- und Landesparlamente gewählt. Politik ist ein höchst lukratives Geschäft, und nigerianische Abgeordnete gehören zu den weltweit bestbezahlten Politiker*innen. Verlässliche Zahlen fehlen, aber mitunter heißt es, dass ein Sitz im Parlament monatlich umgerechnet mehr als 20.000 Euro einbringen kann.

Vor allem haben sie Zugang zu Ressourcen, und ihre Netzwerke bestehen aus höchst einflussreichen Personen.

Gekaufte Stimmen. Um das nicht zu verlieren, kommt es besonders vor den Urnengängen zu Gewalt. Menschen werden daran gehindert, sich als Wähler*innen zu registrieren. Mitarbeiter*innen der Wahlkommission (INEC) werden angegriffen, Verzeichnisse und Stimmzettel gestohlen.

© SWM / Uwe Dedering / CC BY 3.0

Nigeria

Hauptstadt: Abuja (seit 1991, davor Lagos)  

Fläche: 923.768 km2 (elfmal größer als Österreich)

Einwohner*innen: rund 220 Millionen (Schätzung Juli 2021), über 400 Volksgruppen, darunter Hausa, Yoruba, Igbo (Ibo), Fulani, Ibibio, Kanuri

Human Development Index (HDI): Rang 163 von 191 (Österreich 25)

BIP pro Kopf: 2.085 US-Dollar (2021, Österreich: 53.267,9 US-Dollar)

Regierungssystem: Präsidiale Bundesrepublik, Scharia (Islamisches Recht) gilt in zwölf nördlichen Bundesstaaten im Rahmen der nigerianischen Verfassung.

Stimmen werden für zehn Euro verkauft – so groß ist die Not – und eifrig gekauft. Zur Praxis gehört es zudem, Unruhe stiften zu lassen, um sich dann vor potenziellen Wähler*innen als Retter und Beschützer zu präsentieren. Nach Angaben von INEC starben von 2011 bis 2019 in Verbindung mit Präsidentschafts- und Parlamentswahlen mindestens 1.150 Personen.

Entführungen sind mittlerweile in allen Landesteilen gang und gäbe. Unter den Opfern sind Schulkinder, Geschäftsleute, Farmer*innen und zunehmend Geistliche. Dass die Bewaffneten offenbar häufig leichtes Spiel haben, zeigte Ende März der Überfall auf einen Zug mit mehr als 900 Fahrgästen auf der Strecke zwischen der Hauptstadt Abuja und der Provinzhauptstadt Kaduna. Acht Menschen starben beim Entführungscoup. In den folgenden Monaten ließen die Täter nach und nach kleine Gruppen frei. Es ist unklar, wie viel Lösegeld gezahlt wurde.

Waren einst im Nigerdelta Verschleppungen von Angestellten multinationaler Ölkonzerne ein politisches Statement, nutzte sie ab 2013 die Terrorgruppe Boko Haram im Nordosten gezielt, um Angst zu verbreiten sowie ihre Bewegung zu stärken.

Heute geht es um Geld. Nigeria ist zwar die größte Volkswirtschaft des Kontinents – das Bruttoinlandsprodukt lag 2021 bei 440 Milliarden Dollar. Doch der Reichtum ist extrem ungleich verteilt. Vier von zehn Nigerianer*innen leben unterhalb der Armutsgrenze.

Versprechen im Wahlkampf: Viele Kandidaten präsentieren sich als Retter und Beschützer. © Utomi Ekpei / AFP / picturedesk.com

Beutejagd. Wie heikel die Lage ist, erlebt auch Ordensfrau Rosemary Ukata, die im Bundesstaat Abia im Südosten arbeitet. „Plötzlich kann jemand mit einer Kalaschnikow neben dir stehen und innerhalb von Stunden viele tausend Naira erbeuten.“

Gerade auf dem Land, wo es an Sicherheitskräften fehlt, herrsche Unsicherheit. „Wenn auf einer Straße plötzlich keine Autos mehr fahren, bedeutet das: Banditen haben eine Straßensperre errichtet.“

Das ist jedoch nicht der einzige Faktor, der Afrikas Riesenstaat so instabil macht. In ländlichen Regionen kommt es zu erbitterten Ausschreitungen zwischen Farmern und Viehhirten. Letztere gehören der ethnischen Gruppe der Fulani an, die häufig als Täter – und Terroristen – bezeichnet werden.

Land ist in Nigeria zum kostbaren Gut geworden: durch die wachsende Bevölkerung – seit der Unabhängigkeit 1960 hat sie sich mehr als vervierfacht und liegt heute bei 220 Millionen – sowie durch die Klimakrise. Es wird geschätzt, dass 60 Prozent der Landfläche nicht mehr fruchtbar sind. Besonders betroffen ist der Norden, weshalb Viehhirt*innen gezwungen sind, weiter in Richtung Süden zu ziehen.

Auch im Südosten hat die Gewalt zugenommen. Die Bewegung „Indigene Menschen von Biafra“ (IPOB), die 2017 zur Terrororganisation erklärt wurde, fordert einen eigenen Staat. Sie ist überzeugt: Die Regierung will die Region marginalisieren.

Die Verhaftungen und Prozesse stilisieren IPOB-Anführer Nnamdi Kanu, der durch rassistische Äußerungen auffällt, allerdings nur noch mehr zum Helden. IPOB hat mittlerweile einen paramilitärischen Flügel gegründet, seit 2021 haben vor allem Angriffe auf Polizeistationen in der Region zugenommen.

Im Zentrum verwundbar. Wozu allerdings die Terrorgruppe Islamischer Staat in der Provinz Westafrika (ISWAP) – sie gehörte einst zu Boko Haram und spaltete sich 2016 ab – fähig ist, wurde Anfang Juli deutlich. Sie gab an, für den Gefängnisausbruch von Kuje verantwortlich zu sein, bei dem zwischenzeitlich knapp 900 Insassen die Flucht gelang, darunter 68 Mitgliedern von Boko Haram.

Nichts zeigt besser, wie verwundbar Nigeria ist, denn das Gefängnis liegt in der Hauptstadt Abuja und weniger als 50 Kilometer vom Präsidentenpalast entfernt. Dabei hat ISWAP sein Netzwerk eigentlich am Tschadsee im Nordosten des Landes.

Beteuerungen des 78-jährigen Präsidenten Muhammadu Buhari  – er wurde bei seiner Erstwahl 2015 als Bekämpfer von Gewalt und Korruption präsentiert und gehört dem All Progressives Congress (APC) an –, die Regierung fahre eine Null-Toleranz-Strategie bei Kriminalität, hört niemand mehr zu. Jede*r zweite Nigerianer*in hat kein Vertrauen in das Justizsystem. 2020 starben bei Protesten gegen die als brutal geltende Polizeieinheit SARS (die im Oktober 2020 aufgelöste Special Anti-Robbery Squad) mindestens zwölf Menschen. 

Viele Versprechungen. Die Spitzenkandidaten versprechen regelmäßig, die Gewalt zu beenden, jedoch ohne konkret zu werden. Eines ist schon Monate vor dem Urnengang sicher: Der neue Präsident wird Bola Tinubu oder Atiku Abubakar heißen. Die übrigen Bewerber*innen verfügen weder über die finanziellen Mittel für einen Wahlkampf im ganzen Land, noch haben die Parteien landesweit Büros, ein Netzwerk und vor allem engagierte Mitglieder, die Plakate kleben, potenzielle Unterstützer*innen mobilisieren und Geld, Reis und T-Shirts verteilen.

Das gilt auch für den bundesweit recht bekannten Peter Obi, der 2019 noch als Vize von Atiku, der stets beim Vornamen genannt wird, antrat und mittlerweile der Labour Party angehört. Dass Obi praktisch keine Chance hat, befeuert den Eindruck vieler Igbos im Südosten, von den wichtigsten Staatsämtern ausgeschlossen zu sein. Schon wieder schafft es ein Igbo nicht an die Staatsspitze – dabei sind Igbos eine der drei großen Ethnien im Land.

Atiku, der für die oppositionelle People´s Democratic Party (PDP) antritt, macht für die zunehmende Gewalt die Regierungspartei APC verantwortlich. Der erste Schritt zu mehr Sicherheit sei die Abwahl dieser.

Starke Religion, schwacher Staat

Nigeria ist ein tief gespaltenes Land. Die Herkunft der Vorfahren, Ethnie und Religion sind weitaus stärkere Identifikationsfaktoren als die Staatszugehörigkeit. Zwar herrscht laut Verfassung Religionsfreiheit. Seit ein paar Jahren sprechen jedoch vor allem Christ*innen im Südosten gerne von einer Islamisierung und üben damit offen Kritik an Buharis Regierung. Tatsächlich hat es im Namen der Religion schwere Ausschreitungen gegeben, etwa als ab 1999 in den zwölf muslimisch dominierten Bundesstaaten im Norden die Scharia eingeführt wurde. Alleine im Bundesstaat Kaduna sollen damals bis zu 5.000 Menschen bei Gewalt zwischen Christ*innen und Muslim*innen ums Leben gekommen sein.  Bei Volkszählungen wird die Frage nach der Religionszugehörigkeit nicht gestellt, damit keine Gruppe eine Mehrheit beanspruchen kann.  

Die Vorstellung in der Politik: Wer an der Macht ist, bevorzugt Anhänger*innen derselben Religion und verteilt Ämter an diese. Deshalb wird auch darauf geachtet, welcher Ethnie die Kandidat*innen angehören.  K. G.

Vertreter des Systems. Ihm gegenüber steht Buharis interner APC-Nachfolger Tinubu, der „Wohlstand für alle“ ankündigte. Er will zudem die Entwicklungsstrategien, die er einst in Lagos verfolgt hatte, auf das ganze Land ausweiten. Nach dem Ende der Militärherrschaft wurde er 1999 Gouverneur der heute mehr als 20 Millionen Einwohner*innen zählenden Metropole. Seinen Anhänger*innen zufolge hat Tinubu dem einstigen Moloch ein neues Gesicht verpasst, Infrastruktur verbessert, Schnellbuslinien eingeführt, Behörden umstrukturiert und Mitarbeiter*innen, die es nicht gab, von der Gehaltsliste gestrichen.

Nach acht Jahren folgte ihm mit Babatunde Fashola einer seiner Vertrauten ins Gouverneursamt, was für Kontinuität sorgte und in Nigeria längst nicht üblich ist. Selbst Nachfolger*innen innerhalb der eigenen Partei führen sogar erfolgreiche Programme nicht unbedingt fort – nur um sich abzugrenzen.

Tinubu begeht mit der Aufstellung von Kashim Shettima als seinen Stellvertreter allerdings einen Tabubruch. Wie in den USA benennen Spitzenkandidat*innen vor Beginn des Wahlkampfs einen „running mate“. Shettima war Gouverneur des Bundesstaates Borno und ist ein Hausa aus dem Nordosten. Doch beide bekennen sich zum Islam. Dabei galt bisher die ungeschriebene Regel der großen Parteien, dass die Teams aus jeweils einem Christen und einem Muslim bestehen.

Nach acht Jahren Buhari-Herrschaft – der Heimatort des Muslims ist Daura an der Grenze zu Niger – wäre außerdem wieder ein Christ an der Reihe, so die Lesart vieler Christ*innen. Doch auch Atiku ist Muslim.

Matthew Hassan Kukah, katholischer Bischof von Sokoto, bezeichnete in einem Interview des Senders Channels TV Tinubus Entscheidung als einen Rückschritt für die Integration.

Strippenzieher im Hintergrund. Neue Impulse sind von beiden Spitzenkandidaten kaum zu erwarten. Für einen Wandel muss man auf nachfolgende Generationen hoffen. Die Juristin und Bildungsexpertin Ngunan Ioron Aloho, die sich für Geschlechtergerechtigkeit und bessere Chancen für Mädchen im ländlichen Nigeria einsetzt, sieht junge Generationen, die sich immer mehr politisieren: „Sie bringen sich stärker ein als je zuvor, beteiligen sich an den Kampagnen“, so die Gründerin der Samuel Ioron Foundation, die mehr Zugang für die Jugend in der Politik fordert (vgl. nebenstehendes Interview mit Ioron Aloho).

Hat die nigerianische Jugend hinter sich: Peter Obi, Präsidentschaftskandidat der Labour Party. © Temilade Adelaja / REUTERS / picturedesk.com

Tinubu und Atiku auf der anderen Seite mischen seit Jahrzehnten in der Politik mit. Ein typisch nigerianisches Phänomen? Während Politiker*innen anderswo vor allem ihre Söhne in einflussreiche Positionen bringen, damit diese einmal das Erbe antreten, recycelt sich die politische Elite in Nigeria selbst. Nach Jahren an der Macht agiert sie eine Weile im Hintergrund, um dann um einen höheren Posten zu kämpfen.

Seit dem Ende seiner zweiten Amtszeit als Gouverneur 2007 zog Tinubu als Pate von Lagos eifrig Strippen im Hintergrund und verhalf Buhari 2015 ins Amt. Auch dessen Vize, Yemi Osinbajo, baute er auf. Unter Tinubu als Gouverneur war der Rechtswissenschaftler Kommissar für Justiz. Osinbajo meldete seine Ansprüche auf die Buhari-Nachfolge spät an, kam an Tinubu aber nicht vorbei.

Zur selben Zeit wie Tinubu war Atiku Vizepräsident, zerstritt sich in der zweiten Amtszeit aber zunehmend mit dem damaligen Präsidenten Olusegun Obasanjo. Atiku ist wie Tinubu Unternehmer, im Ölsektor aktiv – Nigeria ist Afrikas größter Ölexporteur – und arbeitete zuvor außerdem lange für den Zoll. Erfahrungen mit Wahlkampf hat Atiku zahlreiche, bewirbt er sich doch zum sechsten Mal um das höchste Staatsamt. Diese Wahl ist möglicherweise tatsächlich die letzte für den mittlerweile 75-Jährigen.

Verlässliche Wahlumfragen gibt es nicht. Tinubu gilt allerdings als der bessere Netzwerker, und nach acht Jahren der Buhari-Herrschaft zumindest als jemand, der aus dem Süden stammt und Yoruba ist.

Katrin Gänsler ist Korrespondentin mehrerer deutschsprachiger Medien in Westafrika und lebt in Cotonou/Benin und Abuja/Nigeria.

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