Nowras Rahhal im Porträt

Von Christina Bell · · 2022/Jan-Feb
© Alexander Chitsazan

Nowras Rahhal wuchs staatenlos in Syrien auf. Heute forscht er in Wien an einem Covid-19-Impfstoff.

Wie Chuck Norris“, erklärt Nowras Rahhal zur Begrüßung die Aussprache seines Vornamens. Es ist ein regnerischer Novemberabend in Wien. Rahhal bestellt Kaffee und Baklava, bevor er mit seiner Geschichte beginnt: Obwohl er erst 28 Jahre alt ist, dauert sie eine ganze Weile.

Und sie beginnt mit seinem Großvater, der Ende der 1940er Jahre wie hunderttausende andere in den Wirren rund um die Staatsgründung Israels und Teilung Palästinas aus der Region flüchtete. Syrien nahm ihn auf. Wie in den meisten Nachbarländern blieben die staatenlosen Flüchtlinge aber auch hier weitgehend ohne Rechte, jahrzehntelang.

Obwohl Rahhals Vater bereits in Syrien geboren wurde, hatten sie keine Chance auf Staatsbürgerschaft. Und Rahhals syrische Mutter konnte aufgrund der Rechtslage ihre nicht an ihre vier Kinder weitergeben.

Als Kind ging er wie seine Geschwister auf eine von den Vereinten Nationen betriebene Schule für Palästina-Flüchtlinge – und schrieb dort zur Überraschung seiner Eltern die besten Noten. „Am meisten interessierte mich Computerspielen“, sagt der junge Mann rückblickend. „Dabei habe ich auch sehr gut Englisch gelernt.“

Bürokratische Hürden. Als er ein Studium der pharmazeutischen Chemie an der Universität von Damaskus aufnahm, begann der bis heute andauernde Bürgerkrieg in Syrien. Rahhal beschreibt, was es heißt, in einer Vorlesung zu sitzen, während draußen Bomben fallen. Oder mitzuerleben, wie Studierende plötzlich andere denunzieren. Stromausfälle und tagelanger Wassermangel erschwerten den Alltag zusätzlich.

Trotz der Staatenlosigkeit wartete nach der Universität der Militärdienst. Rahhal fasste den Entschluss, sich für ein Studium im Ausland zu bewerben. „Das war meine einzige Möglichkeit, das Land zu verlassen.“ Nach einigen Absagen und bürokratischen Hürden, die ihn ein paar Monate kosteten, wurde er in Kassel für ein Masterstudium in Nanotechnologie akzeptiert. „Mein Bruder, der seit ein paar Jahren in Deutschland lebt, gab mir einen kulturellen Crash-Kurs“, erzählt er lächelnd.

Bei der deutschen Ausländerbehörde wurde er mit dem bruchstückhaften Wissen über Staatenlosigkeit konfrontiert. Er bekam zuerst den Vermerk „Syrer“, dann den Status „ungeklärt“. Bis zum richtigen Eintrag vergingen Monate. Auch im Alltag braucht er oft Ausdauer, etwa um einen Handyvertrag abzuschließen oder ein Bankkonto zu eröffnen.

Karriere als Forscher. Den Master schloss er in Rekordzeit und mit ausgezeichnetem Notenschnitt ab. Sein Professor im Labor am Max-Planck-Institut in Potsdam/Berlin, wo er als Praktikant an der Verbesserung von Impfstofftechnologien mitarbeitete, bot ihm bei einem Jobwechsel an, ihn in sein neues Team nach Wien mitzunehmen. Eine Chance, trotzdem musste er darüber eine Weile nachdenken: Denn mit dem Studium in Deutschland hatte er bereits zwei Jahre auf dem Weg zu einer Staatsbürgerschaft hinter sich, Österreich hieße, diesbezüglich von Neuem zu beginnen.

Schließlich entschied Rahhal sich für Wien, wo er im November 2020 ankam, um seine Doktorarbeit zu beginnen – wenige Tage nach dem Terroranschlag und zu Beginn eines Lockdowns, der ein halbes Jahr dauern sollte. „Das war kein einfacher Start. Aber ich fühle mich hier trotzdem wohl“, sagt er.

Auch die berüchtigte Magistratsabteilung 35, die in Wien für Aufenthaltsgenehmigungen zuständig ist, konnte daran nichts ändern. „Ich hatte alle Unterlagen dabei, die man sich nur denken kann.“ Als lange keine Reaktion der MA 35 kam, setzte er in einer E-Mail einfach einen hohen Beamten aus dem Ministerium in Kopie. „Hat funktioniert“, schmunzelt er.

Inzwischen konzentriert er sich auf die Forschung und hilft mit, neue Impftechniken zu entwickeln, die direkt auf das Immunsystem abzielen. „Das hat das Potenzial, die Welt zu verändern – nicht nur im Fall von Covid-19.“

Die Geschichte vom staatenlosen Flüchtling, der an einem Corona-Impfstoff forscht, schaffte es schon in die Berichterstattung von Reuters, BBC und ORF. Ob die Aufmerksamkeit etwas bringt, kann er nicht einschätzen. Er tue jedenfalls alles, um seine Familie stolz zu machen: „Das habe ich mir vorgenommen, als ich mich verabschiedet habe, ohne zu wissen, wann ich sie wiedersehen würde.“ Mit einer Staatsbürgerschaft könnte er sie zumindest auf Besuch nach Europa holen.

Vergisst er die Staatenlosigkeit in manchen Momenten? „Nie“, sagt Rahhal. „Sie bestimmt mein Leben.“

Christina Bell, ehemalige Südwind-Magazin-Redakteurin, ist freie Journalistin. Im Hauptberuf leitet sie die Kommunikationsabteilung der Wiener Sozialorganisation Neunerhaus.

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