Schlangenschnaps und Lebenswein

Von Robert Sommer · · 1999/03

Alljährlich strömen die Menschen von weither zum Fest des dritten Mondes in die südwestchinesische Stadt Dali. Dort findet auch ein beeindruckender Heilkräutermarkt statt.

Ein kalter Wind pfeift in den Frühlingsnächten von den schneebedeckten Bergen herab, obwohl die Temperaturen an sonnigen Tagen schon fast dreißig Grad Celsius erreichen. Fein herausgeputzt präsentiert sich Dali den Besuchern des San Yüe Jie. Das „Fest des dritten Mondes“ lockt alljährlich Menschen von weither in die Stadt.

Touristen und Geschäftsleute, Marktfahrerinnen und Kfz-Verkäufer, fahrende Ärzte, Künstlergruppen, Schaustellerinnen und Glücksritter bevölkern fünf Tage lang die riesige Zelt- und Budenstadt am Fuß des Azurgebirges.

Vom Reissack bis zum Wasserbüffel, vom CD-Player bis zum Kleintransporter ist hier alles zu erwerben, was die Kundschaft begehren mag, sei es ein Geschäftsmann aus Kunming oder eine Bäuerin aus einem Bergstamm. Die aufdringliche Tonkulisse der Marktschreier und Karaokesänger wird noch übertönt von den staatlich geförderten Folklore- und Sportdarbietungen im nahen Stadion.

Die befestigte Stadt liegt tief im Inneren der unwegsamen Provinz Yunnan. Dali ist die Hauptstadt der autonomen Bai-Region mit gleichem Namen.

Diese südwestliche Provinz der Volksrepublik China erstreckt sich von den Hochgebirgen im Nordwesten an den Grenzen zu Tibet und Burma bis in die tropischen südlichen Regenwälder, wo das Reich der Mitte an Laos und Vietnam stößt.

Fünfundzwanzig anerkannte nationale Minderheiten beherbergt die vierzig Millionen EinwohnerInnen zählende Provinz. Die klimatisch-geologischen Verhältnisse im „Land südlich der Wolken“ begünstigen eine der vielfältigsten und artenreichsten Landschaften unseres Planeten. Mehr als die Hälfte aller Pflanzen- und Tierarten Chinas gedeihen hier.

Die malerisch gelegene Stadt, eingekeilt zwischen dem Ufer des Er-Hai-Sees und dem mächtigen Kamm des Cang-Shan-Massivs, war durch viele Jahrhunderte von großer strategischer und wirtschaftlicher Bedeutung. Hier trafen Karawanenrouten aus dem Norden mit der wichtigen Ost-West-Verbindung aus Burma zusammen.

Ganz oben am Berghang, am Rande des Trubels, stehen eng aneinandergereiht die Zelte des Kräutermarktes. Exotische Nationaltrachten verschiedenster ethnischer Minderheiten lassen erahnen, wie weit die Anreise durch die unwegsamen Berge Yunnans für viele MarktbesucherInnen war. Manche der Unterkünfte sind kaum mehr als eine notfürftig über der Schlafstätte des Bewohners gespannte Plastikbahn; die wertvolle Handelsware verteilt sich auf wenige Säcke.

Andere, größere Zelte quellen förmlich über mit Pflanzenpräparaten der verschiedensten Art. Riesige Mengen getrockneter Kräuter werden ebenso angeboten wie teure Einzelstücke besonders seltener Wurzeln oder Knollen. Wagenladungen von Fruchtschalen, Samen und Blüten wechseln die Besitzer. Vielfalt und Volumen der Handelsware zeigen, wie bedeutend die Naturheilkunde als Landwirtschaftszweig in China ist.

Auch Tierpräparate und Mineralien, seit jeher wichige Heilmittel und Gegengifte in der chinesischen Medizin, werden reichlich angeboten. Getrocknete Tausendfüßler beachtlicher Größe sind ebenso häufig zu sehen wie dicke Lagen von aufgespannten getrockneten Eidechsen.

Viel seltener findet man die teuren, tierischen Ingredienzien zur Bereitung begehrter potenz- und energiefördernder Tränke. In deren Rezepturen für tonisierende „Lebensweine“ sind Seepferdchen, Wildeselhäute sowie Geschlechtsteile und Hörner verschiedener Wildtiere wesentliche Zutaten. Auch ganze Affenskelette und Schlangen aller Größen sind hier zu erwerben.

Artenschutz ist ein heißes Thema; und die Aussicht auf erfolgreiche Umerziehung im großen Stil scheint eher dürftig angesichts der großen Beliebtheit und Verbreitung dieser Wundermittel in der Volksrepublik.

Manche Stände bieten gleich die Behandlung mit an. Aus zerlesenen Büchern werden die passenden Rezepturen zusammengestellt. Auch verschiedenste, in hochprozentigem Alkohol angesetzte Tonika werden angeboten. Die Auswahl reicht von verdauungsfördernden Beerenweinen bis zu den Schlangenschnäpsen, die in den dickbauchigen Riesenflaschen an anatomische Präparate erinnern.

Dem Laien bleibt die Qualität vieler Produkte verborgen. Beschriftungen sind spärlich. Ein aus Hongkong angereister Arzt weist auf die schon in kleinsten Dosen tödlichen Wirkstoffe eines neben Magnolienknospen und getrockneten Orangenschalen angebotenen, harmlos aussehenden Krautes hin. Der Doktor kommt jedes Jahr zum San Yüe Jie, um ein Heilmittel zu erstehen, das er seinen PatientInnen als probates Mittel gegen Bluthochdruck im Alter verabreicht.

Gefahren bergen auch die zahlreichen, für den Laien nicht erkennbaren Fälschungen. Hongkong, der größte Umschlagplatz für Kräuterheilmittel, unterlag bis zur Rückgabe an die Volksrepublik im Jahr ’97 keiner Kontrolle seitens der chinesischen Arzneimittelbehörde. Eine als teurer Ginseng verkaufte Rettichwurzel richtet dabei noch den wenigsten Schaden an. Zu den Todesfällen in Folge unsachgemäßer Dosierung und Zubereitung kamen immer wieder solche, die von gefälschten Präparaten verursacht worden waren. Auch an Scharlatanen scheint es nicht zu mangeln. Manch einer bietet im fantasievollen Schamanenkostüm fertig abgefüllte Wundertränke an. Herkunftsbezeichnungen oder Inhaltsangaben sind auf den Flaschen nicht zu finden.

Die seriöse chinesische Heilkunde blickt auf eine 5000jährige Geschichte zurück. Heute wird der umfangreiche Heilmittelindex laufend mit Hilfe modernster Technologie überarbeitet und erweitert. Wahrscheinlich sind auf dem Kräutermarkt viele Heilmittel zu finden, die noch in keinem Katalog verzeichnet sind. Eine uralte, tief verwurzelte Tradition lebt in Dali ungebrochen weiter.

Robert Sommer ist Musiker und Publizist, Evelyne Egerer ist bildende Künstlerin und Fotografin. Beide leben in Wien.

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