„Schlimmer als ein Bürgerkrieg“

Von Redaktion · · 2011/07

Der irische Politologe und Marxist John Holloway lebt seit 20 Jahren in Mexiko und unterrichtet an der Autonomen Universität in Puebla. Im folgenden Gespräch mit Studierenden der Kepler Universität Linz gibt er seine Sicht der Lage in Mexiko wieder.

Südwind Magazin: Wie würden Sie ganz allgemein die momentane Situation in Mexiko beschreiben?
John Holloway:
Es ist schrecklich. Die derzeitige Situation ist so schlecht, es ist so deprimierend, dass es schwierig ist, eine beschönigende Antwort zu finden. Die große Mehrheit der Leute ist jetzt ärmer als noch vor einigen Jahren. Die Gewalt im Land nimmt ständig zu. Es ist wie ein Bürgerkrieg, aber eigentlich schlimmer, weil es so aussichtslos ist. In einem Bürgerkrieg, so denkt man, gibt es eine gute und eine schlechte Seite, aber hier sind es nur zwei schlechte Seiten. Ich habe vor einigen Wochen gehört, wie jemand sagte, dass es ein bisschen wie vor 100 Jahren ist, dass die jungen Leute jetzt wieder zu den Waffen greifen. Aber vor 100 Jahren war das ein Kampf für die Freiheit – und jetzt ist es für nichts, für Drogen, für …

Auf der anderen Seite glaube ich schon, dass es viele Bewegungen gibt, in denen Leute wirklich versuchen, Lösungen zu finden und andere soziale Verhältnisse aufzubauen, aber es ist nicht so klar wie vor einigen Jahren.

Welche Rolle spielen die Zapatisten heute? Man hört ja so gut wie nichts mehr von ihnen.
Sie sind noch da, es ist wie ein Wunder, aber sie leben sehr in sich zurückgezogen. Es gibt einige wichtige Entwicklungen in den zapatistischen Gemeinschaften, aber die Bewegung hat nicht mehr dieselbe Präsenz in der politischen Landschaft Mexikos wie früher. Man hat sich dafür entschieden, sich auf das eigene Territorium zu konzentrieren. In der ersten Phase des Zapatismus wurde eine Politik der Forderungen betrieben, und nach dem Abkommen von San Andrés1) hat man sich auf die Realisierung dieser Forderungen konzentriert. Nach 2001, also nach dem großen Marsch auf die Hauptstadt, als klar wurde, dass die Regierung das Abkommen einfach nicht vollziehen will, hat man sich zurückgezogen mit der Begründung, dass es überhaupt keinen Sinn mehr habe, eine Forderungspolitik zu betreiben und dass es wichtiger wäre, die eigene Gemeinschaft aufzubauen und zu stärken. Das heißt auch, dass Marcos und die Comandantes nicht mehr so wichtig sind, dass jetzt die Gemeinschaften im Zentrum des Zapatismus stehen und dieser nunmehr weniger sichtbar ist. Das erweckt den Eindruck, dass die zapatistische Bewegung schwach sei, aber mir scheint, es handelt sich vielmehr um das Gegenteil: dass dadurch die Bewegung stärker und reifer geworden ist. Das scheint überhaupt ein weltweites Phänomen zu sein, dass viele der antikapitalistischen Bewegungen nicht mehr so sichtbar sind wie noch vor einigen Jahren, weil sie sich anderen, weniger sichtbaren Aktivitäten widmen.

John Holloway, 1947 in Dublin geboren, lebt seit genau 20 Jahren in Mexiko und lehrt dort an der Benemérita Universidad Autónoma de Puebla. In seinen Arbeiten greift er zurück auf verschiedene unorthodoxe neomarxistische Theorietraditionen, etwa auf den italienischen Operaismus oder die Kritische Theorie, und interpretiert diese zum Teil neu bzw. entwickelt sie weiter. Immer wieder bezieht Holloway sich auch auf den Zapatismus und dessen Handlungsdoktrinen hinsichtlich einer sozialen und politischen Transformation.

Und welche Rolle spielt die „Andere Kampagne“2) heute?
Ich glaube, dass es viele Bewegungen gibt, die eine Verbindung mit der Anderen Kampagne haben, kleine Bewegungen, die nicht mehr das selbe Selbstbewusstsein haben wie vor fünf, sechs Jahren, die aber immer noch arbeiten und kämpfen.

Sie haben gesagt, dass sich die Zapatisten momentan mehr auf ihre Gemeinden konzentrieren und weniger auf nationale Veränderungen. Besteht dennoch in Mexiko noch Hoffnung auf eine Transformation auf nationaler Ebene?
Ja es besteht die Hoffnung. Weil „Ya Basta“3) die ganze Zeit wächst. Dieses Gefühl wird immer stärker. Viele Leute aus der Mittelklasse oder aus den oberen Schichten wandern aus oder denken zumindest daran. Sie wollen nicht mehr in Mexiko leben. Man könnte die Situation mit einem Kochtopf vergleichen: Es brodelt schon, aber es kocht noch nicht. Das alles wird heißer und heißer und heißer, aber es kocht nicht.

Viele Menschen, ich auch, dachten, dass es im Jahr 2010, genau hundert Jahre nach der Revolution von 1910, eine Explosion geben würde. Viele haben auf eine Aktion der Zapatisten gewartet, aber es kam nichts. Vielleicht ist es einfach so, dass die großen Explosionen nicht vorhersehbar sind. Schauen wir uns zum Beispiel Ägypten an. Nachher kann man natürlich sehen, dass die Spannungen da waren und wuchsen. Man weiß aber vorher nicht, ob oder wann oder wie es zu so einer Explosion kommen könnte.

Was genau steckt ihrer Meinung nach hinter dem Rückzug der Zapatisten?
Es ist vielleicht eine Art Selbstverteidigung. Selbstverteidigung in dem Sinn, dass die Leute denken, dass die beste Form von Verteidigung eine starke Gemeindearbeit ist und nicht eine mit Waffengewalt. Das schafft eine stärkere Grundlage für soziale Veränderungen und es ist sicherer im Bezug auf Konflikte mit der Regierung.

Der Kampf wurde reifer und die Leute reiften durch ihn. Anstatt von einer Demonstration zur nächsten zu rennen, denken sie nun: Was wir jetzt wirklich zu tun haben ist, im Stillen zu arbeiten, nicht weil wir uns verstecken wollen, sondern weil so am besten ein ernsthafter Prozess von sozialer Transformation beginnen kann.

Jetzt ist ja seit zehn Jahren die PAN4) an der Regierung, davor herrschte viele Jahrzehnte lang die PRI, die „Institutionelle Revolutionspartei“. Hat sich seit damals ein sozialer Wandel vollzogen? Wenn ja, wie stark hängt das Ihrer Meinung nach mit dem diesem Machtwechsel zusammen?
Das ist ziemlich unabhängig voneinander. Die meisten Leute sagen, dass alles schlechter geworden ist in den letzten zehn Jahren. Ob das auch mit einer PRI-Regierung so gewesen wäre? Wahrscheinlich, aber nicht in diesem Ausmaß. Das Gute an der PRI-Regierung war, dass sie regieren konnte, dass sie die Strukturen hatte, dass sie wusste, wie was zu machen war. Sie schaffte einen korrupten, ungerechten Frieden. Mit der PAN-Regierung fiel der Frieden weg und die Korruption blieb.

Welchen Einfluss könnten soziale Bewegungen auf die Präsidentschaftswahl im nächsten Jahr haben?
Wenn eine große Protestbewegung hinter López Obrador5) stünde, so wäre das der einzige Weg für ihn, ins Amt zu kommen. Aber im Moment sehe ich nicht, wie das passieren könnte. Er versteht sich als Politiker und nicht als Teil der Bewegung. Die Regierung in Bolivien zum Beispiel sieht sich als Regierung, die aus der Bewegung gewachsen ist und sich dadurch in gewisser Weise von ihr distanziert hat. Es ist wichtig, zwischen der Regierung und der Bewegung zu unterscheiden.

Glauben sie, dass sich mit López Obrador als Präsident vieles ändern würde?
In einer Regierungsperiode nicht. López Obrador könnte nur ins Amt kommen, wenn es eine starke soziale Bewegung gäbe, die ihn unterstützt. Als Präsident könnte er dann im besten Fall die Kräfte dieser Bewegung befreien. In dem Sinne könnte man eine López Obrador-Regierung als einen Anfang sehen, der eine andere politische Perspektive eröffnen würde.

Würde López Obrador überhaupt Forderungen nach grundlegenden politischen Veränderungen durchsetzen können oder überhaupt wollen?
Nein, das glaube ich nicht. Er ist ein Mitglied der politischen Klasse und versteht sich auch selbst als solches. Er ist nicht wie Evo Morales in Bolivien oder wie Hugo Chávez in Venezuela. Er ist einfach ein linker Politiker. Es ist derzeit sehr schwer, über Mexiko zu sprechen, weil es im Moment einfach katastrophal ist. Vor vier Jahren, im Herbst 2006, befanden wir uns in einer hoffnungsvollen Situation. Die „Andere Kampagne“, all die großen Demonstrationen der Bewegung um López Obrador und die Bewegung in Oaxaca ließen uns positiv in die Zukunft blicken. Im Oktober 2006 haben wir gedacht: „Ja, irgendetwas passiert jetzt“, aber dann passierte nichts und die Bewegungen kamen nie zusammen, um an einem Strang zu ziehen. Es gibt heute zahlreiche kleine Bewegungen, aber es gibt keine massive Bewegung. López Obrador ist immer noch da, aber es ist sehr unwahrscheinlich, dass er die nächste Wahl gewinnt. Die Zapatisten sind immer noch da, aber wir wissen nicht wirklich, was sie tun. Wenn mich jemand nach Mexiko fragt, sollte ich einfach sagen: Lasst uns über etwas anderes sprechen! Die Situation ist wirklich schwierig und es ist sehr schwer, einen Ausweg zu finden.

Das Gespräch entstand im Rahmen eines Seminars unter der Leitung von Frau Raina Zimmermann in Mexiko. Noch daran beteiligt waren u.a. Daniel Schweighofer und Ingo Till.


1) Am 16. Februar 1996 unterzeichneten die zapatistische Befreiungsarmee EZLN und die mexikanische Regierung nach zweijährigen Verhandlungen in der Gemeinde San Andrés (im Bundesstaat Chiapas) das gleichnamige Abkommen. Es beinhaltet die Anerkennung der Rechte und der Kultur der indigenen Bevölkerung mit konkreten Bestimmungen zu Autonomie und sozialen Reformen in Chiapas – wurde aber von der Regierung nie umgesetzt.
2) Die „Andere Kampagne“ ist eine 2005 von der EZLN angestoßene Mobilisierung zur Erarbeitung und Durchsetzung einer neuen antikapitalistischen Verfassung für Mexiko, der sich zahlreiche kleine und unorthodoxe Gruppierungen angeschlossen haben.
3) „Es reicht!“ – der Kampfruf der Zapatisten seit dem Beginn ihres Aufstandes am 1. Jänner 1994.
4) Partido de Acción Nacional, rechtskonservative Partei, die derzeit mit Felipe Calderón den Präsidenten stellt.
5) Andrés Manuel López Obrador, auch AMLO genannt, Oppositionsführer von der Mitte-Links-Partei PRD. Verlor 2006 nur ganz knapp die Wahlen gegen Calderón, so dass viele von Wahlbetrug sprachen.

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