Soziologin Rothmüller über Online-Dating

Von Milena Österreicher · · 2023/Jan-Feb
„Der Kuss“ von Gustav Klimt, interpretiert von der indischen Illustratorin Indu Harikumar. Das Bild von Sexualität verändert sich im Laufe der Zeit. © Indu Harikumar

Die Soziologin Barbara Rothmüller spricht im Interview über sexuelle Sozialisierung und u. a. darüber, wie diskriminierend Dating im Netz sein kann.

Welche Rolle spielt Online-Dating, gesellschaftlich gesehen, in unserem Liebes- und Sexleben heute?

Es ist besonders für kleinere gesellschaftliche Gruppen wichtig. Ein Beispiel sind Menschen aus der LGBTIQ+-Community. In progressiven Metropolen, wie San Francisco oder Berlin, wurden in den vergangenen Jahrzehnten viele queere Bars geschlossen. Eine Erklärung dafür ist, dass man jetzt nicht mehr extra in eine Bar gehen muss, um andere schwule, lesbische, bisexuelle oder transgeschlechtliche Menschen treffen zu können. Heute nutzt man dafür Online-Dating-Plattformen.

Aber auch alle anderen können nun online Menschen finden, die sie früher nur an gewissen Orten getroffen hätten – z. B. um unverbindliche sexuelle Kontakte zu knüpfen.

Welche Vorteile sehen Sie online?

Es führt zu einer gewissen Demokratisierung der Kontaktaufnahme: Es finden sich auch Menschen, die sich ansonsten eher nicht kennengelernt hätten. Menschen, die Online-Dating nicht nutzen möchten, lernen andere häufig über Befreundete, im Job oder auf Partys kennen. Das ist sehr homosozial, wir bleiben in unserem Milieu meist unter uns.

Gleichzeitig gibt es eine Vielzahl an Dating-Apps, die ganz bestimmte Zielgruppen ansprechen, von ElitePartner für Akademiker und Akademikerinnen bis Veggly für vegane Menschen.

Studien zeigen, dass Menschen immer soziale Kriterien anwenden, um zu beurteilen, ob jemand für sie interessant ist: Aussehen und Kleidung, Interessen, politische Einstellung etc. Zuletzt ging es oft auch darum, dass das Gegenüber dieselbe Haltung zu Covid-19 haben sollte.

Auf ihren Profilfotos inszenieren viele ihre Hobbys. Für manche ist die religiöse Identität ausschlaggebend, für andere bestimmte sexuelle Vorlieben. Auch Geld und die soziale Schicht können Faktoren sein. Es gibt Apps, die sehr kostspielig sind, was dann auch eine gewisse Zielgruppe anspricht.

Eine Kehrseite der Apps ist Diskriminierung, die sich im digitalen Raum fortsetzt. Inwieweit verfestigt sich durch Online-Dating beispielsweise Rassismus?

Dating-Apps, wie zum Beispiel Grindr, ermöglichten den Usern eine Zeit lang sogar, nach Ethnie zu filtern. Männer konnten ins Profil schreiben „Keine Asiaten“ oder „Nur Weiße“. Viele Apps unterbanden das dann. Es gibt mittlerweile schon eine Verantwortung und Sorgfaltspflicht der Plattformen, dass diese inklusiv gestaltet sind. Das ändert aber natürlich erstmal nicht die Präferenz der Einzelnen. Rassismus bleibt ein Problem – auch beim Dating.

Wo liegt die Grenze zwischen eigenen Präferenzen und rassistischen Denkmustern?

Sexuelle Präferenzen haben eine gesellschaftliche Komponente, je nachdem, in welcher Gesellschaft wir leben, und wer in dieser als begehrenswert gilt. Das kann man individuell so schnell nicht wegmachen. Veränderungen müssen also auch von der sozialen und der sogenannten Begehrenshierarchie in einer Gesellschaft kommen.

Ich sehe es dort problematisch, wo soziale Gruppen generell fetischisiert werden und ihnen kollektiv eine bestimmte Sexualität zugeschrieben wird. Manche Gruppen werden hypersexualisiert – also besonders sexuell talentiert, besonders libidostark – dargestellt und andere werden entsexualisiert, als ob sie verklemmt oder besonders unterwürfig wären. Dabei gibt es in allen Gruppen unterschiedliche Sexualitäten, man kann das Menschen nicht ansehen.

Dennoch: Es gibt diese ethnosexuelle Imagination von Menschen. Rassistisch wird es besonders dann, wenn solche Fantasien den Umgang mit Menschen und sexuelle Kontakte prägen.

© Theresa Wey

Barbara Rothmüller ist Soziologin und Sexualpädagogin. Sie lehrt an der Sigmund Freud Universität Wien sowie an der Schweizer Université de Fribourg. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen Geschlechter-, Intimitäts- und Sexualitätsforschung. Zuletzt leitete sie ein Forschungsprojekt zu den Veränderungen intimer Beziehungen in der Covid-19-Pandemie, aktuell forscht sie zum Thema sexuelle Lust.

Wie entstehen ethnosexuelle Imaginationen und die zugeschriebenen Bilder?

In den USA, wo dies vor allem Schwarze Menschen betrifft, entwickelte sich der Rassismus samt der Zuschreibung von bestimmten Bildern in den Zeiten der Sklaverei.

In Österreich wurden im Nationalsozialismus jüdische Frauen als sexuelle Verführerinnen und Juden als Lüstlinge dargestellt. Heutzutage wird oft das Bild der perversen und sexuell triebhaften Migranten bedient. Diese Zuschreibungen haben mit realen rassistischen Verhältnissen zu tun und legitimieren oft auch rassistische Handlungen.

Verändern sich das Bild und die moralische Bewertung von Sexualität im Laufe der Zeit?

Ja, immer wieder. Der Theoretiker und Autor Edward Said etwa zeigte in seinem Buch zum Orientalismus, dass im 18. Jahrhundert Menschen in Europa den sogenannten „Orient“ mit freier Sexualität verbunden haben. Es verbreitete sich die Vorstellung einer gewissen Hypersexualisierung, einer exotischen und promiskuitiven Sexualität im Harem.

In Europa fühlte man sich in den sexuellen Beziehungen zu der Zeit zu stark reglementiert und sexuell unterdrückt. Die anderen hätten mit ihrer vermeintlichen Natürlichkeit eine freiere Sexualität, die sich nicht an soziale Konventionen halten müsse, beneideten manche die sogenannten „Barbaren“ in den Kolonien. Das ist eine Projektion eigener Wünsche, die wenig mit der Realität zu tun hat, und die sich auch um 180 Grad drehen kann.

Heute sagt man, hier sind alle so befreit, und dort sind sie rigide in ihrer Sexualität. Interessant ist, dass das Muster immer gleich bleibt, auch, wenn sich der Inhalt ändert: Die „anderen“ haben immer eine ganz andere Sexualität.

Bis zu welchem Grad können wir uns selbst aussuchen, wen wir attraktiv finden?

Es gibt einen Möglichkeitsraum, in dem man handeln kann, aber der ist auch begrenzt. Wir haben eine bestimmte sexuelle Biografie und sind in einer bestimmten sexuellen Kultur mit spezifischen Handlungsweisen und Normen sozialisiert worden.

In biografischen Veränderungsphasen kann man sich mit Prägungen auseinandersetzen und diese teilweise umlernen bzw. verlernen.

Viele Menschen erleben auch, dass sie im Laufe ihres Lebens andere Menschen daten oder auf eine andere Art und Weise begehren. Wir können es nicht an- und abschalten, wie wir wollen, aber das heißt nicht, dass die sexuelle Attraktion unveränderbar ist.

Interview: Milena Österreicher

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