Spielen ist mehr als Unterhaltung

Von Alexander Pfeiffer · · 2024/Jan-Feb
Mithilfe von Stöcken treiben Kinder in der afghanischen Provinz Bamiyan Reifen vor sich her. Gut geeignet für Wettrennen. © Francis Alÿs

Menschen spielen seit tausenden von Jahren. Wieso es dabei um mehr geht als kurzweilige Ablenkung.

Spielähnliche Prozesse und Spiele prägen unsere Art zu lernen, zu arbeiten und zu interagieren. Von den hierarchischen Spielmechaniken, die gesellschaftliche Ränge abbilden, über das spielerische Erproben in Bildungskontexten bis hin zu E-Sports als professionelle Karriere – die Beispiele sind vielfältig und allgegenwärtig. Casual Games, wie beispielsweise die Handyspiele Candy Crush Saga oder Clash of Clans, dienen dabei als leicht zugängliche Unterhaltungsformate. Sie zeichnen sich durch einfache Regeln und die Möglichkeit zum kurzweiligen Spielen aus, oft ohne umfangreiche Verpflichtungen oder Zeitinvestitionen zu erfordern. Sie bieten daher einen modernen Zeitvertreib, um Momente der Langeweile zu vermeiden, während Gamification-Ansätze in Bildung, Personalwesen und im Gesundheitsbereich darauf abzielen, Elemente aus dem Spieldesign in zumeist nicht-spielerische Kontexte zu integrieren.

Diese Ansätze nutzen die intrinsische Motivation und die Verhaltensmechanismen des Spielens, um das Engagement, die Teilnahme und die Leistung in verschiedenen Bereichen zu steigern, indem beispielsweise Lerninhalte in einer spielerischen Art und Weise vermittelt oder Mitarbeiter:innen durch spielerische Anreize motiviert werden.

Auch Werbung und Marketing bedienen sich zunehmend solcher Techniken, um Konsument:innen zu binden. Und nicht zu vergessen: Spiele als Quelle der Freude und des lustvollen Zeitvertreibs in all ihren Facetten. Also das, was wir ganz klassisch unter Spielen verstehen. Aus heutiger Perspektive lässt vor allem die Allgegenwart von Smartphones Spiele und Spielmechaniken in viele weitere Lebensbereiche vordringen.

Es war einmal … Ein Blick in die Vergangenheit offenbart, dass Glücksspiel und Gesellschaftsspiele gemeinsame Wurzeln haben, die Tausende von Jahren vor Beginn unserer Zeitrechnung liegen. Spiele wie „Senet“ oder „Das Königliche Spiel von Ur“ bildeten die Grundlage dessen, was wir heute als moderne Freizeitbeschäftigung kennen. Diese Verbindung wird in der modernen Spieletheorie jedoch oft übersehen oder nur am Rande erwähnt, möglicherweise aus Sorge vor einer Assoziation der Spieleforschung mit dem doch eher schlechten Ruf der Glücksspielindustrie.

Diese antiken Spiele, tief verwurzelt in ihren jeweiligen Kulturen, fungierten als Spiegel gesellschaftlicher und religiöser Vorstellungen. Damit hatten sie eine Bedeutung, die über bloße Unterhaltung hinausging. „Das Königliche Spiel von Ur“ war weit mehr als ein Zeitvertreib; es diente auch als Mittel zur Wahrsagerei und leitete die Ära der regulierten Wettpraktiken ein. Wetten entstanden spontan, als neuer Bestandteil rund um das eigentliche Spiel.

„Senet“ nachbasteln   

Historiker:innen vermuten, dass es sich beim ägyptischen „Senet“ um ein Wettlaufspiel handelte, dessen Grundprinzipien noch heute zu finden sind.

Eine Variante zum Nachbasteln: Auf einen rechteckigen Karton werden 30 kleine Quadrate gezeichnet, also drei Reihen mit jeweils 10 Quadraten. Gespielt wird zu zweit mit 10 Spielfiguren und einem Würfel. Die Figuren besetzen zu Beginn abwechselnd die Felder der ersten Reihe. Nun versucht jede:r die eigenen Figuren als erstes ins Ziel zu bringen. Man bewegt sich zunächst die erste Reihe entlang nach links, an dessen Ende geht es um die Ecke und die zweite Reihe zurück. Dann entlang der dritten Reihe ins Ziel. Kommt man auf ein gegnerisches Feld, kann man es einnehmen und tauscht mit der Figur des/der Mitspielenden die Plätze. Gewonnen hat, wer zuerst die eigenen Figuren vom Brett bringt. Viel Spaß!  M. W.

Um die unkontrollierte Wettfreude und die damit verbundenen hohen Verluste zu zähmen, wurden daher erste Regulierungen eingeführt. Ein vergleichbares Phänomen zeigt sich heute in der Wettindustrie des E-Sports, wo ebenfalls Regulierungen geschaffen wurden, um Ordnung in die neuen Wettformen zu bringen und um bei Benutzung legaler Angebote für faire und verantwortungsvolle Praktiken zu sorgen.

Teil kultureller Praktiken. Diese Beispiele zeigen, dass Spiele über Jahrhunderte hinweg mehr waren als nur Zeitvertreib; sie waren Teil kultureller Praktiken und religiöser Rituale, wie die Beziehung zwischen „Senet“ und ägyptischen Gött:innen zeigt. Hier stand das „spielende Lernen“ über die Welt der Gött:innen im Vordergrund, ein früher Hinweis auf die erzieherische Kraft des Spielens. Heutzutage erleben beide Spiele eine Renaissance.

„Das Königliche Spiel von Ur“ wird im Irak durch ein Projekt der Universität von Raparin wiederbelebt, und Backgammon, das vermutlich von „Das Königliche Spiel von Ur“ abstammt, erfreut sich besonders in Ländern wie dem Iran und dem Irak großer Beliebtheit. Ihre Popularität und die Verfügbarkeit von Repliken in Online-Shops wie Amazon zeugen von ihrer zeitlosen Anziehungskraft.

Diese historische Betrachtung legt das Fundament für unsere Diskussion über die heutige Rolle des Spiels. Sie zeigt, wie diese Traditionen unser Verständnis von Spielen als gesellschaftliches Phänomen prägen und weiterhin die Zukunft des Spielens gestalten. Es gab jedoch eine Periode, in der Spielen nicht mehr selbstverständlich wurde. Die Industrielle Revolution.

Ein kleiner Zaun, zwei Teams aus Stöcken und eine Murmel sind die Bestandteile von „Rubi“, hier gespielt von Kindern in der DR Kongo. © Francis Alÿs

Spielverderberin. Die Industrielle Revolution zeichnete eine klare Grenze zwischen der Arbeitswelt und der Freizeit, was insbesondere die Spielkultur beeinflusste. Spiele wurden zu einer Domäne der Kindererziehung, um Lernen und Entwicklung zu fördern, während sie gleichzeitig als Freizeitbeschäftigung für Erwachsene in Gasthäusern dienten. In Österreich etwa war das Kartenspiel Schnapsen ein beliebter Zeitvertreib, der häufig in geselliger Runde ausgetragen wurde.

Für die arbeitende Bevölkerung galt Spielen allerdings oft als unproduktiv und fand daher selten statt.

Das industrielle Arbeitsethos ließ wenig Zeit für Spaß und Entspannung. Dennoch brachte diese Epoche eine Welle technologischer Neuerungen mit sich, die sich in den Spielsachen widerspiegelten: Mechanische Spielzeuge und Miniaturdampfmaschinen begeisterten Kinder wie Erwachsene und reflektierten die Faszination für den technischen Fortschritt jener Zeit. Das gemeinsame Bewundern und Ausprobieren dieser Maschinen war wohl die akzeptierteste Spielform innerhalb der Familien.

Dieser Prozess hat sich Jahrzehnte nicht verändert, doch dann kamen die Geeks und Nerds und halfen mit ihrer Art, die Welt zu sehen, Spiele, zukunftstechnologische Visionen und Fantasiewelten wieder gesellschaftsfähig werden zu lassen. Jedoch war dies ein langer Weg.

Rassismusfalle   

Die beste Strategie entwickeln, sich bereichern und damit andere besiegen. In vielen europäischen Brettspielen wird so Spaß definiert. Laut der Spieleforscherin Sabine Harrer geht dieses Verständnis auf Werke wie „Homo ludens“ (1938) von Johan Huizinga (1872-1945) zurück (vgl. auch Interview mit Harrer in diesem Dossier). Das Buch ist darin sehr stark mit orientalistischen Bildern vom Westen und dem Osten verknüpft. Der Wettbewerb, das Abenteuer, woanders hinzufahren und dort zu dominieren – das ist die Grundlage von dem, was wir als Spiel akzeptieren. „Huizinga war ein Orientalist. Das ist ganz klar in seinem Buch verankert. Das zitiert nur niemand“, so Harrer. Das westliche Spiel wird darin als zivilisatorisch und hochwertig dargestellt, kritisiert sie.  

Im Buch „The Race Card“ (2008) widmet der Autor Richard Thompson Ford ein Kapitel dem Orientalismus in der Spieleforschung und dessen Weitervererbung, indem Grundprinzipien nicht hinterfragt werden.  M. W.

Von Geeks und Nerds. Von den 1950er bis in die 2010er Jahre erlebte die Welt der Spiele eine digitale Revolution. In den frühen Tagen, an Orten wie dem Brookhaven National Laboratory im US-Bundesstaat New York oder dem Massachusetts Institute of Technology (kurz MIT) in Boston, entstanden die ersten digitalen Spiele. „Tennis for Two“, entwickelt 1958, gilt als eines der ersten Videospiele überhaupt, und „Spacewar!“ aus dem Jahr 1962 war ein wegweisender Vorläufer der späteren Computerspiele. Diese Spiele wurden auf großen Rechenmaschinen gespielt, die ganze Räume füllten und waren weit entfernt von dem, was wir heute unter Heimkonsolen verstehen.

Die erste Generation von Konsolen brachte dann Ende der 1970er Jahre die Games in die Wohnzimmer. Der Atari 2600 war eine der ersten Konsolen, die breite Anerkennung fand und Spiele wie Space Invaders oder Pac-Man einem weltweiten Publikum zugänglich machte. In den 1980er und 1990er Jahren wurden Video- und Computerspiele zunehmend populär und begannen, sich als eine eigene Unterhaltungsform zu etablieren.

Parallel dazu gewann das Konzept des Game-based Learning an Bedeutung. Spiele wie Math Blaster oder Math Grand Prix aus den 1980er Jahren nutzten das unterhaltsame Potenzial digitaler Spiele, um Bildungsinhalte zu vermitteln. Sie wurden teilweise bereits an Schulen, jedoch primär zu Hause verwendet und waren Teil einer Strategie, die das Lernen als lustvolle Aktivität präsentierte und die Verkaufszahlen ankurbeln sollte. Eltern wurde durch gekonnte Marketingstrategien vermittelt, etwas „pädagogisch Wertvolles“ für ihre Kinder zu kaufen. Obwohl diese Spiele aus der heutigen pädagogischen Perspektive als überholt gelten, stellten sie doch eine bahnbrechende Arbeit dar, um digitale Spiele im Bildungswesen zu etablieren.

In dieser Zeit kristallisierte sich auch die Geek- und Nerdkultur heraus. Geek bezeichnete ursprünglich jemanden mit tiefem Interesse und umfassendem Wissen in spezifischen, oft technologiebezogenen Bereichen, während Nerd eher eine soziale Komponente hatte und Personen beschrieb, die als intellektuell, aber sozial unbeholfen galten – und dabei viel Wissen über Science-Fiction und Fantasiewelten innehatten.

Traum Videosportler:in   

Mit 24 Jahren ist Lee „Faker“ Sang-hyeok ein Star und Multimillionär. Er gehört zu den weltbesten E-Sportler:innen, das heißt, dass er mit dem Spielen von Videospielen Karriere macht. Genauer gesagt mit „League of Legends“ (LoL), einem Spiel des US-amerikanischen Entwicklers Riot Games. Dabei treten zwei Teams zu je 5 Spieler:innen an, mit dem Ziel, das jeweils andere Team zu zerstören. Südkorea gilt als Hochburg des E-Sports, wo Turniere ganze Stadien füllen. Auf einem großen Bildschirm können die Fans die virtuellen Schlachten mitverfolgen und ihre Teams anfeuern. Der Beruf E-Sportler:in steht hoch auf der Wunschliste vieler junger Menschen. Platz in der Profiliga ist aber nur für wenige.  M. W.

Digitales Massenphänomen. Bis zu den 2010er Jahren hatten digitale Spiele alle gesellschaftlichen Schichten erreicht und waren zu einem Massenphänomen geworden. Es fand ein Umdenken statt: Spiele und das Spielen wurden nicht mehr nur als Zeitvertreib für Kinder oder als Nischenhobby für Geeks und Nerds angesehen, sondern als universelle Kulturform, die Menschen weltweit verbindet und auf vielfältige Weise bereichert.

Die Spieleindustrie hatte sich zu einem der größten Segmente im Entertainmentsektor entwickelt, und Games wurden immer mehr als wichtiger Teil der kulturellen Landschaft gewürdigt. Die digitale Spieleforschung begann vermehrt anerkannt zu werden.

In den vergangenen drei Jahren half zudem die Pandemie, dem Spiel Anerkennung zu geben, von Institutionen wie der Weltgesundheitsorganisation WHO, die dem Thema der digitalen Spiele eher kontrovers gegenübergestanden sind.

Zuflucht & Gemeinschaft. Während in der Covid-Pandemie physische Distanzierung notwendig wurde, fanden Menschen Zuflucht und Gemeinschaft in der digitalen Welt. Online-Spiele und digitale Versionen klassischer Brettspiele schufen Raum für soziale Interaktionen und trugen zur Aufrechterhaltung des sozialen Wohlbefindens bei, indem sie eine Form der Resilienz gegenüber den Belastungen der Isolation boten. Sie wurden zu virtuellen Treffpunkten, an denen Freundschaften gepflegt und neue gebildet wurden.

Die Zeit der Pandemie zeigte, Spiele – analog wie online – erfüllen verschiedene Funktionen. Unterschiedliche Aspekte, Formen und Arten davon sind auf den folgenden Seiten dieses Dossier zu entdecken. Weiterlesen – und weiterspielen!

Alexander Pfeiffer ist Leiter des Emerging Technologies Experiences Lab an der Universität für Weiterbildung Krems im Zentrum für Angewandte Spieleforschung.
donau-uni.ac.at/emtech-lab

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