Stein der Geduld

Von Ruth Papacek · · 2010/05

Atiq Rahimi

Roman. Aus dem Französischen von Lis Künzli. Ullstein Verlag, Berlin 2009, 176 Seiten, € 18,-

Der Mann liegt schlafend auf einer roten Matratze. Seine Frau sitzt neben ihm, harrt seines Aufwachens und teilt die Zeit in seine Atemzüge ein. Und als er gar nicht aufwachen will, beginnt die Frau mit ihm zu sprechen. Erzählt ihre täglichen Sorgen, ihre quälende Verzweiflung, ihre Angst vor dem, was kommen wird: allein mit zwei Kindern, der Mann durch eine Kugel verwundet, der Krieg vor und in dem eigenen Haus, Bedrohung überall. Einen Ausweg scheint es nicht mehr zu geben.

Titelgebend für den Text ist der Mythos von jenem Stein, dem man all seine Not erzählen kann und der, nachdem er alles aufgesogen hat, explodiert. Und so erzählt die Frau endlich das, worüber sie schon immer mit ihm sprechen wollte, sich aber nicht getraut hat. Bis es soweit ist und der Stein in einer roten Wolke birst. Die Wahrheit besitzt eine solche Sprengkraft, dass ihre Wirkung nicht ertragen werden kann.

Eindringlich und poetisch schildert der in Kabul geborene (und nach Frankreich geflohene) Literat Rahimi die bewegende Rede einer Frau, die sowohl um ihr Leben als auch ihre Liebe trauert. Sie, die niemals die Möglichkeit hatte, eine selbstbestimmte Existenz zu erleben, schildert im Angesicht des schlafenden Mannes geradezu schamlos ihre Gedanken. Jetzt, wo ihr niemand eine Grenze in ihrem Denken und ihrer Sprache setzt, bilden Wirklichkeit und Persönlichkeit eine faszinierende Mischung. Rahimi bleibt als Erzähler erstaunlich distanziert, er redet seine Figuren mit „der Mann“ und „die Frau“ an. Beide verbleiben namenlos, sie stehen für ein allgemeingültiges Schicksal, das sich überall vollziehen kann.

Am Ende zerstört sich der Stein jedoch selbst, denn in einer Welt, welche die Wahrheit nicht verarbeiten kann, scheint kein Platz für deren Existenz zu sein. Tod und Vernichtung drohen dem, der die Ordnung zu gefährden scheint. Obwohl der Text in seiner Aussage zeitlos ist, besitzt er doch deutliche Parallelen zur Gegenwart: Kriege (in Afghanistan und vielen anderen Ländern) bringen Leid und Trauer auf die Welt – nicht allein für die Frauen, aber vor allem für die Familien, die zerbrochen und zerrissen werden. Zu Recht hat das Buch den Prix Goncourt 2008 erhalten und zählt zu einer der besten Empfehlungen des Literaturjahres 2010.
 

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