Terroristen, Verbündete und nationale Interessen …

Von Brigitte Voykowitsch · · 2001/11

Nicht nur Afghanistan und die Taliban-Regierung stellen einen Krisenherd in Südasien dar. In Pakistan ist die innenpolitische Zerreißprobe zwischen den gezwungenen „Terroristen-Bekämpfern“ und radikalen Islamisten noch nicht ausgestanden, und die Atommächte Indien und Pakistan liegen sich wegen des Kaschmir-Konflikts seit mehr als 50 Jahren in den Haaren.

Abdul Qadir Khan sprach von einer „heiligen Mission“. Die Rede war diesmal allerdings nicht von einem Krieg im Namen der Religion. Khan, der Vater der pakistanischen oder, wie sie auch genannt wird, „islamischen“ Atombombe, bezog sich auf die Aufgabe „Tausender Fachkräfte“, die Sicherheit der Nuklearanlagen seines Landes zu garantieren. Selbst bei Angriffen der USA auf das benachbarte Afghanistan bestehe keinerlei Gefahr für das eigene Atomarsenal, betonte Khan, noch bevor Washington seine Militärkampagne zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus lancierte.

Überzeugen konnte Khan freilich bei weitem nicht alle in- und ausländischen ExpertInnen. Als größte Bedrohung nannten sie dabei nicht fanatische muslimische Gruppierungen, die sofort nach Beginn der US-Militärschläge gewaltsam dagegen zu protestieren begannen, dass Islamabad sich der von den USA geführten internationalen Allianz gegen den Terrorismus anschloss. Als schlimmstes in einer Reihe von potentiellen Katastrophenszenarien für Pakistan, zu denen auch ein Bürgerkrieg zählt, bezeichneten Analysten schon bald den Sturz von Militärmachthaber Präsident Pervez Musharraf durch rechtsgerichtete Armeeangehörige. Ein von islamistischen Hardlinern geführtes und im Besitz der Atombombe befindliches Regime in Islamabad könnte sich als Albtraum für den gesamten südasiatischen Raum erweisen.

Musharraf selbst war bemüht zu zeigen, dass er und die gemäßigten Kräfte die Oberhand hatten. Der Chef des Geheimdienstes (ISI) sowie weitere Generäle, die ihm vor zwei Jahren an die Macht verholfen hatten, wurden Anfang Oktober wegen ihrer Unterstützung für die Taliban ihrer Ämter enthoben. Die Führer einiger radikaler Organisationen wurden unter Hausarrest gestellt, und der Präsident versicherte, dass sein Regime nicht länger Koranschulen dulden werde, die zu Aggression und einem heiligen Krieg aufriefen.

Angesichts der turbulenten, von exzessiver Gewalt und religiöser Radikalisierung geprägten Geschichte des Subkontinents seit der Unabhängigkeit von den Briten 1947 konnten solche Schritte allerdings kaum wirklich beruhigen. Für den Augenblick mochte Musharraf eine interne Rebellion abgewendet haben; weder die Wurzeln des Extremismus noch irgendeines der regionalen, die Landesgrenzen überschreitenden Probleme waren damit aber auch nur angesprochen.

Diese Aufgabe haben in Pakistan Kommentatoren übernommen, die sich nicht scheuen, an die Ursprünge zurückzugehen und zu fragen, was denn aus ihrer Heimat geworden sei, die eine friedliche und sichere Stätte für die Muslime des Subkontinents hätte werden sollen. Als ein einziges Land hätte der Subkontinent keinen Bestand, hatte der Führer der Muslimliga, Muhammed Ali Jinnah, einst argumentiert, da Muslime und Hindus mit ihren unterschiedlichen Religionsphilosophien und Gesellschaftssystemen zwei verschiedene Nationen darstellten und ein Land, das beide beherbergen würde, unweigerlich auseinander brechen müsse. Er forderte – und bekam – Pakistan als den bislang einzigen eigens für Muslime geschaffenen Staat der Welt.

In seiner Rede vor der Konstituierenden Versammlung im August 1947 sprach Jinnah aber auch von seinen Idealvorstellungen für die Zukunft: „Im Laufe der Zeit werden Hindus aufhören, Hindus zu sein, und Muslime aufhören, Muslime zu sein, nicht im religiösen Sinn, sondern im politischen Sinn als Bürger des Staates“. Pakistanis und Inder würden ihre nationale Identität voranstellen und friedlich nebeneinander leben? „Wovon sprach denn Jinnah? Hatte der Wirbelsturm der Ereignisse ihn derart desorientiert?“, fragte später Stanley Wolpert, einer seiner Biographen. Jinnah verstarb bereits im Jahr nach der Unabhängigkeit und konnte zur Verwirklichung seiner Ideen nur mehr wenig beitragen. Doch als er derart große Ziele verkündete, hatte die Massenmigration von Hindus Richtung Indien und Muslimen Richtung Pakistan bereits eingesetzt und war es zu den ersten großen Massakern gekommen, denen bis zu zwei Millionen Menschen zum Opfer fallen sollten. Hatte Jinnah wirklich angenommen, diese Gewalt sei ein vorübergehendes Phänomen, auf die der Aufbau zweier großer und friedliebender Nationen folgen würde?

Über die wahren Vorstellungen Jinnahs sind sich Experten und Politiker bis heute uneins. Das Spektrum derer, die ihn für sich reklamieren, reicht von Säkularisten, gemäßigten und demokratisch eingestellten Muslimen bis hin zu manchen Islamisten. Fest steht nur, dass Pakistan eine Entwicklung genommen hat, die kaum weiter weg hätte führen können von dem Motto „Einheit, Glaube und Disziplin“, das sein Gründer einst für das Land wählte.

Die südasiatischen Staaten gleiten den rutschigen Hang ethnisch und religiös motivierter Gewalt hinunter“, schrieb ein anderer Jinnah-Biograph, Akbar S. Ahmed, zur Millenniumswende und führte aus: „Dem Problem zugrunde liegt das Versagen, die zentrale Frage der Identität im Geiste der Toleranz zu lösen. In Indien dreht sich der Konflikt um Religion und Kaste, in Pakistan um ethnische Zugehörigkeit und Sekte.“

Lediglich im Ringen für die Schaffung von Pakistan hatte die muslimische Identität vorübergehend alle anderen Zugehörigkeiten überlagern können. Sobald der Staat entstanden war, traten regionale, ethnische, linguistische und innerreligiöse Zwistigkeiten zwischen Ost- und Westpakistan sowie innerhalb der beiden Landesteile in den Vordergrund. Die puritanische Deobandi-Sekte und die im Sufismus wurzelnden Barelvis organisierten sich in antagonistischen Parteien und gerieten unter anderem im Streit um die Finanzierung von Schreinen aneinander. Die in der Minderheit befindlichen Schiiten wehrten sich gegen eine Übervorteilung durch die Sunniten. Macht- und Verteilungskämpfe führten 1971 schließlich zum Krieg und zur Unabhängigkeit Ostpakistans als neuer Staat Bangladesch.

Die mehr als 90 Prozent der BürgerInnen gemeinsame Religion hatte das Land genauso wenig zusammenhalten können wie die von Jinnah anvisierte zivile, „pakistanische“ Identität. Ein prominenter paschtunischer Nationalist sollte die Identitätsfrage in den 80er Jahren mit folgenden Worten auf den Punkt bringen: „Ich bin seit 4000 Jahren ein Paschtune, seit 1400 Jahren ein Muslim und seit 40 Jahren ein Pakistani.“

Indien, das die Zwei-Nationen-Theorie stets bestritten und Ostpakistan 1971 militärisch unterstützt hatte, fühlte sich in seiner Haltung im Kaschmir-Konflikt zusätzlich bestätigt. Wenn Islamabad darauf pochte, dass diese mehrheitlich muslimische Region 1947 Pakistan hätte zugeschlagen werden müssen, konnte Neu-Delhi nun auf die mangelnde Eignung des Islam als Kitt für Pakistan verweisen. Schon immer hat Neu-Delhi ja darauf beharrt, dass im säkularen Indien Platz für alle sei. Schließlich hätten Millionen Muslime in allen Teilen Indiens 1947 aus freien Stücken beschlossen, zu bleiben und nicht nach Pakistan zu migrieren. Indien hat somit stets mehr Muslime zu seinen BürgerInnen gezählt als Pakistan, dessen Gründung radikalen Hindus freilich ein mächtiges Argument geliefert hat: Indien – Hindustan – sei das Land der Hindus, das die Muslime nur tolerieren würde, solange sie sich als gefügig erwiesen. Nicht abzusehen ist, was passieren würde, sollte die hindu-chauvinistische Indische Volkspartei (BJP) je genug Stimmen bekommen, um in Neu-Delhi eine Alleinregierung zu bilden. Überzeugte indische Säkularisten hoffen darauf, diesen Tag nie erleben zu müssen.

Nicht wenige dieser Säkularisten betonen aber auch, dass Indien jenen Teil Kaschmirs, der ihm nach dem ersten Krieg mit Pakistan verblieb, nie aufgeben könne, da dies den radikalen Hindus ein weiteres verheerendes Element liefern würde: Wenn uns Kaschmir genommen wird, weil es muslimisch ist, was machen denn all die anderen Muslime noch hier, könnte dann die Frage lauten. Würde es in der Folge zu neuerlichen Migrationsbewegungen und Massakern kommen wie 1947?

Sobald sich nach dem 11. September die Allianz gegen den Terrorismus zu bilden begann, brachte Neu-Delhi das Thema Kaschmir auf, wo bewaffnete Gruppen seit einem Jahrzehnt um die Unabhängigkeit von Indien und/oder den Anschluss an Pakistan kämpfen. Indien wirft Islamabad nicht nur vor, die Kämpfer zu finanzieren, auszubilden und zu bewaffnen. Während Indiens Premier A. B. Vajpayee 1999 mit einem Besuch in Pakistan eine neue Phase der Entspannung einleiten wollte, bereitete der Nachbar bereits eine Invasion in Kaschmir vor, die im Frühsommer des gleichen Jahres zu einem weiteren und dem möglicherweise ersten nuklearen Krieg zu führen drohte. Verantwortlich gewesen sein soll der damalige Armeechef Pervez Musharraf, der im Herbst 1999 in einem Coup die Macht übernahm und sich nun als Präsident der internationalen Koalition gegen den Terrorismus angeschlossen hat. „Ein Land, das Teil des Problems ist, wollen die USA nun für eine Lösung heranziehen. Viel Glück“, erklärte Indiens Außenminister Jaswant Singh in einem Interview. Ein führender Kongresspolitiker drückte es direkter aus: „Für uns ist Präsident Pervez Musharraf der Terrorist Nummer 1. Für die USA ist dieser selbe Präsident Pervez Musharraf der Verbündete Nummer 1.“

Kommentatoren in Pakistan würden diese Sichtweise so nicht teilen. Einige haben aber bereits auf die Notwendigkeit verwiesen, den Kampf gegen den Terrorismus allein in Südasien an mindestens drei Fronten zu führen: in Kaschmir, das Ex-US-Präsident Bill Clinton nach den indischen und pakistanischen Atomtests vom Mai 1998 als den gefährlichsten Krisenherd der Welt bezeichnete; in Pakistan selbst; und schließlich in Afghanistan, wo Islamabad seine bisherige Politik von Grund auf überdenken müsse.

Mit Zia ul-Haq (1977-88) begann für den Analysten A. B. S. Jafri jener gefährliche Abstieg in den Extremismus, den Pakistan bis heute nicht umkehren konnte – oder wollte. Zia, meint Jafri, sei das Bestreben der USA, die 1979 in Afghanistan eingefallenen Sowjets wieder zu vertreiben, nur recht gekommen. Der Kampf war die Stütze, „die ihm zu zehn Jahren absoluter Macht verhalf“, die er auch zur Islamisierung des Landes und der Armee nutzte. Unabhängig davon, ob ExpertInnen diese Politik in Zias persönlichem Glauben, seinem Bemühen um die Festigung der pakistanischen Identität oder in einer zynischen Rechtfertigung seines illegitimen Regimes begründet sehen; fest steht, dass sie weder die zentrifugalen Kräfte mindern noch zur Einigung unter den zahlreichen muslimischen Schulen und Sekten beitragen konnte.

Die Schiiten stellten vielmehr die auf einer sunnitischen Rechtssprechung beruhende Islamisierung in Frage. Im Zuge der Revolution im Iran und der Mobilisierung der Mudschaheddin in Afghanistan entstanden auch in Pakistan eine Vielzahl neuer radikaler Gruppierungen. Nicht nur Flüchtlinge kamen ins Land, dieses wurde zusehends mit Waffen überschwemmt, die rivalisierende islamistische Organisationen rücksichtslos – und weitgehend ungestraft – gegeneinander einzusetzen begannen.

Zia ul-Haq’s Allianz mit den USA gegen die Sowjets in Afghanistan war aus strategischer Sicht heraus verständlich. Pakistan, anerkannte ein Kommentator in der angesehenen Tageszeitung „Dawn“ kürzlich, habe „ein natürliches Interesse daran, in Kabul eine ihm freundlich gesinnte Regierung zu haben“. Mit dem „feindlichen Indien“ im Osten und dem „nach regionaler Vorherrschaft strebenden schiitischen Iran“ im Westen benötige man wenigstens in Afghanistan Rückendeckung. Die im Kalten Krieg zu Indien stehenden Sowjets konnte man folglich nicht dulden. Dass wenige Jahre nach deren Abzug aber aufeinander folgende demokratisch gewählte Regierungen von Benazir Bhutto (1988-90, 1993-96) und Nawaz Sharif (1990-93, 1996-99) so weit gingen, den Aufstieg der fundamentalistischen Taliban zu fördern und nach deren Machtübernahme enge Beziehungen mit ihnen zu unterhalten, habe sich als absolute Verkehrung der Interessen Pakistans erwiesen.

„Eine rigide ideologische Regierung wie die Taliban mit ihrer engen Weltsicht kann kein verlässlicher Partner“ für Pakistan sein, betonte Jafri und würdigte Musharrafs nunmehrige Allianz mit den USA wie auch die Absetzung des islamistischen und Taliban-freundlichen Geheimdienstchefs als „erste Schritte im nationalen Interesse Pakistans“. Er wies allerdings auch darauf hin: Pakistans muslimische Extremisten „ haben sich für eine entscheidende Schlacht um die Seele des afghanischen und pakistanischen Staates in den Schützengräben eingerichtet“.

Die Autorin ist freie Journalistin mit Arbeitsschwerpunkt Süd- und Südostasien.

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