Überleben am Lebensabend

Von Helmut Spitzer · · 2008/02

Ostafrika: Von der jüngeren Generation, der Politik und der Entwicklungszusammenarbeit ignoriert und im Stich gelassen, versuchen viele alte Menschen, ihr Auskommen durch kooperative Selbsthilfeprojekte zu sichern. Ein Lokalaugenschein in Uganda und Tansania.

Soziale Sicherheit gibt es bei uns nicht. Keine staatlichen Pensionen, medizinische Behandlung nur gegen Bezahlung, und die Unterstützung durch jüngere Familienmitglieder schwindet, weil diese in die Stadt ziehen oder vor uns sterben.“ So lautet das nüchterne Fazit von John Nyakatura, dem Vorsitzenden der Organisation HOVOPA (Hoima Voice of Older People Association) im Nordwesten Ugandas. Hier, im Siedlungsgebiet der Banyoro in der Nähe vom Albertsee, geht es für viele alte Menschen ums nackte Überleben. „Wir befinden uns im Krieg.“ Der alte Mann spricht nicht vom schwelenden Konflikt nördlich des Nils. Er meint den permanenten Kampf gegen die tödliche Immunschwächekrankheit, deren Namen hier meist nur hinter vorgehaltener Hand ausgesprochen wird.
Im Dorf Kyabale bekommt dieser Kampf ein konkretes Gesicht. Ein altes Ehepaar berichtet: Seit 54 Jahren verheiratet, alle acht Kinder an Aids verstorben. Zurück geblieben sind 21 Enkelkinder und vier Urenkel, die es zu versorgen gilt, deren Schuluniformen bezahlt werden müssen, deren Zukunft in den Sternen steht. Zwei der Kinder sind selbst mit dem Virus infiziert. Wer soll ihre medizinische Behandlung bezahlen? Und was passiert, wenn die Alten selbst krank werden? Der Weg zur nächsten Krankenstation ist für sie unüberwindbar weit. Das alte Paar ist schwach und hat resigniert. Die politische Parole der ugandischen Regierung „Wohlstand für alle“ können sie nur belächeln. Unterstützung bietet eine lokale Selbsthilfegruppe, die sich einem Gleichaltrigenansatz verschrieben hat: Alte helfen Alten.

Zu den Aktivitäten solcher Gruppen gehören Hausbesuche durch ausgebildete HeimhelferInnen, einmalige Geldzuschüsse und medizinische Grundversorgung für die Ärmsten der Armen sowie Mikrokreditprojekte, damit sich die Betroffenen durch Einkommen schaffende Maßnahmen längerfristig selbst versorgen können.
„Was diese Projekte leisten, ist der buchstäbliche Tropfen auf den heißen Stein“, urteilt Kezia Mukasa. Es überrascht, diese Einschätzung aus dem Mund der Projektkoordinatorin der Uganda Reach the Aged Association zu hören, einer Nichtregierungsorganisation, die sich für alte Menschen einsetzt und mit mehr als 80 Selbsthilfegruppen und Gemeinwesenprojekten in beinahe allen Regionen Ugandas zusammenarbeitet. Doch will Mukasa nicht die Bemühungen der alten Menschen diskreditieren, sondern vielmehr politische EntscheidungsträgerInnen zur Verantwortung rufen. In Uganda wartet ein Gesetzesentwurf, der die Belange alter Menschen auf die politische Agenda bringen und eine Grundlage für staatliche Versorgungsleistungen schaffen soll, seit Jahren darauf, im Parlament behandelt zu werden.

Der global beobachtbare demographische Wandel verläuft in Afrika viel dramatischer als in den Industrienationen und gestaltet sich überaus komplex. Fruchtbarkeitsraten sind nach wie vor sehr hoch, die Zahl der Kinder und Jugendlichen ist weiter im Steigen begriffen, beträgt in manchen Ländern bis zu 50 Prozent der Gesamtbevölkerung. Gleichzeitig führen die Sterblichkeitsraten der Menschen im reproduktiven Alter aufgrund der Aids-Pandemie zu einer durchschnittlichen Senkung der Lebenserwartung. Dennoch steigt die Anzahl der alten Menschen. Diese könnten ein sehr hohes Alter erreichen, wären eine adäquate Gesundheitsversorgung und Ernährungs- und Einkommenssicherheit gewährleistet – was in den meisten Kontexten allerdings nicht der Fall ist. In den Ländern Ostafrikas wird sich die Zahl der über 60-jährigen laut Prognosen bis zum Jahr 2050 versechsfachen. Für Uganda bedeutet das zum Beispiel eine Zunahme von sechs Millionen alten Menschen, und im Nachbarland Tansania von heute 1,5 Millionen auf neun Millionen in den nächsten vier Dekaden. Parallel dazu vollzieht sich ein drastischer Strukturwandel, in dem sich Prozesse von Modernisierung, rapider Urbanisierung und immenser Land-Stadt-Migration miteinander verknüpfen.
Vor allem das Bevölkerungsaltern im ländlichen Raum wird tief greifende Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion, die Ernährungssicherheit, das Gesundheitswesen und den allgemeinen Entwicklungsprozess mit sich bringen. Familiäre Unterstützungsnetzwerke, die traditionell für soziale Sicherheit im Alter garantierten, erodieren, und gekoppelt an einen allgemeinen Wertewandel verändert sich auch die Stellung alter Menschen in der Familie wie in der Gesellschaft an sich. Der Mythos vom Respekt gegenüber den Alten in Afrika erscheint in diesem Licht umso fragwürdiger.
Dabei trifft Frauen das Los des Alters ungleich härter. Ältere Frauen haben generell einen geringeren sozialen Status und verfügen über bedeutend weniger ökonomische Ressourcen als ältere Männer. Werden sie zur Witwe, stehen sie schnell mittellos da, weil traditionelles Erbrecht ihnen den Nachlass verwehrt. Dennoch haben sie mehr an Aufgaben und Verantwortlichkeiten zu bewältigen. Dazu gehört insbesondere das Problem der Aids-Waisen. Allein in Uganda leben eine geschätzte Million Waisenkinder. Es sind überwiegend ältere Frauen aus dem erweiterten Familiensystem, in 60 Prozent der Fälle die Großmütter, die sich um sie kümmern. Für sie wird der Begriff Mama Jaja verwendet, eine Wortkombination aus dem Luganda, die Mutter und Großmutter zugleich bedeutet.

Im September 2007 fand in Nairobi die erste ostafrikanische Konferenz zu Altersfragen statt. VertreterInnen aus Sozial- und Gesundheitspolitik, Forschung, Sozialarbeit und Akteure nationaler und internationaler Hilfsorganisationen führten eine Bestandsaufnahme der Unterstützungssysteme in der Region durch und diskutierten Zukunftsszenarien. Von Burundi über Uganda bis Äthiopien lautete die Bilanz unisono: Es gibt noch viel zu tun. Dabei blieben die Ziele bescheiden, wie es ein Abgeordneter aus Uganda formulierte: „Lasst uns zumindest das Überlebensniveau alter Menschen ein wenig heben.“ Allen Ländern gemeinsam ist, dass es noch viel zu wenig verlässliche Daten und kaum fundierte Forschung über die Lebenssituation und Überlebensstrategien alter Menschen gibt.
Auf globaler Ebene setzten die Vereinten Nationen 2002 auf der zweiten Weltversammlung über das Altern in Madrid einen Meilenstein, als sie einen Internationalen Aktionsplan verabschiedeten, der Fragen des Alterns speziell im Hinblick auf Altersversorgungssysteme in Entwicklungsländern berücksichtigt. Doch bei politischen Lippenbekenntnissen braucht es bekanntlich viel Geduld und vor allem politischen Willen, bis daraus konkrete Maßnahmenpakete geschnürt werden. Bei den viel gepriesenen Millenniumsentwicklungszielen blieben alte Menschen überhaupt gänzlich unerwähnt. Trotzdem gibt es Fortschritte zu verzeichnen, auch und speziell in Afrika.

Die Vereinigte Republik Tansania hat 2003 einen nationalen Aktionsplan zur Situation alter Menschen ins Leben gerufen, der die Gesundheit, Partizipation und Einkommenssicherheit älterer Menschen fördern soll. Auch in der Armutsbekämpfungsstrategie des Landes sind alte Menschen inzwischen berücksichtigt. Allerdings hapert es auch hier an der Umsetzung: Die Mittel werden nicht locker gemacht oder versickern aufgrund der nur zurückhaltend umgesetzten Dezentralisierung in undurchschaubaren Kanälen.
Der bisher größte Akteur im Bereich von Altenhilfeprogrammen ist die nichtstaatliche Organisation HelpAge International, die in Dar es Salaam ein Regionalbüro hat. Sie unterstützt 50 Selbsthilfeprojekte in verschiedenen Regionen Tansanias. Die Regierung selbst verhält sich eher zugeknöpft, was eine adäquate Versorgung ihrer Altenbevölkerung betrifft. Davon zeugt ein Besuch in einer der staatlichen Einrichtungen für alte Menschen, die im Volksmund „Armencamps“ genannt werden. Im infrastrukturell unterversorgten Stadtteil Nunghe im Süden von Dar es Salaam leben in einer von ihrer Umgebung isolierten Barackensiedlung knapp 200 alte Menschen und fristen ein kümmerliches Dasein. Viele leiden an Lepra und anderen chronischen Krankheiten und sind abhängig von Almosen und gelegentlichen Nahrungsmittelspenden aus der Nachbarschaft. Auch hier ein altes Paar. „Ich habe keine Finger mehr, meine Frau ist blind, der Boden unfruchtbar.“ Der alte Mann sagt dies ohne hörbare Verbitterung. Sein Leben wird bald vorbei sein, doch er spricht hoffnungsfroh von seinen Enkelkindern und deren Zukunftschancen.
„Wenn in Afrika ein alter Mensch stirbt, verbrennt eine Bibliothek.“ Dieser bemerkenswerte Satz des malischen Schriftstellers Amadou Hampâté Bâ bringt den ungeheuren Erfahrungs- und Wissensschatz alter Menschen zum Ausdruck. Er steht auch für den Beitrag, den die ältere Generation für ihre Familien und die Gesellschaft leistet. In Afrika wie in Europa droht dieses Potenzial allzu leicht in Vergessenheit zu geraten, und das Alter wird zur vernachlässigbaren Restkategorie. Dem ist da wie dort entgegenzuwirken.

Helmut Spitzer ist Professor an der Fachhochschule Kärnten, Studiengang Soziale Arbeit, Feldkirchen. Zur Zeit arbeitet er mit dem Institut für Sozialarbeit in Dar es Salaam an einem Forschungsprojekt über soziale Sicherheit alter Menschen i

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