Visionen zum Geld – Flohmarkt oder alternative Wirtschaft

Von Redaktion · · 2003/10

Als die Wirtschaft in Argentinien Ende 2001 zusammenbrach, organisierten sich Millionen Menschen in Tauschclubs, „Clubes de Trueque“. Doch ein Jahr später fiel das ökonomische Experiment, das ein Fundament für eine neue, solidarische Wirtschaft legen wollte, erst einmal zusammen. Ein Rückblick von Gaby Weber.

Dezember 2001. Die argentinischen Sparguthaben werden eingefroren, sogar an Girokonten kommt kaum noch jemand heran. Die Regierung erklärt ihre Zahlungsunfähigkeit und wertet den Peso ab. Zehn Jahre lang war er künstlich im Verhältnis eins zu eins mit dem US-Dollar gehalten worden, um die chronische Inflation einzudämmen. Nun geht nichts mehr. Die Leute haben kein Geld mehr in der Tasche, wer überleben will, tauscht alte Schuhe und Nippes in den wie Pilze aus dem Boden geschossenen Tauschklubs. Dort gelten keine Pesos, sondern eigenes „Geld“, selbst gedruckte Kreditscheine, die „Créditos“.
Zum Beispiel im selbstverwalteten Sozialwerk „Sentimiento“. Mehrmals die Woche wechselten dort Waren den Besitzer, nicht gegen Geldscheine, sondern gegen Créditos. Es wurde gehandelt, aber nichts verkauft: alte und neue Kleider, Schuhe, CDs, Früchte, Kuchen und Säfte. Auch Klempner und Anwälte boten ihre Dienste an. Die Créditos wurden in den folgenden Wochen auch von Taxiunternehmen und Restaurantketten akzeptiert. Urlaubsreisen wurden finanziert, gebrauchte Autos, Grundstücke und Wohnungen. In Ermangelung der „normalen“ Währung konnten die BürgerInnen mancherorts sogar Steuern damit bezahlen. Im selben Tempo wie die reale Wirtschaft und die reale Währung im Chaos versanken, wuchs die Bedeutung der Tauschklubs. Auf ihrem Höhepunkt ernährten sich fast zehn Millionen ArgentinierInnen auf diese Weise, ein Drittel der Bevölkerung. Und die OrganisatorInnen redeten schon davon, Einfluss auf die reale Wirtschaft zu nehmen, auf die landwirtschaftliche und auf die industrielle Produktion. Sie wollten ProduzentInnenen und KonsumentInnen zusammenführen, ohne Zwischenhändler, ohne multinationale Konzerne.

Einige Ansätze funktionierten auch. „Sentimiento“ kaufte bei einer landwirtschaftlichen Kooperative in der Provinz Corrientes tonnenweise Reis ein. Die Bauern mussten zwar mit Pesos bezahlt werden, denn mit Créditos konnten sie in ihrem Dorf wenig anfangen. In Buenos Aires wurde der Reis abgepackt und etikettiert und gelangte um die Hälfte billiger als in den Supermärkten zu den VerbraucherInnen.
Zwar war der Wert der Tausch-Tickets nicht garantiert, doch man vertraute ihnen. Die Organisatoren verwiesen darauf, dass auch die von den Zentralbanken ausgegebenen Währungen schon lange keinen realen Gegenwert – früher war es der Goldstandard – mehr aufweisen, sondern lediglich auf dem Vertrauen basieren, das die BürgerInnen ihren Finanzpolitikern entgegen bringen. Und das ist in Argentinien sehr gering.
In den Tauschklubs – so jubelte man damals – sei ein paralleles Währungssystem entstanden, auf das die Zentralbank keinen Einfluss habe. Und es funktionierte ja zunächst tatsächlich und stellte die herrschenden Wirtschaftstheorien in Frage, nach denen der Wert einer Ware steigt, je knapper sie ist. Das heißt, um den Kurs einer Währung stabil zu halten und Inflation zu verhindern, muss die Geldmenge begrenzt werden. Doch obwohl die Tauschklubs großzügig ihre Créditos ausgaben, um den Konsum anzukurbeln, gab es relativ wenig Inflation. In den ersten Monaten zumindest.
Den Organisatoren wuchs ihr Erfolg über den Kopf. Sie begannen, von einer „anderen Wirtschaft“ zu reden, von einer „Alternative“ zum Kapitalismus, von einem „neuen Währungssystem“. Die Tauschklubs wurden politisiert. Politische Parteien mischten sich ein, linke WirtschaftsjournalistInnen sahen ihre Theorien bestätigt, aus dem Ausland reisten Fernsehteams an. Und es entstanden tatsächlich auch neue soziale Strukturen. Gleichzeitig breitete sich politisch im bürgerlichen Spektrum gähnende Leere aus. Präsident Fernando de la Rúa war von einer breiten Volksbewegung wegen Unfähigkeit aus dem Amt gejagt worden, die folgenden Peronisten improvisierten glücklos. Die Tauschklubs füllten ein politisches Vakuum. Das Wort „Politiker“ wurde zum Schimpfwort, und in den Clubes de Trueque wurden nicht nur Waren, sondern auch Wärme und Solidarität mit den Verlierern des Wirtschaftsmodells – der Mehrheit des Volkes – geübt.

Ruben Ravena ist einer der Gründerväter der Tauschklubs. Er sucht auch nach theoretischen Alternativen zur herrschenden, kapitalistischen Logik des Marktes und fand Silvio Gesell, Autor des 1916 in Bern erschienenen Buches „Die natürliche Wirtschaftsordnung durch Freiland und Freigeld“, den, wie er ihn nennt, „Karl Marx der Anarchisten“. Gesell kritisierte Zinswucher und Spekulation und entwickelte eine Wirtschaftsordnung, die ohne Zinsen und Inflation funktionieren sollte. Für seine GegnerInnen aus dem kommunistischen Lager war Gesell, der viele Jahre in Argentinien lebte, ein „Idealist“ und „Träumer“. Für andere war er – wegen seiner Attacken gegen das „jüdische Finanzkapital“ – ein Antisemit.
Gesell wollte die kapitalistische Ausbeutung unmöglich machen, indem er mit „Freigeld“, einem umlaufgesicherten, mit ständiger aber geringer Gebühr belasteten Geld, jeden Geldbesitzer dazu zwingen wollte, etwas mit seinem Geld anzufangen statt es zu horten. Am Ende sollte eine Wirtschaft stehen, die ohne Zinsen auskam. Die Einkünfte aus der Verpachtung von Grund und Boden sollte die öffentliche Hand verwalten, niemand sollte auf Kosten anderer oder von Zinseinkünften leben.
Gesell starb 1930. „Seine Idee lebt aber weiter“, glaubt Ruben Ravena. Auch wenn seine Theorien von den meisten ÖkonomInnen eher belächelt werden, ist an Ravenas Aussage sicher richtig, dass immer mehr Menschen eine Wirtschaftsform suchen, die nicht auf dem Terror des Marktes beruht. Nicht nur, aber vor allem in Krisenzeiten.

Doch dann gerieten die Tauschklubs in die Krise. Die Gründe sind vielfältig. Zum einen gingen den Leuten schlicht ihre tauschbaren Waren aus. Nach dem Währungscrash Ende 2001 hatte vor allem die Mittelschicht, auch die obere Mittelschicht, diese Klubs bevölkert. Dort hatten sie angeboten, was sie noch aus besseren Zeiten zu Hause hatten und entbehren konnten: Vasen, Besteck und Kleidung. Dafür bekamen sie Essbares und retteten sich eine Zeit lang. Schließlich hatten sie aber ihr Besteck verkauft und nichts mehr anzubieten, was noch irgendeinen Wert hatte. Und es gab auch zu wenig Lebensmittel. Deshalb kamen – vor allem in den Städten – immer weniger Menschen. Auf dem Land hielten sich die Clubs länger.
Zunehmend nutzten Zwischenhändler die Klubs, um ihre Waren zu vermarkten. Sie kauften Waren bei Fabriken ein, die ihre Arbeitskräfte mit Créditos entlohnten. Das hatte mit dem Geist der „solidarischen Wirtschaft“ nichts mehr zu tun. Und der billige Reis, der im ersten Stock des Tauschklubs zum Sonderpreis zu erwerben war, wurde schon vor der Tür zum doppelten Preis weiterverkauft.
Die Regierung mischte sich ein und versuchte, die neue soziale Struktur in eine gewünschte Richtung zu lenken. Sowohl die argentinische Regierung wie internationale Finanzorganisationen sehen in ihr eine Chance, sich das lästige und kostspielige Problem der Armutsbekämpfung vom Hals zu schaffen. Sie lobten die „erfinderische Initiative der Mittellosen“, die sich selbst über die Runden bringen und nicht länger dem Staatshaushalt zur Last fallen. Das erspart teure Sozialprogramme. Gerade hat die Regierung vorgeschlagen, in Zukunft Arbeitslosen und den im Beschäftigungsprogramm Tätigen Créditos und nicht Pesos auszuzahlen.
Andere staatliche Stellen aber fürchteten sich vor der Organisierung der Armen, die ohne Geld und staatliche Aufsicht neue produktive Wege gingen und dabei recht erfolgreich waren. Stellen sie doch die herrschende Ideologie in Frage, nach der es keine Alternativen zum kapitalistischen Modell gibt. Daraus könnten auch politische und machtpolitische Alternativen entstehen.
Und zum Schluss wurde die Währung fast wertlos. Im großen Stil kamen gefälschte Kreditscheine in Umlauf. So gut gefälscht, dass man bei „Sentimiento“ glaubt, dass dies ohne technische Hilfe staatlicher (Geheimdienst-)Stellen kaum möglich gewesen wäre. Den Peronisten seien die neuen sozialen Strukturen, die sie nicht kontrollierten, ein Dorn im Auge gewesen, den es zu vernichten galt. Und dass dies geschehen konnte, hängt sicher auch damit zusammen, dass es in der Folgezeit über die Ausgabe neuer Kreditscheine interne und nicht von der Regierung genährte Streitereien und Verdächtigungen gab.
Heute sind die Klubs wieder auf das Niveau von Flohmärkten gesunken. Auch wenn in letzter Zeit an ihrer Wiederbelebung gearbeitet wird: „Wir kehren zu unseren Ursprüngen zurück“, meint einer der Gründer, Carlos de Sanzo, „die wir eigentlich nie verlassen haben, aber die Situation ist uns damals über den Kopf gewachsen“. Aber von einer „alternativen Wirtschaftspolitik“ spricht im Moment niemand mehr in Argentinien im Zusammenhang mit den Tauschklubs. Und das ist schade.

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