Vom Wissen der Hüter der Erde

Von René Kuppe · · 2000/04

Das westliche Konzept von geistigem Eigentum wird dem Wissen indigener Völker nicht gerecht. Monopolrechte an Naturreichtümern könnten sogar die soziokulturellen Bedingungen zur Erhaltung der Biodiversität zerstören, warnt René Kuppe

Aus Sicht kommerziell orientierter, vielfach weltweit operierender Unternehmen ist das Wissen indigener Völker in den letzen Jahrzehnten zu einer wichtigen und begehrten Ressource geworden. Grundsätzlich scheint es ein logischer und legitimer Vorgang zu sein, die große Zahl der weltweit vorkommenden biologischen Reichtümer – Pflanzenarten etwa oder Mikroorganismen – zum Zwecke der Entwicklung neuer Nutzanwendungen näher unter die Lupe zu nehmen. Bei der Suche nach neuen vermarktbaren Substanzen oder technischen Verfahren – z.B. pharmakologischen Substanzen, bekömmlichen Nahrungs- oder Genussmitteln, schädlingsresistenten Nutzpflanzen oder körperverträglichen Textilien – wird zunehmend auf traditionelles Wissen indigener Völker und daran anknüpfende Nutzanwendungen zurückgegriffen.

Der Zugriff auf das Wissen der indigenen Völker geschieht allerdings unter der Optik, die einem neuen internationalen Rechtsinstrument zugrunde liegt, dem Abkommen über Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights (TRIPS) im Rahmen des neuen, neoliberal orientierten Welthandelssystems WTO.

Die Gewährung von – andere ausschließenden – Eigentumsrechten an neuen Pflanzen, Mikroorganismen oder von Nutzanwendungsmöglichkeiten derselben (oder – im Falle von Pflanzensorten – ähnlichen anderen Schutzsystemen) soll Firmen den ökonomischen Stimulus geben, sich in neuen High-Tech-Branchen wie vor allem der Gentechnologie zu engagieren. TRIPS ist ein Mechanismus, der gerade auch die Länder mit den größten Reichtümern an biologischer Vielfalt – nämlich die Länder des Südens – von nun an verpflichtet, Rechtsschutz für die geistigen Eigentumsrechte der Pharma-, Genussmittel- und Gentechnologiefirmen Europas, der USA und Japans zu gewähren.

Die hinter TRIPS stehende Grundidee besagt, dass die Vielfalt der vorhandenen natürlichen Lebensformen Teil des allgemein-öffentlichen Gutes sei: Die – als herrenlos angesehene – Biodiversität „warte“ gleichsam nur darauf, von einem „Erfinder“ aufgegriffen zu werden, der dann seine Patentrechte registrieren lassen kann, die herrenlose Natur also privatisiert. Tatsächlich ist Biodiversität jedoch kulturelles und ökologisches Erbe menschlicher Gemeinschaften, das über Generationen hinweg gemeinschaftlich entwickelt und tradiert wurde. Biologische Vielfalt ist Ergebnis kultureller Leistungen und menschlichen Wissens. TRIPS privatisiert somit nicht schlechthin öffentliches Gut, sondern seine Anwendung führt dazu, dass Handelsmonopole über Kulturerbe geschaffen werden.

Angehörige indigener Völker besitzen detailliertes und elaboriertes Wissen über die Besonderheiten ihrer Lebensräume und geben dieses Wissen kulturspezifisch weiter. Hierbei spielt das Wissen um die biologische Vielfalt eine hervorragende Rolle. Sie sind jedoch nicht nur die passiven Wahrer dieser Vielfalt. Das im Geflecht der Kulturen indigener Völker vermittelte Wissen hat vielerorts ihren Bestand und ihre Weiterentwicklung aktiv gefördert. Gleichzeitig ist die Wahrung von genetischer und artenmäßiger Vielfalt in den Lebensräumen der indigenen Völker unverzichtbarfür deren eigenen Weiterbestand. Biologische und kulturelle Vielfalt sind somit wechselseitig voneinander abhängig.

Um ein Missverständnis auszuschließen: Das Wissen indigener Völker ist auch im westlichen Sinne wissenschaftliches Wissen, da es empirisch geprüft und inhaltlich kohärent angeordnet und tradiert wird. Es beruht also nicht – wie oftmals angenommen – auf unsystematischen oder irrationalen kognitiven Eindrücken, die mit der Wirklichkeit in geringerem Bezug stünden als „westliches“ Wissen.

Es unterscheidet sich jedoch von jenem durch zwei Merkmale: Erstens liegt der Brennpunkt indigenen Wissens auf dem komplexen Beziehungsnetz zwischen menschlichen und tierischen Wesen, zwischen Pflanzen, Naturkräften, Geisterwesen oder topografischen Erscheinungen, so weit diese einem bestimmten „Lebens-Raum“ zugeordnet sind – es ist also in höchstem Grade lokal ausgerichtet.

Durch diese Eigenheit lässt sich das Wissen indigener Völker nicht von den Eigenheiten des konkreten Lebensraumes seiner Träger abstrahieren. Es erhebt auch nicht den Anspruch, universell gültige Prämissen aufzustellen; im Gegensatz zu „westlichem“ Wissen ist es außerhalb des angestammten Erfahrungsbereiches nicht einfach anwendbar.

Die zweite Eigenheit des indigenen Wissens liegt in dessen ethisch-sozialen Konnotationen: Aus Perspektive des indigenen Wissens gilt ein Lebensraum – oder das, was im westlichen Denken durch das Modell eines Ökosystems dargestellt wird – als Gesamtnetz sozialer Beziehungen zwischen einer bestimmten Gruppe von Menschen (Familien, Verwandtschaftsgruppen oder Gemeinschaften) und den Angehörigen aller anderen Arten, die im selben Raume leben. Der Träger indigenen Wissens unterliegt einer persönlichen Verantwortung für die Aufrechterhaltung all jener Beziehungen zwischen diesen Wesen.

Die praktische Umsetzung oder Weitergabe von Wissen ist daher mit potentiellen Risiken oder sogar Gefahren verbunden: Entsprechendes Wissen ist oftmals innergesellschaftlich nicht „allgemein“ zugänglich, sondern verteilt sich unter Verwandtschaftsgruppen, Altersklassen oder spirituellen Spezialisten. Vielfach verfügen auch die Geschlechter über jeweils unterschiedliches Wissen. Die verschiedenen Inhalte oder „Schichten“ an Wissen gelten aber als so eng untereinander verflochten, dass kaum jeweils eine einzelne Gruppe oder gar Einzelperson ihr spezifisches Wissen exklusiv umsetzen oder anwenden könnte: „Isoliertes“ oder „abstrahiertes“ Wissen würde die damit verbundenen Verantwortungen in den Hintergrund drängen.

Diese Besonderheiten des Wissens indigener Völker stehen hinter deren Entscheidungsfindungsstrukturen, bei welchen es darauf ankommt, das gesamte relevante Wissen einzubringen und auszutauschen: Alle betroffenen Interessen müssen ins Spiel gebracht und abgewogen werden – einschließlich jene von „nicht-menschlichen“ Gruppierungen. Das Wissen indigener Völker unterscheidet sich von „modernem“ Wissen durch seine Bezogenheit auf einen bestimmten geografischen Raum und durch seine Einbettung in einen auf Ausgleich und Reziprozität hinauslaufenden Kontext.

Es kann insofern „traditionell“ genannt werden, als seine Weitergabe und seine gesellschaftliche „Nutzanwendung“ vor diesen Hintergründen verstanden werden müssen. Das Wissen indigener Völker ist jedoch nicht etwa deshalb „traditionell“, weil es statisch, unflexibel und nicht erneuerungsfähig oder modifizierbar wäre. So wie die Träger westlichen Wissens sind auch indigene Völker in der Lage, neue empirische Erfahrungen in ihre Wissenssysteme einzubauen, traditionelle Wissensmodelle zu modifizieren und kognitive Paradigmenwechsel vorzunehmen.

Während also Entscheidungen über diese Reichtümer bei indigenen Völkern durch diskursive Verfahren geprägt sind, in deren Zuge die beteiligten Interessen zum Tragen kommen, sieht TRIPS bei den Inhabern neuer geistiger Eigentumsrechte gerade nicht die Wahrnehmung von Verantwortung vor – private Monopolrechte sind nur dort sinnvoll, wo kollektive Rechte von Gemeinschaften aufgehoben sind.

Die Ausübung von Patentrechten soll sich nach den Kriterien einer anderen Logik richten: Statt gemeinschaftlicher Kontrolle soll die Verfügung über Biodiversität den Marktregeln unterworfen werden. Da Patente exklusive Rechte sind, wird es auch zu keiner Teilung von Vorteilen und Gewinnen aus der Nutzung dieser Kenntnisse kommen, selbst wenn diese vom traditionellen Wissen indigener Völker abgeleitet sind. Durch TRIPS werden also Monopole über biologische Reichtümer geschaffen, die nicht jenen Gruppen zukommen, die über ungezählte Generationen die Bedingungen zur Wahrung dieser Vielfalt erbracht haben.

Warum können aber die Angehörigen indigener Völker traditionelles Wissen nicht selbst auf Basis von TRIPS schützen? „Erfinder“ im Sinne des westlichen Patentrechts müssen ihr Wissen objektiv so darlegen können, dass es zu beliebiger Nachvollziehbarkeit der Erfindung kommen kann, im Idealfall an jedem beliebigen Punkt der Erde. TRIPS unterwirft Wissen somit dem Leitsatz eines von sozialer Verantwortung losgelösten, eindimensionalen wirtschaftlichen Fortganges. Indigenes Wissen zeichnet sich jedoch auch durch seinen Bezug auf einen konkreten Lebensraum aus. TRIPS bestraft daher letzlich indigene Völker dafür, dass sie etwa die Wirksubstanzen ihrer Heilmittel nicht auf eine chemische Formel reduzieren können, welche es der „westlichen“ Wissenschaft erlaubt, sie weltweit beliebig isolieren und/oder reproduzieren zu können.

Während TRIPS also die Praxis der Biopiraterie legitimiert, ist es gleichzeitig ein Mechanismus, der den Interessen der traditionellen Hüter der biologischen Vielfalt entgegensteht: Ihr traditionelles Wissen ist durch TRIPS nicht schützbar. Beiträge der traditionellen Gemeinschaften zum Bestand der biologischen Vielfalt bleiben auf diese Weise vollständig ausgeblendet. Zugleich werden durch Schaffung von Handelsmonopolen über Naturreichtümer soziokulturelle Bedingungen zur Erhaltung der biologischen Vielfalt unterlaufen oder sogar zerstört.

René Kuppe ist Assistenzprofessor an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien und beschäftigt sich in Forschung und Lehre mit den Rechten indigener Völker.

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