Wissen ist, was befreit

Von Ela Bhatt · · 2000/04

Ela Bhatt, Gründerin und Generalsekretärin der indischen Frauenorganisation SEWA,über Wissen, Forschung und Armut.

Was bedeutet Wissen für Menschen? In den alten Sanskrit-Schriften heißt es „Wissen ist, was befreit“. Die Menschen brauchen, was sie von ihrer Knechtschaft heute und in der Zukunft befreit. Wer für Menschen Verantwortung trägt, muss über dieses Wissen verfügen. Wir von SEWA, einem Bündnis von 250.000 armen Arbeiterinnen in Indien, haben uns für den folgenden Ansatz entschieden: Wissen ist, was von Armut befreit. Während der vergangenen 25 Jahre haben wir nach diesem Wissen gesucht, während wir die SEWA-Bank, Kooperativen, Vereinigungen, eine Akademie, Gesundheitsdienste, Sozialleistungen organisiert und den Verkauf von Handwerksprodukten gefördert haben. Ich erwähne das, weil es wichtig ist, zu verstehen, von welcher Art von Wissen wir heute reden.

Wir werden meist zuerst mit dem Problem konfrontiert und suchen dann nach einer Lösung. Unsere selbständig arbeitenden Mitglieder wurden von privaten Geldverleihern ausgebeutet, die hohe Zinsen für ihre Kredite verlangten. Die Mitglieder schufen eine Alternative – eine eigene Bank. Die SEWA-Bank musste Machbarkeitsstudien für jedes einzelne ihrer Unternehmen erstellen: Bidi-Produktion, Lumpensammeln, Gummisammeln, Herstellung von Holzkohle, Verkauf gebrauchter Kleidung, Bau von Wassertanks – jedes dieser Projekte musste einen Geschäftsplan präsentieren, um einen Kredit der SEWA Bank zu erhalten. Der große etablierte Bankensektor des Landes konnte dafür kein Wissen anbieten. Das Wissen fehlte.

Jamuna, eine Handkarrenarbeiterin, transportierte schwere Teile von Textilmaschinen vom Bahnhof zu einem privaten Händler. Auf dem Weg, an der Kreuzung, stoppte der Verkehrspolizist den Verkehr auf Jamunas Seite. Sie musste ihren beladenen Handkarren sofort anhalten. Sie brach sich ihre Knie: Ihr Handkarren hatte keine Bremsen. Das Wissen fehlte.

SEWA wandte sich an das Gericht, um eine Entschädigung einzuklagen. Wie sollte die Entschädigung berechnet werden,auf welcher Basis der Schaden festgestellt? Wie viel verdient sie im Schnitt pro Tag? Das Wissen fehlte. Das Gericht suchte nach dem einschlägigen Gesetz. Das Gesetz gab es nicht.

SEWA organisierte eine Kampagne für die Anerkennung von Heimarbeiterinnen als „Arbeiterinnen“ und für ihren rechtlichen Schutz. Schließlich landete die Angelegenheit auf der Tagesordnung der Jahreskonferenz der Internationalen Arbeitsorganisation ILO 1995/96. Die Arbeitgebervertreter der ILO sagten: Wer sind diese Arbeiterinnen? Wo leben sie? Wie viele sind es? Wir wissen es nicht! Was Arme wissen, ist gebildeten Menschen unbekannt. Das betreffende Wissen war auf der internationalen Konferenz nicht vorhanden.

Unsere Milchkooperativen auf Dorfebene brauchten Geräte, um den Fettgehalt ihrer Milch zu messen. Unsere Handwerksgruppen mussten eine Marketing-Strategie entwickeln. Unsere Spargruppen wollten einen Geschäftsplan erstellen. Wohin sich wenden, um dieses Wissen zu erlangen? Es gibt niemanden, der dieses Wissen vermittelt.

Ich bin gebeten worden, über die Frage „Wessen Wahrheit?“ zu reden. Gewöhnlich gelten Schlussfolgerungen in Forschungsberichten als Wahrheit. Die erforschte Wahrheit verdrängt selbst heute die Wahrheit der Armen, die sie in ihrem Leben und ihrer Arbeit erleben. Um ein Beispiel zu nennen: Weil es keine Daten gibt, die belegen, dass die Kosten der Katastrophenhilfe und der Rehabilitation die Mittel für Entwicklung auffressen, ist Hilfe kein Thema bei der Überprüfung der öffentlichen Ausgaben. Wir können entweder mehr Zeit und Geld ausgeben, um „ihre“ Wahrheit in „unsere“ Wahrheit zu verwandeln oder Wege finden, bei politischen Neuorientierungen die Existenz mehrerer Wahrheiten zu akzeptieren.

Aus bestimmten Gründen wird in der Forschung angenommen, dass die Wahrheit des Wissens eine reine, logische ist. In unserer Erfahrung ist sie komplex und manchmal widersprüchlich. Wie soll mit einem so komplexen Wissen bei der Politikgestaltung umgegangen werden? Hier stellt sich der Zivilgesellschaft eine bedeutende Aufgabe, nämlich verstärkt daran zu arbeiten, Forschung mit Handeln zu verbinden, Forschungsinstitute mit anderen Organisationen der Zivilgesellschaft zu koordinieren.

Nach unserer Erfahrung sind Forschungsergebnisse, die in Form von Erzählungen oder Fallstudien oder in persönlichen Gesprächen über das wirkliche Leben mitgeteilt werden, sehr überzeugend und wirksam. So wandten sich etwa Straßenhändlerinnen, die in Bedrängnis geraten waren, an den Obersten Gerichtshof, und der amtierende Richter sah sich das Video über ihre harte Arbeit an und hörte ihnen zu, wie sie von ihrem Leben erzählten. Er empfand sie nicht als „schmutzig“ oder „asozial“ oder als „Behinderung“, wie das Gemeindeunternehmen in seiner Klage behauptet hatte. Das Gericht wies das Unternehmen an, den Händlerinnen auf dem Manek-Chowk-Markt Lizenzen zu erteilen. Das war ein Präzedenzurteil, das bis heute von Bedeutung ist. Die Änderung der Politik beruhte auf der gewerkschaftlichen Organisierung dieser Händlerinnen. Das Wissen um ihren Beitrag zur Wirtschaft, das sie dem Gericht vermittelten, bewahrte ihre Lebensgrundlage.

Lassen sie mich ein weiteres Beispiel auf nationaler Ebene anführen. Jahrzehntelang erklärte SEWA, dass 90 Prozent der arbeitenden Menschen im informellen Sektor arbeiten, wobei die Frauen überwiegen. Aber keine Studien kamen zu diesem Schluss. Es war eine zwei Jahre dauernde Rundreise mit diesen Frauen durch 18 Bundesstaaten in ganz Indien, mit mehr als 1000 Versammlungen, die schriftlich und auf Video von der Frauenkommission in ihrem Bericht „Shramshakti“ aufgezeichnet wurde, die die Regierung und das Parlament überzeugte und dazu führte, dass diese Frauen als tragender Bestandteil der Wirtschaft anerkannt wurden. Oft wird das, was wir rund um uns sehen, nicht als Wissen betrachtet. Erzählungen und Bilder von der Wirklichkeit, die von Fakten und Zahlen begleitet sind, können stärkeren Einfluss auf die Politik ausüben. Wir haben jedoch die Erfahrung gemacht, dass die Zahlen, die das belegen, zumeist fehlen, entweder wegen mangelnder Wahrnehmungsfähigkeit oder aufgrund falscher Konzepte – aber das ist eine andere Geschichte.

Ich möchte Ihnen abschließend erzählen, wie wir die Kluft zwischen der Wirklichkeit armer Frauen in Indien und der führenden, maßgeblichen Forschungsinstitution der Welt, nämlich der Weltbank, zu überbrücken versuchten. Wir verwendeten die „Exposure und Dialog“-Methode, entwickelt von einer renommierten internationalen Institution in Deutschland, der Gesellschaft zur Förderung des Nord-Süd-Dialogs. Glücklicherweise war das Weltbankteam aufgeschlossen und bereit, die Kluft zu überbrücken.

Sie verbrachten vier Tage und Nächte in den Dörfern und Slums von Gujarat, lebten und arbeiteten mit SEWA-Mitgliedern. Das war der erste persönliche Kontakt: der Armut ausgesetzt zu sein, im Dialog mit armen Frauen. Dem folgte eine Beratung zwischen den Verantwortlichen der Weltbank, den Frauen und der SEWA-Leitung. Das Ergebnis dieser „Exposure“ wird den Entscheidungsträgern der Welt bald im Weltentwicklungsbericht der Weltbank (WDR) 2000/2001 zum Thema Armut zur Verfügung stehen.

Das demütige Einbekenntnis von Professor Zainal Yusof, Mitglied des Teams, fasst zusammen, wofür wir uns heute einsetzen. Er sagt: „Eine meiner größten Sorgen ist, dass ich auf Basis beschränkten Wissens Ergebnisse liefern muss.“ Der Autor des WDR, Ravi Kanbur, versprach Basabarai, dem SEWA-Mitglied, mit der er die Zeit in Kutch verbrachte, sie wieder zu besuchen und sich für das Ergebnis des WDR zu verantworten.

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Der Text ist ein Auszug aus einer Rede von Ela R. Bhatt bei einer Konferenz des Global Development Network in Bonn Anfang Dezember 1999. Der volle Text (englisch) findet sich unter &lthttp://orion.forumone.com/gdnet/files.fcgi/228_bhattspeech.PDF>

Ins Deutsche übetragen und gekürzt von Robert Poth.

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