Warum wir mehr Bahn brauchen

Von Brigitte Pilz · · 2023/Mai-Jun
Kenia: Improvisierter Bahnhof in Kibera, dem größten Slum Nairobis, oder vielleicht notgedrungener Aufenthalt. © Baz Ratner / REUTERS / picturedesk.com

Warum es richtig ist, der Bahn in der Mobilität von heute und von morgen einen größeren Platz einzuräumen.

Was sind Eisenbahnmenschen? Für den tschechischen Autor Jaroslav Rudiš ist es jene Spezies von Reisenden, die keine Gelegenheit auslässt, mit der Bahn zu fahren. Verspätungen sind ihnen egal, weil jede Zeit im Zug geschenkte Zeit ist. Sie betrachten auch von einer harten Sitzbank aus die Landschaft vor dem Fenster des Waggons zufrieden oder genießen ein Gulasch und ein Bier im Speisewagen.

Mehr noch: Wenn ihnen auf einem Bahnhof eine Dampflok unterkommt, riechen und schnüffeln sie daran. „Wie verrückte Liebhaber erzählen sie dann, dass jede Dampflok anders duftet“, so Rudiš in seiner „Gebrauchsanweisung fürs Zugreisen“.

Soweit muss man nun wirklich nicht gehen. Die Gründe, die Bahn zu lieben oder sie einfach emotionslos zu benutzen, mögen vielfältig sein, ebenso die Erlebnisse unterwegs. Vom Luxuszug in Südafrika, dem „Blue Train“ zwischen Pretoria und Kapstadt, mag man träumen. Eine Ahnung von der Extravaganz hat, wer eine der verfilmten Versionen des Krimis „Orient Express“ von Agatha Christie kennt. Tage- und nächtelange Überlandfahrten in China, bequem im „Soft Seat“, noch bevor das Land von Hochgeschwindigkeitsstrecken durchzogen war, ließen Städte, Dörfer und Reisfelder vorbeigleiten, im menschlichen Tempo der Aufnahmebereitschaft und Annäherung.

Gute Gründe. Viele fahren ohne nostalgische oder sentimentale Gefühle von A nach B, weil sie zur Arbeit müssen, in die Schule, zum Arzt. Sie nehmen den Zug, weil sie auf ein öffentliches Verkehrsmittel angewiesen sind. Andere wollen nicht im Stress über die Autobahn jagen. Viele fahren mit der Bahn, weil sie längst wissen, dass es (neben Fahrradfahren oder zu Fuß gehen) die umweltfreundlichste Art ist, sich fortzubewegen.

Bahnreisen boomen. In den Buchhandlungen stapeln sich seit kurzem Titel wie „Europa mit dem Zug“, „Die schönsten Reisen im Zug“, „Zug statt Flug“ oder „Legendäre Zugreisen“.

Es gibt zumindest zwei gewichtige Herausforderungen unserer Zeit, diesen Trend zu befürworten: die Bewältigung der Klimakrise und die Verringerung der „Verkehrsarmut“.

Expert:innen sind sich einig: Auch bei der errechneten möglichen Reduzierung der Mobilität insgesamt braucht es die Ausweitung der Bahn, um die Klimaziele zu erreichen.

Eine Zugfahrt emittiert laut Greenpeace viermal weniger CO2 als eine Autofahrt und fünfmal weniger als ein Flug. Waggons, Lokomotiven und die Schienensysteme sind wesentlich langlebiger als Flugzeuge und Autos.

Für viele Teufelswerk. An ihrem Beginn war die Eisenbahn keinesfalls ein von allen geliebtes Fortbewegungsmittel. Viele waren skeptisch, als 1825 die erste öffentliche Strecke zwischen den englischen Städten Stockton und Darlington eröffnet wurde. Manche betrachteten die Eisenbahn als Teufelswerk. Man fürchtete, vom Lärm und der hohen Geschwindigkeit krank zu werden. Der Rauch würde Vögel töten und Kühe würden keine Milch mehr geben.

Trotz der Widerstände wurde in Europa und Nordamerika bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein vernetztes Verkehrssystem aufgebaut. Zum einen verkürzten sich die Reisezeiten enorm. Zum anderen war die Bahn Katalysator für die Industrialisierung. Ihre Infrastruktur stellte die Voraussetzung für die Entwicklung der Schwerindustrie dar und schuf selbst eine gewaltige Nachfrage nach Eisen, Stahl und Maschinen. 

Die immensen Entfernungen in Asien und die sehr unterschiedliche Bevölkerungsdichte haben bewirkt, dass sich der Bahnausbau ungleichmäßig entwickelt hat. Bis heute erfordern die unterschiedlichen Spurweiten häufige Umstiege und aufwendiges Rangieren.

Die Eisenbahnnetze haben riesige Ausmaße. Indien zum Beispiel benutzt heute hinter den USA, China und Russland das viertgrößte Bahnnetz. Täglich werden in Indien in zirka 12.000 Zügen 23 Millionen Reisende transportiert und in 7.000 Güterzügen drei Millionen Tonnen Fracht.

Dunkle Kapitel. Der Bau von Bahnstrecken hat auch seine dunklen Kapitel, vor allem in Afrika und in Lateinamerika. Die Erschließung der Strecken über die Anden und durch südamerikanische Dschungelgebiete geschah unter brutaler Zwangsarbeit von Indigenen oder Arbeitsmigrant:innen aus Jamaika. 

Das Schienennetz in Afrika stammt ebenfalls aus der Kolonialzeit. Alle Strecken führen von küstenfernen Orten zu den Häfen, auch hier war wie in Lateinamerika der Transport von Rohstoffen Antrieb. Der Bau ging einher mit Ausbeutung, Versklavung, Plünderung und der Entwurzelung indigener Gemeinschaften. Gewinnmaximierung war das einzige Ziel.

Viele Jahre später ist in Europa ein sehr dunkles Kapitel menschlicher Grausamkeit auch mit der Eisenbahn verbunden. Der Transport von Millionen Juden und Jüdinnen in die Konzentrationslager erfolgte in Viehwaggons.

Überhaupt hatte das Eisenbahnwesen weltweit seit seinen Anfängen immer auch eine starke militärische Komponente. Truppentransporte und der nötige Nachschub konnten in Zügen effektiv bewältigt werden.

Gerechte Mobilität. In den vergangenen Jahrzehnten wurde in vielen Ländern – nicht zuletzt in Europa – die Bahn stiefmütterlich behandelt. Man stellte Nachtzugverbindungen ein, ebenso viele Regionalbahnen. Vielfach wurden nur die lukrativen Hauptstrecken gut bedient. Doch sowohl für ein ökologisch verträglicheres Reisen als auch für eine gerechtere Mobilität benötigt es ein gut ausgestattetes öffentliches Verkehrssystem mit sozial verträglichen Tarifen.

Es ist zu hoffen, dass die Zukunft der Mobilität stärker der Bahn anvertraut wird. Überall – auf allen Kontinenten – wird in ihren Ausbau investiert oder er wird zumindest geplant. Es sind innovative Lösungen beim Bau der Infrastruktur und des rollenden Materials gefragt.

Zukunftsmusik. China und Südkorea arbeiten – ähnlich wie Elon Musk mit seinem Hyperloop-Projekt – an sogenannten Röhrensystemen, bei denen Versuchszüge bereits schneller sind als Passagierflugzeuge. Die Röhre ist nötig, weil die Lärmbelästigung im freien Gelände unerträglich wäre. Die Versuchszüge in Korea benötigen keine fossilen Treibstoffe. Die Fahrt von Seoul nach Pusan im Süden der Halbinsel soll von heute dreieinhalb Stunden auf dreißig Minuten verkürzt werden. Bis es so weit ist, wird in vielen Ländern innerhalb und außerhalb Europas an weiteren Hochgeschwindigkeitsstrecken gebaut, auch wenn diese aus Gründen des Landschaftsschutzes zum Teil umstritten sind.

Infos und Anregungen  

Jaroslav Rudiš: Gebrauchsanweisung fürs Zugreisen. Geschichten um die Bahn in Europa
Piper Verlag, München 2022

Othmar Pruckner: Auf Schiene. 33 Bahnreisen durch Österreich und darüber hinaus
Falter Verlag, Wien 2022

Zug statt Flug. Fast CO2-frei. 52 Klimabewusste Kurztripps in Europa
Kunth Verlag, München 2021

seat61.com  Reise-Website des legendären „Man in Seat Sixty-One“, Mark Smith  

Österreich gibt sich bescheidener. Laut ihrem neuesten Rahmenplan werden die ÖBB in den nächsten sechs Jahren 19 Milliarden Euro zur Erreichung der Klimaneutralität investieren. Geplant ist unter anderem der zwei- respektive viergleisige Ausbau auf der Westbahn-Strecke und die Errichtung von Güterladestellen. In die Regionalbahnen soll Geld fließen und schließlich in die weitere Elektrifizierung. Neue Nightjet-Garnituren werden kommen und mehr barrierefreie Bahnhöfe.

Wie immer die Zukunft der Bahn aussehen wird, bereits heute kann sie Menschen zusammenbringen und den Blick weiten. Sie bietet die Möglichkeit, aus seinem gedanklichen Schrebergarten hinauszugehen. In einem Interview mit der Schweizer Wochenzeitung WOZ Anfang 2023 sagt Autor Rudiš: „Jeder Bahnhof ist ein Weltanschluss.“ Und weiter meint er auf Europa bezogen: „Ich würde ein Mittagessen im Speisewagen darauf wetten, dass die Zustimmung zu Rechtsextremen in Gebieten ohne Bahnanschluss höher ist als in solchen mit.“

Brigitte Pilz ist freie Journalistin und Herausgebervertreterin des Südwind-Magazins.

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