Yoga für alle

Von Sarah Fernandes · · 2021/Mai-Jun
Sophia Bisilliat © Danilo Ramos


Sophia Bisilliat gibt kostenlose Yoga-Klassen in den Favelas von São Paulo, Brasilien. Sie ist überzeugt: Yoga hebt das Selbstbewusstein und hilft den Alltag zu meistern.

Es ist Samstag. Die Sonne ist noch nicht aufgegangen, als die 58-jährige Sophia Bisilliat das Haus verläßt. Per Rad macht sie sich auf den Weg in das 23 Kilometer entfernte Viertel Capão Redondo, eines der ärmsten in der brasilianischen Zwölf-Millionen-Metropole São Paulo. Woche für Woche lehrt sie da seit zwei Jahren Yoga.

Wie gut das tut, hat sich unter den Menschen hier schnell herumgesprochen und aus einer Gruppe wurden zwei. Nach und nach begann Bisilliat, auch in anderen Favelas zu unterrichten. Heute hat sie 400 Schülerinnen und Schüler an sechs Orten in São Paulo; einige Klassen finden auf ungenutzten Hausdächern statt, die von den Yoga-Praktizierenden dafür zur Verfügung gestellt werden.

Bei der Namensgebung für ihr Yoga-Projekt ließ sich Bisilliat davon inspirieren und nennt es „treino na laje”, auf Deutsch sinngemäß „Training am Dach”.

Das ganze Wochenende ist sie mit dem Yoga-Unterricht und mit der Organisation von Lebensmittel-, Medikamenten- und Kleiderspenden für Familien beschäftigt, die darauf angewiesen sind. „Das ist extrem befriedigend. Yoga hat mein Leben verbessert. Es gibt mir Kraft, Sicherheit und Sinn. Das will ich auch anderen zugänglich machen”, sagt sie.

Große Nachfrage. Als sie um 7:30 Uhr das Gemeinschaftszentrum von Capão Redondo betritt, wird sie schon von rund 20 Schüler*innen erwartet; die meisten Frauen, von jung bis alt. Sie legen ihre Matten auf, ziehen die Schuhe aus und warten auf die Anweisungen der Lehrerin. Die beginnt die Klasse mit Atem- und Konzentrationsübungen, es geht weiter mit Yoga-Positionen, gegen Ende wird gedehnt und meditiert.

Bisilliat hat eine klassische Tanzausbildung zur Ballerina gemacht, ist aber im Theater und im Zirkus gelandet. Zwischen 1987 und 2000 gab sie Theaterunterricht in der Haftanstalt Carandiru, damals die größte Südamerikas. Heute ist sie Miteigentümerin einer Zirkusschule, in der sie auch unterrichtet.

Zum Yoga kam sie durch befreundete Lehrer*innen. Oft wurde sie eingeladen mitzumachen, lange Zeit traute sie es sich nicht zu, weil sie vor Yoga sehr viel Achtung hatte. Nachdem der Vater ihrer Kinder mit 45 Jahren ganz unerwartet aus dem Leben geschieden war, überwand sie ihre Berührungsängste mit dem Yoga, fand daran großen Gefallen und ließ sich zur Lehrerin ausbilden.

Bisilliat fordert ihre Schüler*innen: sie korrigiert die Haltung, unterstützt, motiviert und drängt sie aus der Komfortzone. Die Weiterentwicklung der Praktizierenden ist für sie rasch an der Haltung sichtbar. Viele erzählen ihr, dass sie durch Yoga körperliche und auch geistige Verbesserungen und Erleichterungen bemerken.

„Yoga ist in Brasilien eigentlich eine Sache der gehobenen Schichten. Das möchte ich ändern, weil es allen gut tun soll”, merkt Bisilliat an.

Selbstbewusstsein. Bisilliats Ziel ist es, das Selbstbewusstsein ihrer Schüler*innen zu stärken und damit den sozialen Unterschieden in São Paulo beizukommen.

Denn: in Capão Redondo liegt die Lebenserwartung bei 61,7 Jahren, das durchschnittliche monatliche Familieneinkommen bei knappen 500 Euro. Im Nobelviertel Jardim Paulista hingegen leben die Menschen im Schnitt 81,5 Jahre und das Familieneinkommen ist drei Mal höher.

„In den Vierteln, in denen ich Yoga unterrichte, ist das Leben sehr hart. Die Menschen arbeiten von früh bis spät und haben weite Wege mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurückzulegen. Ihnen begegnet viel Gewalt im Alltag. Das ist anstrengend. Yoga und die Atemübungen helfen ihnen täglich, in Balance zu bleiben”, sagt Bisilliat und fährt fort: „Meditation und eine aufrechte Haltung kann man auch im Bus oder während der Hausarbeit üben.”

Eine ihrer Schüler*innen ist die 60-jährige Arlete José da Silva. Sie arbeitet als Reinigungskraft: „Yoga hat mir geholfen, besser mit mir selbst zurechtzukommen, inbesondere in schwierigen Momenten”, betont sie. „Ich esse bewusster und bin achtsamer im Umgang mit meinen Mitmenschen. Meine Arbeit ist körperlich sehr anstrengend, aber ich nehme mir jeden Tag ein paar Minuten Zeit, um ein paar Übungen zu machen.”

Das hört Bisilliat gerne. Nach der Klasse schnappt sie sich ihr Rad und radelt weiter, zur nächsten Yoga-Gruppe.

Sarah Fernandes ist Journalistin und Geografin aus Brasilien. Ihr Fokus liegt auf dem Schreiben von Reportagen mit Bezug zu Menschenrechten und entwicklungspolitischen Themen in Lateinamerika und Asien.

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