Auf dem Weg der Besserung

Von Robert Poth · · 2005/07

Ein Reformprogramm Marke IWF und die Bemühungen um einen eventuellen EU-Beitritt haben der türkischen Wirtschaft einen raschen Modernisierungsschub verpasst. Die Überwindung der strukturellen Probleme steht aber noch aus.

Der Patient ist über den Berg, so könnte die Türkei-Diagnose des Internationalen Währungsfonds (IWF) lauten: Die Wirtschaft der seit einigen Jahren von wiederholten Krisen gebeutelten Türkei zeigte zuletzt eine überraschende Dynamik. Die OECD erwartet auch bis 2006 Wachstumsraten von sechs Prozent. Die Inflationsrate sank 2004 erstmals seit Jahrzehnten unter zehn Prozent, und das Sinken der Realzinsen und der mit dem IWF vereinbarte drakonische Sparkurs haben es ermöglicht, die öffentliche Verschuldung von mehr als 90 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) auf nur mehr 63,5 Prozent Ende 2004 zu drücken. Das Budgetdefizit, 2001 noch bei 16,2 Prozent (!), hatte sich 2004 mehr als halbiert und soll 2005 auf knapp sechs Prozent sinken.
Sorgen bereitet allerdings das Leistungsbilanzdefizit. Zwar dauert der ursprünglich durch Rezession und Abwertung der türkischen Lira verursachte Aufschwung der Exporte an, doch stiegen die Importkosten infolge der starken Binnennachfrage und der hohen Ölpreise noch weit stärker. Das Defizit im Handel mit Waren und Dienstleistungen konnte 2004 auch durch Rekordeinnahmen im Tourismus von rund 16 Mrd. US-Dollar nicht ausgeglichen werden. Die Lücke klafft mit fünf Prozent des BIP (15 Mrd. Dollar) weit auf. Eine Kombination von umgekehrter Kapitalflucht (Umtausch von Dollar in Lira), Privatisierungen und neuen Auslandsinvestitionen sollte das Defizit jedoch reduzieren und eine Liquiditätskrise aufgrund der kurzfristigen Auslandsschulden des Privatsektors vermeiden helfen, so die Hoffnung.

Ob ausländische Unternehmen, die der Türkei bisher eher die kalte Schulter gezeigt haben, auch entsprechend investieren werden, wird sich zeigen. Zweifellos hat sich jedoch das Investitionsklima durch den Reformeifer der Regierung der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) unter Recep Tayyip Erdogan verbessert. Der durch das IWF-Programm sowie die nötigen Vorbereitungen für einen eventuellen EU-Beitritt erzeugte Druck verändert die Geschäftskultur des Landes, ob in Sachen Wettbewerbspolitik, Kürzung von Landwirtschaftssubventionen, Verzicht auf staatliche Preiskontrollen, Privatisierung oder verschärfter Bankenaufsicht. Die Existenzbasis einer auf Korruption und Beziehungen zur Politik angewiesenen „Insider-Wirtschaft“ löst sich zunehmend auf. In ihr dominierten Staatsunternehmen, Staatsbanken, große, von Gründerfamilien kontrollierte Konglomerate und „Hausbanken“, die als Kreditquelle dienten, um danach in Konkurs geschickt zu werden.
Spektakuläre Fälle harren noch einer gerichtlichen Klärung: Etwa der von Murat Demirel, Eigentümer der bankrotten Egebank und Neffe des früheren Staatspräsidenten Süleyman Demirel. Er soll im Zuge der letzten Finanzkrise die Tresore seiner Bank geplündert haben und wurde zum Jahreswechsel erwischt, als er mit einem Fischerboot an der bulgarischen Schwarzmeerküste zu landen versuchte. Nach dem Index der wahrgenommenen Korruption von Transparency International 2004 lag die Türkei jedenfalls mit 3,2 Punkten gemeinsam mit Mali und Ägypten noch weit unten auf der von Finnland mit 9,7 als am wenigsten korrupten Land angeführten Liste.
Der „kranke Mann am Bosporus“ mag zwar am Genesen sein, gesund ist er aber noch lange nicht. Dass die Arbeitslosigkeit trotz des Booms nicht verringert werden konnte, ist eine negative Überraschung. Die offizielle Arbeitslosenrate liegt mit derzeit 10,2 Prozent noch immer weit über dem Niveau von vor der Finanzkrise (2000: 6,6 Prozent). Die Industrie expandiert zwar, erhöht aber auch die Arbeitsproduktivität, während im Dienstleistungssektor bisher zu wenige neue Arbeitsplätze entstanden. Inoffiziell sind Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung weit höher – in kurdischen Städten wie Diyarbakir bis zu 70 Prozent. Ein „Wachstum ohne Jobs“ kann sich die Türkei jedoch nicht leisten – die Wirtschaft muss jährlich 500.000 neue Jobs schaffen, bloß um das zusätzliche Angebot neuer Arbeitskräfte aufzunehmen.

Eine potenzielle Zeitbombe ist die Landwirtschaft. Sie beschäftigt zwar rund ein Drittel der erwerbstätigen Menschen, vor allem Frauen, erwirtschaftet aber nur rund zwölf Prozent des BIP. Der Sektor ist nach wie vor durch Importzölle geschützt, eine Ausnahme in dem durch die Zollunion seit 1996 bestehenden Freihandel mit der EU. Fällt dieser Schutz und steigt die Arbeitsproduktivität durch vermehrten Einsatz von Kapital und Technologie auf den nationalen Durchschnitt, würden mehr als vier Millionen Menschen „freigesetzt“.
Die Landwirtschaft stellt auch einen großen Teil des informellen Sektors, der gut die Hälfte der gesamten Wirtschaft ausmachen könnte. Nach OECD-Angaben waren 2003 im Agrarwesen 90 Prozent der Beschäftigten nicht registriert, im Baugewerbe 60, in Handel und Transport mehr als 40 und selbst in der Industrie 30 Prozent. Ein großer Teil der Bevölkerung hat also keinen Zugang zu Leistungen des Sozial- und Gesundheitssystems. Die OECD sieht einen Teufelskreis am Werk: Hohe Sozialversicherungsbeiträge treiben Betriebe in die Informalität, was die Beitragsbasis schmälert, eine weitere Erhöhung der Beitragssätze erfordert und weitere Unternehmen zum „Abtauchen“ motiviert. Entsprechend sinkt auch die ohnehin niedrige Erwerbsquote – von 1999 knapp 58 auf 51 Prozent 2003. Nach Angaben des belgischen Centre for European Policy Studies sind es sogar nur 44 Prozent gegenüber einem EU-15-Schnitt von 64,4.
Patentrezepte für die Integration des informellen Sektors gibt es kaum. Laut OECD könnten sowohl die Systemkosten als auch die Beiträge gesenkt und der Einkommensausfall durch eine Erhöhung indirekter Steuern wettgemacht werden. Auch empfiehlt sie, die bürokratischen Hürden für die Gründung eines Unternehmens abzubauen. Letzteres wurde bereits in die Tat umgesetzt: Die Zahl der nötigen Prozeduren wurde von 13 auf 8, die nötige Zeit von 38 auf nur neun Tage reduziert, während das Steueraufkommen durch Senkung der Körperschaftssteuersätze und effizientere Eintreibung erhöht werden soll.

In der geteilten Wirtschaft drückt sich auch die Spaltung in einen reicheren Westen und ein stagnierendes Armenhaus im Osten/Südosten aus, das zum Großteil mit den mehrheitlich kurdisch besiedelten Regionen identisch ist. In Istanbul und Ankara allein werden 30 Prozent des BIP erwirtschaftet, und das BIP pro Kopf ist in den reichen Regionen beinahe sechsmal so hoch wie in den Grenzregionen zum Iran und Armenien, in Kocaeli bei Istanbul sogar elfmal höher als in der Ostprovinz Mus‘. Diese Unterentwicklung geht bereits auf die Anfänge der wirtschaftlichen Öffnung des Osmanischen Reichs zurück. Sie setzte sich seit Gründung der Republik ungebrochen fort und wurde durch den in den 1980er Jahren eskalierenden Bürgerkrieg mit der Kurdischen Arbeiterpartei PKK weiter verschärft, der große Teile der Bevölkerung zur Flucht in die Städte und in die Westtürkei gezwungen hat.
Zwar gehört auch ein Ausgleich der großen regionalen Disparitäten zu den EU-Forderungen an die Türkei, doch sieht es nicht danach aus, als ob dieses Erbe der Vergangenheit rasch überwunden werden könnte. Weder das seit Jahren vorangetriebene Südostanatolien-Projekt (GAP), noch die Ende Mai eröffnete Ölpipeline von Baku in Aserbaidschan nach Ceyhan an der türkischen Mittelmeerküste werden dazu einen unmittelbaren Beitrag liefern. Das GAP-Projekt hat mit zahlreichen Stauseen am Euphrat und Tigris neben der Energieversorgung der Westtürkei vor allem einen bewässerungsintensiven Baumwollanbau im großen Stil ermöglicht. Und von der Pipeline kann die lokale Wirtschaft ohnehin nicht profitieren – es sei denn, die damit verbundenen Einnahmen würden zum Teil in die Region kanalisiert.
Selbst wenn es einen solchen regionalen Entwicklungsplan gäbe, ließe er sich derzeit nicht umsetzen, wie ExpertInnen der Türkischen Entwicklungsbank (TKB) einräumen: Es fehlt an finanziellen Ressourcen, an den Institutionen und Kompetenzen. Die Provinzen unterstehen zentral eingesetzten Gouverneuren, die lokale Finanzautonomie ist äußerst beschränkt. Die Überwindung des Zentralismus der türkischen Verwaltung ist nur eine Hürde. Auch die Sicherheitslage müsste sich weiter stabilisieren. Das ist aber nicht der Fall: Die verbleibenden PKK-Rebellen operieren weiter vom Nordirak aus, und eine Unabhängigkeitserklärung der dortigen kurdischen Region, ein uraltes Schreckgespenst für Ankara, ist nicht auszuschließen. Private Investoren werden die Region daher meiden, und der türkische Staat verfügt über zu wenige Mittel. Die soziale Sprengkraft dieser Situation dürfte also bis auf Weiteres bestehen bleiben.

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