Festival ohne Grenzen

Von Jürgen Vogt · ·
Tänzer*innen auf der Bühne

„Sin Límites“, „Ohne Beschränkungen“, hieß die Vorgabe für Uruguays erstes inklusives und barrierefreies Musik-, Theater- und Tanzfestival.

Im Rhythmus ihrer Tambores stampfen die blinden Trommler durch die Straßen Montevideos, Menschen mit Down-Syndrom tanzen dazu und Rollstuhlfahrer*innen führen die Gruppe an. Comparsa Balelé ist wieder unterwegs, Uruguays erste inklusive Candombe-Gruppe, mit jenem Mix aus Musik und Tanz von den schwarzen Verschleppten und Versklavten der Kolonialzeit.

Sie bildeten die Abschlussveranstaltung des inklusiven Festivals für performative Künste, „Festival Internacional de Artes Escénicas Inclusivas“, das vom 18. bis 24. April in Uruguays Hauptstadt über die Bühne ging.

Im Scheinwerferlicht standen bei neun Vorführungen 132 Menschen, unter ihnen 42 mit Behinderung. Ausgewählt wurden die Stücke unter der Vorgabe der Inklusion behinderter Protagonist*innen sowie rein praktischen Aspekten ihrer Realisierung.

Das erste seiner Art in Südamerika

Das Festival war das erste seiner Art in Südamerika und soll künftig alle zwei Jahre stattfinden. Zentraler Spielort war das Ballett- und Tanztheater Sodre in Montevideo, das eigens barrierefrei umgerüstet worden war. „Wir hatten zuvor keinen behindertengerechten Eingang, keine geeigneten Garderoben oder sanitären Anlagen für die Künstlerinnen und Künstler“, hieß es aus dem Organisationskomitee.

Inklusion galt beim Festival vor, auf und hinter der Bühne. Ohne Beschränkungen meinte mehr als barrierefrei in den Saal oder auf die Bühne gelangen zu können. Wer nach dem Programmheft griff, fühlte die Blindenschrift. Für alle sehbeeinträchtigten Personen standen Audiodeskriptionen zur Verfügung. Wo Übersetzungen in Gebärdensprache nicht möglich waren, half ein Verständigungssystem für Personen mit eingeschränktem Hörvermögen.

Den Auftakt machte „En mis zapatos“, auf Deutsch „In meinen Schuhen“. Ein Tanzspektakel dreier Künstlerinnen – eine im Rollstuhl, eine mit Gehstützen und eine ohne Behinderung –, die das Bewegungsvermögen ihrer Körper einzeln, zu zweit und im Trio ausloteten. Es folgte „El hilo rojo“, „Der rote Faden“, eine zeitgenössische Ballettaufführung mit fünf Mitgliedern des Ballettensembles des Sodre und fünf Tänzer*innen mit Behinderungen (siehe auch Interview dazu).

Kunst gegen Vorurteile

In der Komödie „Castigo del cielo“, „Strafe des Himmels“, kommt ein Toter in den Himmel. Überrascht stellt er fest, dass Gott eine junge Frau mit Behinderung ist. Der Himmelseintritt wird zur Begegnung mit den eigenen Vorurteilen und Verhalten gegenüber dem Anderen. Zugleich ist das Stück eine Reise durch das Leben des britischen Mediziners John Langdon Down, der das Syndrom umschrieb, das seinen Namen trägt. Schauspieler*innen mit dem Down-Syndrom standen auch bei „Sin Par“, „Unvergleichlich“ auf der Bühne. Bei den Tanz- und Theaterszenen des aus Spanien angereisten Ensembles geht es um Ausdrucks- und Körpersprachen in unterschiedlichen Kontexten.

Inklusion stand auch im Rahmen der Workshops auf dem Festival-Programm. In einem davon verteilten sich 22 Personen im Raum, eine saß im Rollstuhl. Alito Alessi holte sich einen Sessel und setzt sich dazu. „Säße nur eine Person auf einem Stuhl, wäre sie isoliert“, sagt er. Es war die erste Lektion im Workshop „Dance Ability“, der so heißt wie die Methode, die der US-Amerikaner Alessi entwickelt hat. Die Erkenntnis: Die Auflösung der Isolation ist Inklusion.

Auf der Bühne Menschen verbinden

„Einige Schulen wollen nur mit den fittesten Menschen mit Behinderung arbeiten“, sagt er. Dort gehe es um das Geschick und Können des Einzelnen. Das sei auch wertvoll und interessant, aber Alessis Interesse geht in eine andere Richtung. Ihm zufolge gelte es bei jeder Person, vier Grundmerkmale zu erkennen: Kann sie etwas sehen, kann sie ihren Körper von einer Stelle zu einer anderen bewegen, versteht sie das Prinzip von Ursache und Wirkung und reagiert sie auf die Welt um sie herum? Wenn er das erfahre, kenne er den kleinsten gemeinsamen Nenner einer Gruppe und wisse, was alle können. „Es geht darum, Menschen mit und ohne Behinderungen durch Tanz und Bewegung zu verbinden“, erklärt er.

Die Wahl von Montevideo als Ort des Festivals ist kein Zufall. Zahlreiche Behindertenorganisationen leisten seit vielen Jahren eine engagierte Arbeit und die politischen Institutionen waren bereit, mitzuziehen. Unterstützt wurden sie vom Netzwerk der Kulturorganisationen der EU-Mitgliedsländer EUNIC, darunter das Goethe-Institut in Montevideo.

Im Alltagsleben in Montevideo liegt dennoch noch Vieles im Argen. So ist der öffentliche Nahverkehr wenig behindertengerecht eingerichtet. Rollstuhlfahrer*innen sind im Stadtbild wegen der holprigen Wege nur selten zu sehen.

Das Resümee am Ende des Festivals zog Sodre-Intendant Martín Inthamoussú mit den Worten: „Wir haben noch viel zu verbessern, aber wir sind weiter als vor dem Festival.“

Jürgen Vogt lebt seit 2005 in Buenos Aires und ist u. a. Korrespondent der deutschen Tageszeitung Taz.

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