Fragile Lage in Syriens Nordwesten

Von Markus Schauta · ·

Das Erdbeben Anfang Februar hat die Region wieder in die Schlagzeilen gebracht: Die Sicherheitslage in der Rebellenhochburg ist fragil, die Armut erdrückend.

Huda Khayti leitet in der Stadt Idlib ein Frauenzentrum, das Näh- und Strickkurse anbietet und Ausbildungen zur Krankenpflegerin oder Friseurin: „Alles, womit man sich als Frau ein Zubrot verdienen kann“, sagt Khayti. Denn wegen der großen Armut seien die Familien auf jeden Zuverdienst angewiesen. Die Auswirkungen des Ukrainekrieges spüren die Menschen auch hier.

Da es keine lokale Produktion gibt, sind die ca. 165.000 Einwohner:innen von Idlib von Gütern aus der Türkei abhängig. „Wird es in der Türkei teurer, steigen auch in Idlib die Preise“, so Khayti. Das schwere Beben am 6. Februar hat die Lage für die 4,4 Millionen Menschen in der Region nochmal deutlich verschlimmert.

Kontrolliert wird die Provinz Idlib von Haiʾat Tahrir asch-Scham (HTS), einem Milizenbündnis unter Kommando von Abu Muhammad al-Dschaulani. Dschaulani kämpfte jahrelang für Al-Kaida, zunächst im Irak, seit 2011 in Syrien. Offiziell hat er sich von der Terrororganisation losgesagt.

Er betont, sein Kampf richte sich nicht gegen den Westen, sondern ausschließlich gegen das Regime in Damaskus. Der Grund für den Wandel ist klar: Dschaulani will sich politischen Handlungsspielraum verschaffen und hofft, dass HTS von der Liste der Terrororganisationen gestrichen wird. Beobachter:innen sind sich uneins, ob Dschaulani langfristig für Stabilität sorgen kann, oder ein Dschihadist im Schafspelz ist.

Warlords und Milizen
Wo in Idlib die Dominanz des HTS-Bündnisses für ein Mindestmaß an Sicherheit und Ordnung sorgt, ist die Lage im Norden der Provinz Aleppo deutlich unsicherer. Zahlreiche der dort aktiven Rebellenmilizen gehören zwar der mit der Türkei kooperierenden Syrischen Nationalen Armee (SNA) an, doch der Begriff „Armee“ trügt.

Viele Warlords handeln eigenständig und nutzen ihre Macht, um sich zu bereichern. Die Vorwürfe reichen von Entführung und Schutzgelderpressung bis zu Folter und Mord. Opfer sind vor allem jene Kurd:innen, die nach dem türkischen Angriff auf Afrin im Jahr 2018 in der Region geblieben sind. Aber auch syrische Araber:innen, die aus anderen Gebieten in den Norden flohen, sind von Übergriffen betroffen. Die Milizenführer investieren das mit ihren kriminellen Aktivitäten erworbene Geld in Immobilien und andere lukrative Projekte.

Ahmed (Name von der Redaktion geändert) lebt in der Grenzstadt Azaz, die im Einflussgebiet der SNA liegt. Die Miliz, die in Azaz und Umland das Sagen hat, rekrutiere sich aus Einheimischen und handle daher meist im Sinne der Stadt und ihrer Einwohnerinnen und Einwohner. Azaz sei sicherer als andere Städte in Nord-Aleppo. Es werde seltener gestohlen und es gebe weniger willkürliche Festnahmen und Übergriffe auf Aktivist:innen.

Völlig sicher fühlt Ahmed sich freilich nicht. Drogen seien ein großes Problem: „Von hundert Soldaten einer Miliz sind 40 drogenabhängig“, sagt er. Auch die immer wieder aufflackernden Kämpfe zwischen den Milizen der SNA und HTS seien eine Gefahr. „Wir können uns damit nur abfinden“, sagt Ahmed, der wie hunderttausende seiner Landsleute in Syrien festsitzt.

Prekäre Stabilität
Aktuell zeichnet sich eine Annäherung zwischen Ankara und Damaskus ab. Was das für die Rebellengebiete bedeutet, ist noch unklar. Fest steht, dass ein Abzug der türkischen Armee den Nordwesten destabilisieren würde. Eine Entwicklung, die nicht im Sinne Ankaras sein kann, will der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan doch einen großen Teil der 3,5 Mio. syrischen Flüchtlinge, die sich in der Türkei aufhalten, in Nordsyrien ansiedeln. Die aber werden nicht zurückgehen, wenn dort Kämpfe zwischen Milizen toben oder gar eine neue Offensive droht.

Klar ist aber auch, dass Damaskus eine Rückeroberung des Nordwestens alleine nicht stemmen kann. Russlands Prioritäten liegen derzeit in der Ukraine. Mit einem neuen Vorstoß gegen die Rebellen hat Moskau es nicht eilig. In dieser Konstellation dürften sich die Rebellenallianzen, die im Nordwesten aktiv sind, daher noch eine Zeit lang halten.

Markus Schauta lebt als freier Journalist in Wien und berichtet für deutschsprachige Medien aus dem Nahen Osten.

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