Eines der liberalsten Familiengesetzbücher weltweit wird unter Einbeziehung der Bevölkerung diskutiert und voraussichtlich im Herbst per Referendum zur Abstimmung gebracht.
Ein paar Kinder toben in der Abenddämmerung über die Plaza del Cristo in Havannas Altstadt, aus einem Fahrradtaxi schallt Musik über den Platz, auf den Bänken unterhalten sich Menschen. In einer Schule am Rande des Platzes ist eine Gruppe von vierzig Anwohner*innen, in der Mehrzahl ältere Semester, zusammengekommen, um den Entwurf des neuen Familiengesetzes zu diskutieren. Zwei eingeladene Fachleute erläutern die wichtigsten Punkte des Gesetzentwurfes.
Mit dem neuen Código de las Familias soll das bisherige Familiengesetzbuch von 1975 durch einen zeitgemäßen und inklusiven Rahmen abgelöst werden, in dem verschiedene Lebensentwürfe Anerkennung finden. Das neue Gesetz legalisiert gleichgeschlechtliche Ehen, stärkt die Rechte von Frauen und älteren Menschen und etabliert Schutzmechanismen gegen häusliche Gewalt. Außerdem werden Neuerungen wie Eheverträge und Schwangerschaftsunterstützung eingeführt.
Referendum entscheidend
Von Anfang Februar bis Ende April wurde der Entwurf des neuen Familiengesetzes in knapp 79.000 Nachbarschaftsversammlungen im ganzen Land diskutiert. Mehr als die Hälfte der kubanischen Bevölkerung hat daran teilgenommen, so die Regierung.
Dabei sind 397.000 Vorschläge zusammengekommen, die nun in den Gesetzestext eingearbeitet werden sollen, der dem Parlament Ende Juni zur Annahme vorgelegt werden wird. Über diese endgültige Fassung soll dann – voraussichtlich im Herbst – in einem Referendum abgestimmt werden.
„Übung in kubanischer Demokratie“
Die Mehrheit der Anwesenden der Versammlung auf der Plaza del Christo befürwortet den Entwurf. Es gibt einen Vorschlag zur Änderung des Titels eines Kapitels, einen Zweifel bezüglich des Mindestalters für die Eheschließung klären die Expert*innen.
José Lorenzo Villoch, einer der Teilnehmenden, zeigt sich nach dem Treffen zufrieden: „Die Anhörung ist wichtig“, sagt er, „denn sie berücksichtig die Kriterien der Bevölkerung, nicht nur die der Experten, die das Gesetz ausgearbeitet haben. Zudem ist es eine Übung in kubanischer Demokratie.“ Als Pensionist habe er Zeit und den Gesetzestext genau studiert, erklärt Villoch. Das Gesetz trage der „großen Heterogenität der Familienformen in Kuba“ Rechnung. „Es nimmt niemandem Rechte weg, sondern räumt Rechte ein, die bisher nicht anerkannt waren.“
Widerstand der Kirche
Nicht alle Versammlungen zum Familiengesetz verliefen so harmonisch. Auf einigen kam es zu hitzigen Debatten über verschiedene Aspekte, wie die Einführung der „Ehe für alle“ oder die Adoption von Kindern durch gleichgeschlechtliche Paare, die ebenfalls im Entwurf verankert ist. Ursprünglich war die Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe als Teil der neuen Verfassung von 2019 vorgesehen. Aufgrund des fehlenden gesellschaftlichen Konsenses und massiven Widerstands der Kirchen wurde damals entschieden, das Thema auszugliedern und über die Neufassung des Familiengesetzbuches zu regeln. Heute gebe es „einen unbestreitbaren Fortschritt in der kubanischen Gesellschaft, es wird die Notwendigkeit anerkannt, allen Menschen Schutz und rechtliche Garantien zu geben“, sagt Yusuam Palacios, Abgeordneter der Nationalversammlung.
Die Katholische Bischofskonferenz Kubas jedoch hat im Februar eine Erklärung abgegeben, in der sie sich gegen die liberaleren und integrativeren Elemente des Gesetzes ausspricht. „Es ist eine unbestreitbare Tatsache, dass die Mehrheit der Kubaner die Definition der Ehe als Vereinigung eines Mannes und einer Frau, wie sie im geltenden Familiengesetzbuch von 1975 enthalten ist, beibehalten wollte“, heißt es da. Der Gesetzentwurf sei von der so genannten „Gender-Ideologie“ durchdrungen.
Diskussion um Familienbegriff
Eine Kontroverse ist auch um die Reform des Sorgerechts und die Rechte von Kindern in der Familie entstanden. Der aus dem römischen Recht stammende Sorgerechtsbegriff „patria potestad“, mit dem traditionell der Vater als Familienoberhaupt verknüpft ist, soll durch den neutralen Ausdruck „elterliche Verantwortung“ ersetzt werden. Konservative Teile der Gesellschaft und die Kirchen nehmen dies jedoch als Bedrohung eines traditionellen Familienbegriffs wahr. Sie warnen vor der Aufnahme von Sexual- und Geschlechtserziehung in die Lehrpläne und „Untergrabung der elterlichen Autorität”. Von kirchlicher Seite ist der Vorschlag zu hören, die Gesetzeskapitel separat zur Abstimmung zu stellen und nicht den Gesetzesentwurf als Ganzes. Besonders strittige Punkte würden dann wohl keine Mehrheit finden.
LGBTIQ+-Aktivist*innen kritisieren allerdings die Tatsache, dass über Rechte in einer Volksabstimmung entschieden wird und halten das Referendum daher an sich für falsch. „Der Konflikt besteht darin, dass die Verabschiedung von Rechten für die LGBTIQ+-Gemeinschaft mit der Verabschiedung des Familiengesetzes verknüpft ist“, sagt die Aktivistin Laritza Pérez und stellt die Frage: „Wie kann es sein, dass etwas, das in der Verfassung verankert ist, wie zum Beispiel, dass alle Kubaner und Kubanerinnen die gleichen Rechte und Pflichten haben, von der Verabschiedung eines Familiengesetzes abhängt?“
Andreas Knobloch ist Politikwissenschaftler und Journalist. Er lebt und arbeitet seit mehreren Jahren in Havanna.
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